Toph wälzte sich unruhig hin und her. Seit Stunden versuchte sie nun schon, einzuschlafen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Zu viele Fragen schwirrten in ihrem Kopf herum, seit En-Die am Schlangenpass erzählt hatte, dass sie sich schon mal begegnet waren. Und nun, wo sie es beinahe vergessen hatte, kam dieses Mädchen und behauptete dasselbe. Toph hatte den Schatten den ganzen Tag gelöchert, aber nichts aus ihm herausbekommen. ‚Warum muss er so geheimnisvoll sein? Ich habe ein Recht zu erfahren, was damals passiert ist‘, dachte das Mädchen genervt. Mit einem Ruck setzte sie sich in ihrem Bett auf und fühlte ihre Umgebung mit ihrem seismischen Sinn ab. Bald hatte sie die Person gefunden, die sie gesucht hatte. Leise stand die Erdbändigerin auf und schlich ins Wohnzimmer des Hauses. Leila saß dort an dem kleinen Tisch, der sich in der Mitte des Raumes befand und beugte sich über ein blutiges Steak. Als die Blutsaugerin Toph bemerkte, sah sie sie überrascht an. Toph spürte ihren Blick auf sich. "Kannst du nicht schlafen?", fragte sie das blinde Mädchen. Toph schüttelte den Kopf. "Nicht wirklich. Und du?", fragte sie zurück. "Ich schlafe um diese Zeit nicht", kicherte Leila. Dann wurde sie ernst. "Dich bedrückt irgendetwas, habe ich recht?" "Woher weißt du das?", fragte Toph überrascht. "Dein Herz pumpt dein Blut gerade nicht regelmäßig durch deinen Körper und ich rieche, dass dir etwas zu schaffen macht. Außerdem ist es nicht gerade normal, um diese Uhrzeit durchs Haus zu wandern. Du wolltest mich etwas fragen, hast jetzt aber Angst, dass ich nicht antworte." "Ich habe vor nichts Angst!", meinte Toph schnappig und Leila grinste. "Du bemühst dich sehr, diese taffe Fassade aufrecht zu erhalten, nicht wahr? Aber bei mir funktioniert das nicht, genauso wenig wie es bei En-Die funktioniert. Wenn du mich etwas fragen willst, dann frag, wenn nicht, dann geh wieder schlafen und lass mich mit meinem Abendessen alleine. Soweit ich verstanden habe, haben wir morgen einen anstrengenden Tag vor uns." Toph fühlte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief. Sie kannte dieses Gefühl. Sie hatte es ansonsten nur, wenn sie mit En-Die sprach. Aber bei diesem Mädchen hatte sie dasselbe Gefühl, was sich Toph nicht wirklich erklären konnte. "Leila, wie alt bist du?", fragte sie und Leila sah sie mit gespielt empörtem Gesicht an. "Oh, weißt du nicht, dass es unhöflich ist, eine Dame nach ihrem Alter zu fragen?", fragte sie grinsend zurück. Toph antwortete nicht, also fuhr die Blutsaugerin fort. "Ich bin ungefähr sechshundertzwanzig Jahre alt." Tophs Augen wurden groß. "An deiner Reaktion erkenne ich, dass ich mich recht gut gehalten habe. Sogar du, die mich nicht mal sehen kann, dachtest, dass ich jünger bin. Trotzdem bin ich überrascht, dass du das nicht bemerkt hast, als ich sagte, dass ich bei der Schlacht von Gaoling dabei war", kicherte das Mädchen. "War das deine Frage?" Die Erdbändigerin schüttelte heftig den Kopf. Sie spürte, wie Leila sie mit einem Nicken dazu ermutigte, weiter zu fragen. "Leila, En-Die sagte, dass er mich damals getroffen hat. Was genau ist damals passiert? Warum will er nicht mit mir darüber reden?" Das Grinsen verschwand fast augenblicklich aus Leilas Gesicht. "En-Die redet nicht besonders gerne darüber, weil er sich schuldig fühlt", murmelte sie. Sie klopfte auf den Polster neben ihr und bedeutete der Erdbändigerin damit, sich zu setzen, was diese auch tat. "Weißt du, als er damals nach Gaoling kam, da wurde er von deinen Eltern gerufen, weil sie ihn um Rat bitten wollten. Damals hat er dich zum ersten Mal gesehen." Toph hörte gebannt zu. "Er erkannte sofort, dass aus dir mal eine große Erdbändigerin werden würde, doch er erkannte auch sofort, was deinen Eltern solche Sorgen bereitete." "Meine Blindheit", flüsterte Toph und Leila nickte. "En-Die blieb drei Tage und drei Nächte bei dir und probierte alles aus, was er jemals gelernt hatte, ganz egal, ob von den Schatten, oder von den Menschen. Und am Ende musste er zugeben, dass selbst er deine Blindheit nicht heilen konnte. So musste er deinen Eltern mitteilen, dass du niemals das Licht der Sonne erblicken wirst." Toph runzelte die Stirn. "Und darum will er nicht darüber reden?", fragte sie ungläubig. "Nur weil er mir nicht helfen konnte?" Leila schüttelte den Kopf. "Er gibt sich die Schuld, dass sie dich so lange in dieser Villa festgehalten haben. Er denkt, dass er es war, der deinen Eltern solche Angst gemacht hat, dass sie dich nicht gehen ließen", erklärte die Blutsaugerin. "Ich verstehe", murmelte das blinde Mädchen. "Danke, dass du mir das erzählt hast." Leila lächelte schwach. "Geh jetzt schlafen Toph. Du bist schon viel zu lange wach", meinte sie und die Erdbändigerin nickte. So verschwand Toph zurück in ihr Zimmer und Leila drehte sich seufzend zurück zu ihrem Steak. "Also, wo waren wir?"
Als En-Die am nächsten Morgen ins Wohnzimmer kam, war er überrascht, dass Toph dort saß und ganz offensichtlich auf ihn wartete. Als sie spürte, dass er anwesend war, stand sie auf und sah ihn mit ihren blinden Augen so durchdringend an, als würde sie ihn tatsächlich anblicken. "Ich…ich weiß, was damals passiert ist", murmelte sie und der Schatten sah sie überrascht an. Doch bevor er nachfragen konnte, bemerkte er, dass Leila in der Tür zu ihrem Zimmer stand und ihn vielsagend ansah. "Anscheinend hat jemand mal wieder nicht schweigen können", meinte er und Leila grinste. "Du weißt, dass das noch nie eine meiner Stärken war", antwortete sie unschuldig. En-Die richtete seinen Blick wieder auf Toph und wich überrascht zurück, als er sah, dass sie ihn anlächelte. "Ich bin dir nicht böse", meinte sie leise. "Es ist nicht deine Schuld." Der Schatten sah das Mädchen mit großen Augen an. Plötzlich stürzte Toph vor und umarmte ihn. "Danke, dass du immer für mich da bist", flüsterte sie und En-Die fühlte, wie eine gewaltige Last, die er seit zwölf Jahren mit sich trug, endlich von ihm abfiel. "Ich werde immer auf euch aufpassen. Auf euch alle", versprach er und das Mädchen nickte. "En-Die", meinte Leila da plötzlich. "Ich sagte es dir schon einmal, vor sehr langer Zeit. Du bist nicht alleine. Wir werden auch immer auf dich aufpassen." Der Schatten blickte auf die Blutsaugerin und plötzlich begriff er, dass erst jetzt, obwohl er sie bereits vor zwölf Jahren in Gaoling wiedergetroffen hatte, das alte Band zwischen ihnen neu aufloderte.