[481 Jahre nach Latis-Gründung]
Mit hämmerndem Herzen rannte das Mädchen durch den Wald, während immer noch ein wütendes Gebrüll in seinen Ohren dröhnte, das an den Bäumen widerhallte. Ein weiteres Mal startete man einen Angriff, was das stürmische Rauschen der Blätter verriet. Diesmal schleuderte jemand ein Messer auf sie zu, das sie nur knapp verfehlte, weil sie zurückgeblickt hatte und dadurch stolperte. Sie rutschte einen Abhang hinunter und lediglich herausstehende Baumwurzeln konnten ihren Sturz stoppen. Hektisch rappelte sich die Verfolgte auf und spuckte etwas Erde aus, bevor sie über die Wurzeln hinwegschaute. Ein umgefallener Baum lag dort und bildete somit den Weg über zwei Klippen. Schnell stieg das Mädchen auf den breiten Stamm und lief zur anderen Seite.
Hinter sich hörte sie ein feuriges Zischen, woraufhin einer der Verfolger rief: „Idiot! Wenn du das tust, fackelst du den gesamten Wald ab! Wieso bist du überhaupt mitgekommen?“
Nun wurde es immer windiger und nur noch mit Mühe und Not konnte sie das Gleichgewicht halten. Der Wind schwoll zu einem Sturm an und sie musste schon den sich inzwischen drehenden Baumstamm umklammern, um sich noch auf ihm halten zu können. Sie würde unweigerlich runterfallen, wenn es so weiterging, also beeilte sie sich damit, endlich die andere Seite zu erreichen.
Nur noch etwa eine Armlänge vom Ziel entfernt, erhob sich der Baumstamm plötzlich dort, wo die Wurzeln waren. Jemand musste die Erde an dieser Stelle manipuliert und erhöht haben. Infolgedessen stürzte das Mädchen in den Schlund unter ihm und versuchte nun voller Todesangst, sich an den Felswänden festzuhalten. Vergeblich, da die Spuren des letzten Regens nun Wirkung zeigten und sie somit immer wieder abrutschte. Bevor sie jedoch dort unten zerschellen konnte, spürte sie einen enormen Aufwind, der ihren Fall drastisch verlangsamte. Trotzdem war die Wucht des Aufpralls letztlich groß genug, um sie wie von den pochenden Schmerzen gelähmt und keuchend daliegen zu lassen.
Sie brauchte eine Weile, um ihre derzeitige Situation und ihr Umfeld zu erfassen. Ihre Landung hätte auch glücklicher stattfinden können, denn um sie herum wuchsen einige Sträucher, die sie nur knapp verfehlt hatte. Und obwohl in diesem Bereich des Waldes kaum Bäume standen, fiel ihr auf, dass das Vogelgezwitscher nun lauter war, als je zuvor. Benommen fiel ihr Blick nach oben, wo sie zwischen den steinigen Wänden drei Schemen ausmachen konnte, die langsam hinabzugleiten schienen.
„Was …“
Offenbar wollten ihre Verfolger sichergehen, dass sie tot war.
Mit zusammengebissenen Zähnen rappelte das Mädchen sich auf und lief, die Schmerzen inzwischen vom Adrenalin betäubt, weiter. Sie kämpfte sich durch ein paar Büsche, die ihr den Weg versperrten und landete taumelnd auf einer Lichtung. Das fahle Abendlicht fiel durch die umstehenden Baumkronen auf sie hinab, als sie mit zusammengekniffenen Augen nach einem weiteren Fluchtweg Ausschau hielt.
Inzwischen war das Gezwitscher noch lauter und energischer geworden. Der Wind in den Baumkronen nahm ebenfalls zu, doch spürte sie ihn dort unten am Boden nicht. Schnell schüttelte sie den Kopf. Sie durfte sich nicht ablenken lassen, nicht jetzt! Als hätte man ihre Gedanken gelesen, verstummte das Gezwitscher. Die Verfolger traten durchs Dickicht.
„Ich denke, das Spiel ist nun vorbei“, sagte der Anführer und Erdenbändiger, hinter dem der Junge mit der Prägung des Feuers stand und vorsichtig über dessen Schulter schaute.
Der Windmann, welcher neben dem Anführer stand, trat ein Stück vor, woraufhin sie zurückwich und an eine Wand aus Erde stieß.
„Keine Angst. Wir werden es ganz schnell erledigen.“ Seine Stimme klang, als wollte er sie wirklich damit beruhigen.
Er zückte ein kleines Messer und bewegte sich langsamen Schrittes auf sie zu, während er sie genaustens musterte. Vermutlich suchte er nach einer passenden Stelle für den Schnitt, um es schnell zu beenden.
Ihre Atmung war inzwischen beschleunigt und ihr Blick fokussierte das glitzernde Silbermesser. Sie spürte, wie Panik in ihr aufkam. Nicht nur, weil sie den einst so freundlichen Mann vor sich immer mehr als eine verzerrte Gestalt des Todes wahrnahm, nein. Das Mädchen spürte eine Angst, die weit zurücklag. Sie durchlebte vor ihrem inneren Auge schreckliche Dinge, die weit zurücklagen – weit vor ihrer Geburt. Zitternd sackte sie zusammen und blickte nach wie vor starr auf das Messer.
Nicht schon wieder sterben.
Nein, bloß nicht nochmal, bloß nicht!
Verzweifelt erhob sie ihre Hand und versuchte, Wasser zu bilden, was ihr allerdings nur ein schmerzliches Ziehen in der Nähe des Herzens bescherte, während ihre Iriden kurz rötlich aufleuchteten. Kleine Wassertropfen rannen ihre Hand hinunter, als sie einen Hustenanfall bekam. Es hatte keinen Sinn. Sie hatte keine Energie mehr. Der Mann vor ihr zog nun ihre Hand beiseite, um freie Bahn für sein Messer zu haben.
„Ihr Rotaugen habt doch keinen Grund, den Tod zu fürchten. Wieso wehrt ihr euch dann so vehement?“
Gerade wollte sie sich dazu aufraffen, zu antworten, als die Sicht vor ihren Augen verschwamm …
Das Nächste, was sie wahrnahm, war der Geruch von Rauch. Der Junge mit dem Feuer musste wohl vor Panik eine Glut losgelassen haben. Das seichte Leuchten selbiger schimmerte der Schwärze entgegen, welche die Lichtung nun umgab.
Ihre Instinkte schienen sie regelrecht anzuschreien, dass sie dort wegmusste. Bevor die Finsternis wieder verschwinden würde, musste sie von ihren Verfolgern weg. Gerade, als sie sich entfernen wollte, hörte sie ein krächzendes Schreien und feuchtes Gurgeln, das aus nächster Nähe ertönte. Das Schlitzen einer Klinge. Sie spürte, wie warme Flüssigkeit ihr entgegenspritzte und das Adrenalin sich in ihrem Körper vermehrte, als sie sich vorstellte, was um sie herum gerade geschehen musste.
Was passierte hier?
War sie als nächstes dran?
Wann würde man sie meucheln?
Sie wollte es sich gar nicht vorstellen und lief los. Einfach nur raus aus der Dunkelheit, sehen und leben! Und in dem Moment packte man sie am Kragen und eine Wucht traf auf ihre Halsschlagader.
Als sie erwachte, hörte sie immer noch das Rascheln von Blättern. Kleine Tiere, die durch Sträucher liefen. Vogelgezwitscher, das nun anders klang, als das zuvor – natürlicher. Unter diesen Eindrücken schien sich in der Ferne das Klimpern von Eisen zu mischen, welches allerdings abebbte und schließlich verschwand. Langsam richtete sie sich auf und spürte sogleich, wie stechende Schmerzen ihren Körper durchzogen. Der Sturz vom Baumstamm zuvor schien doch heftiger gewesen zu sein, als sie zunächst annahm.
Einmal vorsichtig durchgeatmet, fiel ihr ein starker Eisengeruch auf. Sie sah sich um. Immer noch befand sie sich auf der Lichtung, allerdings waren die Verfolger-
Kaum erblickte sie einen von ihnen, musste sie ein Würgen unterdrücken und die Panik stieg wieder in ihr auf. Erneut schossen ihr Bilder in den Kopf, die nicht ihr gehörten. Schnell wand sie ihren Blick davon ab, doch blieb der markante Geruch. Sie hatte nicht erwartet, dass der Anblick so schlimm sein würde.
„Musstest du sowas damals etwa auch sehen, Victricia …?“, fragte sie leise.
Keine Antwort. Immer noch hatte sich die Energie des Mädchens nicht weit genug erholt, um die Stimme seiner Comes zu vernehmen. Dabei musste schon eine Weile vergangen sein, denn es war bereits dunkel und die Lichtung in Mondlicht gehüllt.
„Tut mir leid, ich höre dich immer noch nicht“, fügte sie deswegen etwas enttäuscht hinzu und stand nun langsam auf. Auch wenn sie immer noch Angst hatte, man würde sie erneut ins Visier nehmen, so musste sie doch weiter. Zwar konnte seine Tante dem Mädchen gerade nicht beistehen, doch wusste es, was Victricia ihm nun wahrscheinlich erzählen würde. Denn immer, wenn das Mädchen Angst hatte, wusste Victricia es mit einer Geschichte vom Schrecken abzulenken und zu beruhigen. Dieser Gedanke alleine half ihm schon, jetzt voranzugehen.
Sie nahm den Weg, der am wenigsten von Überbleibseln des Kampfes besudelt wurde und verließ die Lichtung. Sich stets nach möglichen Gefahren umsehend, lief sie weiter durch den Wald. Irgendwann konnten ihr nur noch die kleinen Leuchtkäfer eine Ahnung dessen geben, was sich um sie herum befand. Die ganze Zeit über musste sie an die toten Verfolger denken. An den Grund, wieso sie das Mädchen töten wollten. Und an die wuterfüllten Rufe, die die Bewohner ihr zuwarfen, als sie aus ihrem Dorf rannte, ihre Eltern hinter sich lassend. Bei dem Gedanken daran musste sie ihre Tränen unterdrücken.
Es war nicht fair.
Es war nicht fair …
Natürlich hatten diese Leute ihre Gründe, aber dafür Leben zu nehmen?
Plötzlich stoppte sie und lauschte, während einige Vögel aufschreckten und davonflogen. Was war das eben für ein Knall? Paranoid blickte sie sich um und erkannte schließlich, wie etwa zwanzig Meter von ihr entfernt ein seichtes Licht sichtbar wurde. Zwei Schemen, die in der Ferne an ihr vorbeizogen. Das Mädchen verbarg sich hinter einem Baum und beschloss, vorerst dort zu verharren, um möglichst keine Geräusche von sich zu geben. Oft schon musste sie sich vor Leuten verstecken und sie wusste, dass jede kleinste Bewegung ein Geräusch zu viel bedeuten konnte.
Während sie dort stand und abwartete, vernahm sie Stimmen:
„Ah, ein gutes Exemplar. Und schön am Hals getroffen. Gib mir mal den Gurt und sieh gut zu“, ertönte eine männliche Stimme. Kurz darauf hörte man ein Klicken.
„Erst da raufziehen, dann gehst du hier entlang … und noch einmal hier rum. Pass auf, dass es sich nicht löst, wenn du es so“, etwas Schweres rollte sich im Gras, „umdrehst. Zu guter Letzt nur noch hier hin und schließen.“ Es klickte erneut.
„Verstanden. Heißt das, ich sorge nächstes Mal für die Sicherung?“, fragte nun eine weibliche Stimme.
„Natürlich. Aber erstmal sollten wir zurückgehen, es ist schon spät. Komm, pack an.“
Damit ertönte zuerst ein Schlurfen und dann ihre Schritte, stets begleitet von einem hölzernen Klappern, das das Mädchen von Kutschen kannte, die manchmal ins Dorf einfuhren. Damals, als es ihnen allen noch gut ging … schnell verdrängte sie diesen Gedanken wieder.
Sie hätte noch eine weitere Weile dort hinter dem Baum verharrt, wenn die Geräusche nicht langsam nähergekommen wären. Das Licht schien immer stärker in ihre Richtung und sie versuchte, im Schatten zu bleiben. Als sie jedoch einen Schritt zur Seite machte, weg vom Licht, rutschte sie auf nassem Moos aus und fiel zu Boden. Die beiden Fremden mit dem Karren verstummten und das Mädchen hielt den Atem an, während es fieberhaft überlegte, was am besten zu tun wäre. Sollte sie behaupten, man habe sie überfallen wollen? Nein, die Täter waren ja … unschädlich gemacht. Bei dem Gedanken daran schoss ihr fast die Galle hoch.
Was sollte sie denn sagen?
Und da stand bereits ein stämmiger, wohl schon mittelalter Mann, mit lichten, schwarz-grauen Haaren, vor ihr und blickte ihr überrascht entgegen. Das Licht blendete das Mädchen und so hielt es sich zunächst die Hand vor Augen.
„Entschuldige“, schwächte er das Leuchten etwas ab.
Es war ein eigenartiges Konstrukt, das er da in der Hand hielt – sah wie eine Öllampe aus, doch war dort drin gar kein Feuer. Nur zwei Drähte, die leicht glühten und manchmal aufflackerten.
„Also …“, kratzte er sich verlegen am Kopf, „hast du dich verlaufen?“
Immer noch starrte das Mädchen fasziniert auf die Lampe.
„Schau da lieber nicht direkt rein, das ist nicht gut für die Augen! Wie dem auch sei … wo sind deine Eltern? Was machst du hier draußen so alleine?“
Ihr Blick fixierte nun seine grauen Iriden und sie schwieg eine Weile. Sie war sich nicht sicher, was sie ihm sagen sollte. Was würde Victricia denn jetzt sagen …?
„Ich … weiß es nicht.“ Sie wusste es wirklich nicht. Wo man die Körper ihrer Eltern nun hingebracht hatte, wusste sie nicht. Vermutlich würde man sie bei nächster Gelegenheit in der Hauptstadt vorzeigen, als Beweis dafür, dass man einen guten Dienst geleistet hatte. Und dann um Unterstützung für das Dorf bitten, um die Krise zu überstehen. Denn so würde man ihnen sicher zuhören.
„Du weißt es nicht?“
„Nein.“
Er musterte sie genau und dachte nach. Als nächstes schaute er an den Baum vorbei, an dem sie standen und wieder zu ihr. Dann seufzte er.
„Okay, du wirst mit uns kommen. Ich kann dich hier nicht einfach so herumstreunen lassen, das würde mir nur ein schlechtes Gewissen bescheren. Außerdem denke ich, hätte Mélina auch nichts dagegen. Und wenn doch, kann sie das nächste Mal alleine jagen gehen und die Beute nach Hause hieven.“
Damit reichte er ihr die Hand und sie hielt inne. Das Mädchen war sich sichtlich unsicher, was es von der ganzen Situation halten sollte. Rausreden konnte es sich scheinbar auch nicht mehr, so eisern er dessen Reaktion abwartete.
Aber …!
Etwas ungeschickt rappelte sie sich, ohne seine Hilfe anzunehmen, auf und klopfte die Kleidung etwas ab.
„Ich werde meine Eltern finden“, log sie und wartete auf seine Reaktion, während ihre Augen vor allem seine Hände fixierten – gemäß dem Fall, er hatte etwas vor. Das Einzige, was er allerdings tat, war, die Arme zu verschränken und schmal zu grinsen.
„Bist du aufs Feuer geprägt?“, wollte er wissen.
Langsam schüttelte sie den Kopf und er fing an, leise zu schmunzeln. Was war nur mit ihm los?
„Wie willst du sie dann mitten in der Nacht und ohne Lampe finden?“
Ihr schoss leichte Röte ins Gesicht. Das war ein Argument.
„Komm“, fuhr er fort, „unsere Hütte ist hier in der Nähe. Dort ist es warm, gemütlich und es gibt Essen. Immerhin besser, als hier draußen im Dunkeln umherzuirren, oder?“
Perplex nickte sie. Das war aber nicht das, was sie wollte. Sie wollte nicht mit diesen Fremden mitgehen!
Als er sie zum Karren und zu seiner Jagdpartnerin führte, fragte er:
„Wie lautet eigentlich dein Name? Meiner lautet Wallace, um das schonmal vorwegzunehmen.“
„…“
„Keine Scheu.“
„… Salvia.“
„Hast du gehört, Mélina? Sie heißt Salvia“, rief er nun einer Frau rüber, welche die beiden fast erreicht hatten und die aussah, als stünde sie mitten in ihren Zwanzigern. Sie hatte einen auffällig langen, dunkelblonden Zopf und hinter ihrer Schulter lugte ein Gewehr hervor – selten hatte Salvia solch ein Werkzeug zu Gesicht bekommen, aber sie erkannte es als eines.
Die Jägerin erhob eine Augenbraue, während ihre grauen Augen den Neuankömmling musterten. Dann ging sie auf Wallace zu und nahm ihn an die Seite, um im Flüsterton etwas mit ihm zu besprechen. Dieser Moment des Abwendens erschien Salvia irgendwie erleichternd, da sie sich so nicht von diesen Fremden beobachtet fühlte. Die Erleichterung währte allerdings nur kurz und man tippte ihr auf die Schulter. Schnell drehte sie sich um und erblickte Mélina vor sich.
„Wir haben beschlossen, dass du die Nacht bei uns verbringen kannst. Morgen sehen wir dann, ob wir deine Eltern finden können.“
Damit ergriff sie Salvias Hand und zog sie ohne weitere Worte mit sich. Gemeinsam mit Wallace und ihrer Beute machten sie sich auf den Weg zu einer kleinen Holzhütte am Rande des Waldes. Als sie diese nach einem minutenlangen Marsch erreicht hatten, trennten sich Salvia und Mélina von Wallace, der sich draußen am Karren um den Kadaver eines Hirsches kümmerte. Die beiden gingen derweil hinein und die Ältere zeigte Salvia das Zimmer, in dem sie die Nacht unterkommen sollte.
„Dort dürfte alles Nötige vorhanden sein. Essen gibt es nachher, aber vorher solltest du baden gehen.“
Sie deutete auf einen Spiegel im Zimmer und Salvia betrachtete sich kurz darin. Ihre Ringe unter den waldgrünen Augen waren so dunkel wie eh und je. Durch die ganze Flucht heute war ihre Kleidung ziemlich erdig und verdreckt, teilweise auch löchrig und einige Blätter hatten sich darin verfangen. Auch in ihren schulterlangen, schwarzen Haaren fand sie einen kleinen abgebrochenen Ast, den sie sogleich schnell entfernte. Verstohlen blickte sie zu Mélina, die immer noch im Türrahmen stand und sie mit nichtssagendem Gesichtsausdruck musterte. Sie nickte nur dezent.
Was sie wohl dachte, wenn sie so jemanden sah?
„Ich bringe dir gleich neue Kleidung. Dürfte irgendwo noch etwas Passendes haben.“ Mit diesen Worten verschwand die Dunkelblonde durch die Tür und ließ Salvia alleine im Zimmer zurück.
„Die Wanne ist übrigens im rechten Nebenzimmer“, rief sie noch aus dem Flur.
Alle drei saßen bei Kerzenlicht am Esstisch und aßen Fleischeintopf. Offenbar handelte es sich hierbei um Kaninchen und nicht um den Hirsch, den die beiden Jäger zuvor transportiert hatten. Vielleicht wollten sie diesen verkaufen – vielleicht auch nicht. Salvia wusste es nicht. Aber vorerst konzentrierte sie sich ohnehin aufs Essen, da sie seit vielen Stunden nichts mehr zu sich genommen hatte. Ihr war es in all der Hektik bisher nicht aufgefallen, aber sie hatte ziemlichen Hunger.
Eine Weile noch nahmen sie im Stillen ihre Speisen zu sich, jeder seinen eigenen Gedanken folgend.
Dann fing Wallace an: „Von woher kommst du eigentlich?“
Fast hätte Salvia sich verschluckt.
Genau das hatte sie befürchtet: Dass man ihr Fragen stellen würde. Denn wo es eine Frage gab, da gab es meist auch mehr. Eigentlich fühlte sie sich ohnehin schon unwohl mit der Tatsache, dass sie einfach bei diesen beiden Fremden mitgegangen war. Nun gut, sie haben es angeboten. Und sich aufs Bitterste dagegen zu sträuben … hätte vermutlich nichts gebracht und es stattdessen nur verschlimmert.
Hätte es also keinen anderen Weg gegeben?
Wieso musste sie sich überhaupt fassen lassen?
„Nun?“, riss der Mann sie wieder aus den Gedanken.
„Ähm“, entwich es ihr und sie hätte sich innerlich dafür ohrfeigen können. Einen Moment lang starrten beide sie wortlos an.
„Ehm … Ehmar? Ist aber weit-“
Schnell schüttelte Salvia den Kopf und unterbrach so Mélina.
Wieso war sie auch nur so schlecht im Führen von Konversationen mit Fremden?
Wortlos senkte sie den Blick und schaute auf die verbleibende kleine Pfütze, die sich in ihrer Schüssel befand. Immer stärker spürte sie die Blicke der anderen beiden auf sich. Wie sie sich vermutlich gerade Gedanken machten und zu dem Entschluss kamen, dass etwas nicht stimmte.
„Latis“, log sie schnell und stand sogleich auf, um auf ihr Zimmer zu gehen. Hätte sie die Wahrheit gesagt, hätte man sie nur wieder zurückgebracht. Zurück zu den Leuten, die einst ein Teil ihrer Familie waren – und die sie nun tot sehen wollten. Deshalb nannte Salvia einfach den ersten Namen, der ihr einfiel.
… Aber was war Latis nochmal für ein Ort?
Das konnte ihr inzwischen vielleicht auch egal sein. Vermutlich hatte man sowieso schon entdeckt, dass sie eine von den ‚Rotaugen‘ war, von den ‚Manipulatoren des Totenreichs‘, den ‚Seelenfressern‘ und was für seltsame Titel man ihnen nicht noch alles gab …
Sie schloss die Zimmertür hinter sich und atmete einmal tief durch, als sie aufs Bett schaute. Liebend gerne würde sie jetzt schlafen gehen, aber sie konnte es nicht. Sie vertraute den Fremden hier nicht. Vermutlich planten sie nun in aller Ruhe, wie sie Salvia am besten im Schlaf ermorden konnten – das wäre gar nicht mal so abwegig. Also schlurfte sie zum Bett und setzte sich erstmal hin, um nachzudenken. Sie musste sich selbst einen Plan überlegen, wenn sie hier lebend rauskommen wollte, dessen war sie sich sicher.
Was also sollte sie tun?
…
Es war stickig, so konnte sie nicht denken. Ihr Blick wandte sich zu einem kleinen Fenster, das sich im Zimmer befand. Langsam stand sie auf und ging geradewegs darauf zu, um es zu öffnen und die kühle Brise der Nachtluft zu spüren.
Vielleicht sollte sie einfach aus dem Fenster steigen und verschwinden?