„Hast du eine Ahnung, warum man uns jagt?“, wollte Salvia wissen. Denn nicht mal ihre Eltern, die den Beginn der Jagd vor etwa zwanzig Jahren, angefangen mit dem Roten Abend, miterlebt hatten, wussten darauf je eine Antwort. Sie konnten ihr nur immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass man sie alle töten würde, sollte man um ihre Blutlinie Bescheid wissen. Mit dieser Tatsache im Hinterkopf war es nicht immer einfach gewesen, ein normales Leben zu führen. Auch durften sie alle drei unter keinen Umständen vor Außenstehenden ihre Magie benutzen. Es hieß daher immer, ihre Familie hätte den Missmut der heiligen Elementare auf sich gezogen, da angeblich niemand von ihnen auf irgendein Element geprägt war und sich dieses dadurch in Form von Magie zunutze machen konnte. Zugegeben hatte Salvia in ihrem Fall mit der Magie keinen großen Verlust darin gesehen, zu behaupten, sie könne keine nutzen. Es war einfacher, als in Trockenphasen unter konstanten Schmerzen die Felder ein wenig zu bewässern, ehe ihre sehr begrenzten Manareserven schon wieder erschöpft waren und sie für den Rest des Tages nicht mehr mit Victricia kommunizieren konnte. Allerdings brachte es insgesamt auch einige Nachteile mit sich, wie etwa, dass die Leute aus Miska sie mieden, um nicht vielleicht ebenfalls von der Missgunst der Elementare betroffen zu sein. Auch konnte Beatrix, Salvias Mutter, ihrer Berufung an den kleinen Schreinen für die Elementare nicht nachgehen, die man vor vielen Generationen im Zentrum des Dorfes aufgestellt hatte und um die sich nicht angemessen gekümmert wurde, genauso, wie die Zeremonien, welche unprofessionell abgehalten wurden. Zum Glück der Familie allerdings schätzte man den Beruf von Melaenis, der Arzt war und vielen Menschen helfen konnte. Wenigstens das gab den Menschen Grund, ihnen ein wenig Respekt entgegenzubringen und freundlich zu sein, wobei man trotzdem eine gewisse Distanz zu ihnen wahrte, wenn man konnte. Der Respekt samt Freundlichkeit hielt sie zudem nicht davon ab, Salvia und ihre Eltern zu jagen, sobald man Bescheid wusste, wer sie eigentlich waren.
Mélina schüttelte nur den Kopf. „Außer geschürten Hasses fällt mir kein Grund ein.“
Irgendwie tat diese Aussage weh. Wie konnte man nur solch einen blinden Hass empfinden, dass man eine ganze Bevölkerungsgruppe ausradieren würde, koste, was es wolle?
„Aber es muss doch noch etwas geben, einen oder mehrere weitere Gründe …“
Die junge Jägerin erwiderte nichts darauf und ihre Miene war unlesbar.
„Selbst wenn es sie gäbe, bin ich mir sicher, dass sie nicht dazu ausreichen, solch eine drastische Aktion durchzuführen“, kommentierte Wallace bestimmt.
Danach sagte keiner mehr etwas dazu, doch war offensichtlich, dass jeder von ihnen in Gedanken bei dieser einen Frage war: Warum? Die Stimmung war gekippt.
Schließlich verließen sie das Unterholz mit all seinem Laub und erreichten die Jägerhütte mit der Kutsche, von der Arne gerade wegging und ins Haus verschwand.
„Ich werde Arne mal beim Rest helfen, er scheint ja schon fast fertig zu sein“, erklärte Wallace und verschwand schnell zu ihm rein ins Haus. Vermutlich wollte er sich ablenken. War wohl keine so schlechte Idee.
„Hast du Hunger?“, fragte Mélina, ohne sich zu ihrer Begleiterin umzudrehen, als sie sich dem Wagen näherten.
Bei dieser Erwähnung fiel Salvia auf, dass ihr Magen durchaus ziemlich leer sein musste, da sie zuletzt in der vorigen Nacht etwas zu sich genommen hatte und inzwischen befand sich die Sonne immerhin schon auf dem Mittelstand.
„Ja“, antwortete sie daher und die Jägerin begann, die Güter auf der Ladefläche zu durchforsten, bis sie schließlich einen Stoffsack mit ein paar Broten ausfindig machte und ihr eines hinhielt. Salvia spürte, wie der Speichel sich in ihrem Mund sammelte, als sie ihre Hand nach dem Brot ausstreckte, um es entgegenzunehmen und zu verspeisen. Mélina nahm sich ebenfalls ein Stück und so standen sie eine Weile da, aßen und warteten auf die beiden Herren.
Salvia war froh, für den Moment keinen Hunger mehr verspüren zu müssen. Sie kletterte auf die Ladefläche des Wagens und nahm zwischen den Gütern Platz, als ihr plötzlich alte, unangenehme Erinnerungen hochkamen und sie das inzwischen halb verzehrte Brot anstarrte. Unsicher fragte sie: „Wie lange schätzt du, werden wir fahren?“
Die junge Frau schaute gen Himmel und kaute nachdenklich. Dann schluckte sie und antwortete: „Bis zum heutigen Mondschein, wenn nichts dazwischenkommt. Vielleicht etwas früher. Wir machen erstmal in Torraz Halt. Infos sammeln und so weiter.“ Sie genehmigte sich einen weiteren Bissen.
Also etwa einen halben Tag Kutschenfahrt. Sie hatte große Befürchtungen deswegen, denn die wenigen Male, in denen Salvia mit solch einem Gefährt fahren durfte, riefen in ihr keine schönen Erinnerungen hervor. Und nun, da sie etwas gegessen hatte … aber sie sah kein Recht bei sich, sich darüber zu beschweren. Sie musste und würde es ertragen.
„Wir können kurz halten, wenn du willst.“ Wallace sah mit besorgtem Lächeln zu seinem kränklich-blassen Gegenüber, das sich wie ein nasser Sack von jeder Erschütterung kraftlos mitreißen ließ. Eingehüllt in einem Mantel aus Bärenfell, damit man ihre schon wieder schmutzig gewordene Kleidung nicht so sehr sehen und anhand dessen seltsame Mutmaßungen anstellen konnte, saß – oder eher hing – sie da. Sie fühlte sich sichtlich unwohl.
„Nein … alles gut …“ Salvia schloss ihre Augen, in dem Versuch, ihr Schwindelgefühl loszuwerden. Letztlich blieben noch Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Kutsche fuhr über ein Schlagloch, woraufhin bei ihr ein Würgereiz ausgelöst wurde, doch mit eisernem Willen ging sie dem nicht nach.
„Wo wir schon so gemüt- wo wir schon hier sitzen“, versuchte Wallace wohl, Salvia von ihrem Leid abzulenken, „könnte ich dir ein wenig über Rebellium erzählen.“
„… Mhm.“
„Also gut, womit beginne ich …“ Einen Moment lang sinnierte er darüber, was er zuerst preisgeben sollte und fing schließlich an: „Wir tragen zwar den Namen ‚Rebellium‘, aber fürs offizielle Auge sind unsere Mitglieder lediglich Laufburschen, Händler, Ärzte oder sonstiges. Ganz unterschiedliche Leute, die sich vielleicht ab und zu mal zufällig über den Weg laufen.“
„Wie genau stellt ihr euch den Vorgang der Rebellion eigentlich vor?“
Wallace grinste nur und erwiderte, den Blick auf den Horizont gerichtet: „Das wirst du noch rechtzeitig erfahren.“ Damit hatte sich das Thema für ihn offenbar schon wieder erledigt.
Es war wirklich sehr vage gehalten und Salvia beschlich das Gefühl, dass diese Leute möglicherweise doch eine Bedrohung für sie darstellten. Mit Argwohn musterte sie Wallace, der ihr gegenüber im Holzanhänger zwischen all den Waren saß und blickte dann rüber zum vorderen Teil, zu Arne und Mélina, die auf je einem der beiden Pferde ihren Platz gefunden hatten und sich ein wenig unterhielten. Sie bereute bereits, dem ganzen zugestimmt zu haben. Wie konnte sie auch ihre Deckung fallenlassen, gleich, als man ihr eine andere Antecessoris vorgehalten hatte? Mélina konnte genauso gut als Werkzeug benutzt werden, hilflose und naive Rotaugen dazu zu bewegen, mit ihnen zu kommen und sie dann schließlich auszuliefern. Nun gab es kein Zurück mehr, denn sie konnte sich denken, dass die Informationen, die der fremde Mann und seine Tochter mit ihr geteilt hatten, nichts waren, womit man Salvia ohne weiteres wieder ziehen lassen würde. Doch selbst, wenn es sich nur um eine Lüge handelte, solange sie keinen Beweis dafür hatte, dass es gelogen war, stand die Behauptung einer geplanten Rebellion und somit der Grund, sie nicht mehr gehen zu lassen.
Kurzum: Sie saß in der Falle und besaß nicht die Macht, etwas dagegen zu unternehmen.
Und in dem Moment, als würde eine unsichtbare Kraft auf ihren Magen drücken, musste sie sich über die Wagenwand beugen und übergeben.
Als sie ihr Ziel erreichten, war der Himmel bereits farblich zwiegespalten zwischen dem rötlichen Licht des Abends und der bläulichen Dunkelheit der Nacht. Torraz, ein kleines Dorf, das von Maisfeldern umringt war, die mit Abstand aus mehr Feldfläche bestanden, als aus Angebautem. Dessen Wege und Plätze um die teils undichten Baracken herum sich um diese Uhrzeit in menschenleerer Stille labten. Ein Ort, in dem sich ein klappriges, altes Gasthaus befand: Dies sollte ihr Zwischenstopp für die Nacht sein.
Die Kutsche hielt am Fuße der Herberge, an dem einige Troge für ankommende Pferde bereitgestellt waren. Erleichtert über die Erfrischung machten die beiden Rösser sich über das Wasser her, während ihre Reiter abstiegen.
Auch Wallace und Salvia stiegen nun aus, wobei er sie stützen wollte, sie sich dem jedoch verweigerte.
Dann kletterte Arne zwischen all die Waren auf den Holzanhänger und holte eine Plane hervor, die er sogleich mit Mélinas Hilfe über diesen spannte. Mit einem kleinen Messer stach er sich in einen Finger und ließ sein Blut in einen kleinen Behälter in der Mitte des Verdecks tropfen. Dann drehte er diesen und augenblicklich baute sich elektrische Spannung an der Plane auf, sodass niemand unbefugt an die Waren kommen konnte.
„Wie funktioniert das?“, fragte Salvia überrascht, da sie noch nie zuvor etwas gesehen hatte, was dazu fähig war. Sie hatte noch nicht einmal in ihrem gesamten Leben davon gehört.
„Ein modernes Werkzeug aus Latis. Schwer zu bekommen, aber unglaublich praktisch. Es arbeitet mit Magie“, erklärte Arne stolz lächelnd.
Salvia erinnerte sich daran, dass Latis als unglaublich fortschrittlich galt, wenn man es mit anderen Ortschaften verglich. Allerdings galt die Hauptstadt in gleichem Maße als sehr abgeschottet und militärisch geprägt und man sagte den Latisern nach, dass sie eine gewisse elitäre Attitüde an den Tag legten, dementsprechend also auch gering von den Nicht-Latisern denken würden, welche den Großteil der Bevölkerung Eldorans ausmachten. Ob diese Vorurteile stimmten, wusste sie nicht, aber wenn sie sich recht entsann, verhielten sich die wenigen Latiser, denen sie in ihrem Leben begegnet war, tendenziell distanziert gegenüber Leuten, die nicht aus der Hauptstadt stammten.
„Wie gehen wir jetzt vor?“, fragte Mélina und unterband somit weitere, zeitraubende Erklärungen von Seiten Arnes, der daraufhin ein wenig enttäuscht dreinblickte.
„Ich würde vorschlagen“, erklärte Wallace, „dass wir uns erstmal ein wenig im Dorf umsehen, ob es hier ein Anschlagbrett oder dergleichen gibt, wie es ja häufig der Fall ist. Bewohner werden wir hier draußen zu dieser Zeit wohl kaum finden, also sollten wir danach direkt hierher zurückkehren und der Gaststätte einen Besuch abstatten. Soweit irgendwelche Einwände?“
Keiner sagte etwas.
„Gut. Damit es schneller geht, werden wir uns aufteilen. Salvia, du siehst dich im Norden um.“ Er zeigte in die entsprechende Richtung. „Arne wird den Süden übernehmen, Mélina den Osten und ich den Westen. Jetzt irgendwelche Einwände?“
Wieder nichts.
„In Ordnung, dann los.“
Das Dorf war unerwartet groß und mindestens ebenso triste. Aus den Bruchbuden, dessen Dächer teilweise lieblos mit einer Mischung aus Holzbrettern und etwas Stroh abgedeckt wurden, waren an den Fenstern vereinzelt Schritte zu vernehmen oder lediglich das Knarzen von Holzdielen. Offenbar waren einige misstrauische Bewohner zu Hause und noch wach. Mit leichtem Unbehagen ging Salvia weiter, bis sie schließlich einen offenen Platz gefunden hatte, der ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Inmitten dieses Platzes befand sich eine ansehnliche Linde, deren Blätter in den Farben des Herbstes gefärbt waren und in den Wogen des Windes bereits fielen. Bald wäre es wohl soweit und der erste Schnee würde kommen. Das war es allerdings nicht, was sie dazu brachte, stehenzubleiben. Vor der Linde befanden sich ein paar etwa hüfthohe Steingebilde, die feinsäuberlich gemeißelt wurden. Es waren ein paar Schreine der Elementare. Salvia sah kurz um sich und ging dann einige Schritte auf die Schreine zu. Jeder einzelne von ihnen war vertreten:
Thuban, die Schlange, die durch ihren Wunsch, alles in der Welt zu hören, eins mit der Erde wurde.
Mizar, der riesige Weise, der mit seinem Mantel aus Wasser durch die Länder zog und so die Seen, Flüsse und Meere erschuf.
Merak, der Bruder Mizars und durch seinen unstillbaren Appetit Erschaffer der großen Leere und Dunkelheit überm Himmel.
Regulus, der Löwe, dessen Mähne Blitze anzuziehen vermochte, auf dass keiner seiner Untertanen ihm Leid zufügen konnte.
Altair, der stolze Adler, der bei seinem Höhenflug zur Sonne eins mit dem Feuer wurde.
Capella, die Ziege, deren Fell so strahlend weiß war, dass dessen Licht gar das der Sonne ersetzen konnte, ohne dieselbe unbarmherzige Hitze mit sich zu bringen.
Spica, die Jungfrau, die sich stets mit dem Wind des Frühlings treiben und die Geschehnisse auf sich zukommen ließ.
Aldebaran, der Stier, der seine Hörner opferte, um das Leben zu erschaffen und zu erfahren.
Arktur, der Angler von Seelen, der die Verstorbenen mit seinem Boot sicher auf die andere Seite brachte.
All jene, die einst zu Sternen wurden und von da an über jedes Lebewesen wachten, das auf dieser Welt wandelte.
Nachdenklich verweilte Salvia vor den Schreinen, stets das Rauschen des Laubes in den Ohren. Sie würde gerne beten, also sah sie sich um. Vielleicht war ihr wenigstens diesmal das Glück hold und man hatte irgendwo ein paar Opfergaben bereitgestellt. Doch wie sie recht schnell feststellen durfte, musste sie wohl selbst welche beschaffen, wenn sie hier beten wollte.
Gerade, als sie sich ein wenig enttäuscht umwand und sich auf den Weg zurück zum Gasthaus machen wollte, da sie auch kein Anschlagbrett oder dergleichen ausmachen konnte, stockte sie und blickte einem fremden Menschen mit schwarzer Kapuze entgegen, der gerade auf den Platz kam. Eine weiße Feder in der Hand, marschierte die Person an Salvia vorbei und ignorierte sie dabei völlig. Die Person hockte sich vor den Spica-Schrein hin und legte die Feder in eine kleine Schale, die in den Sockel eingearbeitet wurde. Dann kniete sie sich vorm Schrein hin, schlug dreimal ihre Hände zusammen und summte ein ruhiges, aber doch fröhliches Gebet vor sich hin. Die Stimme ließ ein Mädchen vermuten. Es war … interessant, anzuhören. Als die Melodie zu Ende war, stand die Fremde auf und verneigte sich. Anschließend erhob die Person eine Faust in die Luft und ein starker Windstoß wurde in den Himmel emporgeschickt. Letzteres gehörte nach Salvias Wissen eigentlich zu keiner Art von Ritual, was sie verwunderte. Jedoch sagte sie nichts dazu und wand sich stattdessen um, zu gehen.
„Willst du nicht auch beten?“, kam das fremde Mädchen mit Kapuze auf Salvia zu und man konnte unter dem Stoff lediglich das Lächeln erkennen. Von oben bis unten musterte die Fremde Salvia.
Diese schüttelte nur den Kopf und machte sich auf den Weg zum Gasthaus, wo sie sich mit Wallace und den anderen treffen wollte. Von der Person, die sie hinter sich ließ, kam nichts mehr.
„Interessant, dass wir denselben Weg haben“, ertönte es nach einer Weile plötzlich neben Salvia, was sie kurz zusammenzucken und sich dann anspannen ließ. Seit wann war das Mädchen ihr gefolgt?
„Sag bloß, du hast dich gerade erschreckt.“
Kein Kommentar.
Das fremde Mädchen verschränkte nur die Arme und lief stumm grinsend neben Salvia her, bis sie das Gasthaus erreichten.
Wallace wartete bereits vor dem Gebäude und als er sie erblickte, marschierte er auf die beiden Mädchen zu. Für einen kurzen Moment kam ein starker Wind auf, als die Fremde unvermittelt einen Satz nach vorn machte und ihre Kapuze bei der Böe von ihrem Kopf rutschte, was sie allerdings nicht zu stören schien. Zum Vorschein kamen braune, halblange, leicht zerzauste Haare.
„Tag, Wally“, grüßte die Fremde, als sie direkt vor Wallace zum Stehen kam.
„Liz, was machst du hier?“, fragte er verwundert.
„Ach, hier und da ein paar Aufträge, wie es halt so ist“, winkte das Mädchen grinsend ab.
Sie kannten sich? Dann würde Salvia ihr sicherlich öfter über den Weg laufen.
Wallace seufzte. „Lass mich raten, Lanford hat dich darauf angesetzt, mich genauer zu überwachen.“
„Joa, mehr oder weniger. Eigentlich sind wir drei.“
Er schmunzelte. „Ich kann mir schon denken, wer dabei ist.“
„Natürlich … übrigens, wer ist das?“ Das Mädchen zeigte mit dem Finger auf Salvia und musterte sie erneut von oben bis unten.
„Das ist unsere neuste Kameradin“, legte Wallace ihr eine Hand auf die Schulter.
„Fragt sich für wie lange noch, so blass und klapprig, wie die aussieht.“
Diesen Kommentar wollte Salvia überhört haben.
„Nun, sie kann nicht so gut mit Kutschen …“
„Ist ja drollig“, grinste das Mädchen frech.
Salvia spürte, wie sie sich immer mehr anspannte, je weiter diese Konversation voranschritt.
„Willst du lieber fliegen?“, fragte das Mädchen Salvia.
„Liz, lass es“, ermahnte Wallace sie, woraufhin Liz dramatisch abwehrend die Hände erhob.
„… Ich geh schonmal rein“, sagte Salvia und machte sich auf den Weg ins Gasthaus. Dabei konnte sie ihre Angespanntheit nicht verbergen.
Doch folgten die beiden ihr und Wallace merkte an: „Arne und Mélina sind sowieso schon drinnen.“
Gut zu wissen.
Sie betraten das klapprige Gebäude und es fiel sogleich auf, dass der äußere Zustand in etwa dem Inneren entsprach. Nur mit dem Unterschied, dass man sich innen wenigstens die Mühe gegeben hatte, die kritischsten Stellen mit Dekorationen, wie etwa Stofftüchern an den Wänden, zu verdecken. Allerdings nur mit mäßigem Erfolg, da man beim genaueren Hinsehen immer noch die Löcher und Risse entdecken konnte und auch ein leichter Windzug zu spüren war. Trotz des nicht sonderlich einladenden Ambientes war der Laden gefüllt. Menschen saßen beieinander, aßen und tranken. Manche spielten sogar kleine Kartenspiele. An sich nichts Ungewöhnliches. Allerdings waren die Gesichter vieler von Wut und Gram geziert und es wurde kaum geredet. Die Stimmung war sichtlich schlecht.
Das Mädchen namens Liz hatte erneut ihre Arme verschränkt und erschien konzentriert, als sie durch den Raum sah. Salvia blickte sich ebenfalls um und bald schon entdeckte sie Mélina und Arne, auf die sie gerade zugehen wollte, als Wallace sie zurückhielt und an einen anderen Tisch führte.
„Warum nicht zu den beiden?“, wollte sie wissen.
„Lass die beiden. Wir sollten uns lieber erstmal den anderen vorstellen, bevor wir irgendwas anderes unternehmen.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung nach vorne zu zwei weiteren Gästen. Einer von ihnen fiel besonders durch seine kupferfarbene Haut auf, die ungewöhnlich in Eldoran war. Er kam wohl aus dem heißen Nachbarland Rahkrit. Der andere war trotz hellem, typisch-regionalen Teints kaum weniger auffällig, da er einen feinen, schwarzen Anzug trug, während er einen unsauberen Dreitagebart hatte und seine hellbraunen Haare vor Fett glänzten.
„Darf ich?“, lächelte Wallace die zwei Herrschaften an und setzte sich sogleich, ebenso wie Liz. Salvia stand zögerlich daneben, nahm dann aber ebenfalls Platz auf einer der beiden Sitzbänke. Aus Platzgründen musste sie neben dem frechen Mädchen sitzen, welches sich wiederum neben dem Kupferjungen positioniert hatte. Dieser schaute Salvia nur prüfend von der Seite an.
„Welch Überraschung, Wallace.“ Der fettige Mann reichte ihm zur Begrüßung lächelnd die Hand und Wallace schüttelte diese freundlich.
„Ich denke, wir wissen beide, dass dies wenig mit Zufall zu tun hat“, merkte Wallace an und platzierte seine Arme auf dem Tisch.
„Du weißt wohl schon Bescheid. Lanford kann ziemlich paranoid sein, gerade aktuell …“
„Albträume?“
„Exakt. Aber bei dir mache ich mir keine Sorgen, dir kann man ja vertrauen, nehme ich an?“
„Ich hoffe, das war eine rhetorische Frage“, lächelte Wallace.
„Aber wie ich sehe, hast du einen Neuling dabei.“ Der Mann lehnte sich nach vorne und sah mit seinen Haselnussbraunen Augen zu Salvia rüber, die ein kleines Stück zurückwich. „Wie heißt du?“
„Salvia …“ Sie fühlte sich unbehaglich, da sie von jedem am Tisch angesehen wurde. Wie Jäger, die ihre Beute fixierten.
„Salvia, und weiter?“, wollte er genauer wissen.
„Ar… tevis“, antwortete sie leiser werdend. Glücklicherweise versprach sie sich da nicht und nannte einen falschen Namen.
„Al-Tevis?“, fragte der Kupferjunge.
Sie wiederholte: „Artevis.“ Diesen falschen Namen durfte sie unter keinen Umständen vergessen.
„Nun, Salvia Artevis … mich kannst du Snorri nennen. Das da drüben sind Falk und Liz.“ Er deutete auf die beiden auf der Sitzbank, neben Salvia. Liz hob kurz ihre Hand zum Gruß und blickte Salvia neugierig an, ehe sie ihre Arme verschränkte. Falk ignorierte sie und starrte auf den Tisch. Salvia nickte nur unbeholfen.
Dann herrschte vorzeitige Stille.
„Hast du schon gebetet?“, fragte Snorri nach einer Weile das freche Mädchen.
„Natürlich“, antwortete es und verschränkte die Arme. „Spica wird auch ganz sicher gehört haben, da ich sie extra angestupst habe.“
„Wi worden sehn“, sagte Falk nur. Über den südlichen Dialekt war Salvia überrascht. Lag Rahkrit nicht im warmen Norden? So hatte sie es zumindest mal gehört.
„Du wirst doch nicht … wann willst du denn damit aufhören? Die Leute fangen noch an zu glauben, du respektierst die Elementare nicht.“ Mit ermahnendem Blick sah Snorri zu Liz rüber.
„Dann liegen die falsch, ist eben so. Ich respektiere die da oben.“ Kurz löste sie ihre Arme voneinander, verschränkte sie aber sogleich wieder, was Falk dazu veranlasste, Liz scheel von der Seite anzuschauen.
Snorri seufzte nur und erhob sich. „Darf ich?“, fragte er Wallace, der sogleich Platz machte, um Snorri gehen zu lassen. „Ich werde mir mal das Anschlagbrett genauer ansehen und gegebenenfalls die Leute dazu befragen.“
„Ich komme mit!“, schob Liz Salvia fast schon von der Bank, doch hielt Snorri sie zurück. „Bleib ruhig hier, ich mache das schon.“
„Allerdings …“, schaute Wallace zu Salvia, „du könntest ebenfalls nachsehen, was dort steht. Vier Augen lesen schneller, als zwei. Ich tausche mich derweil noch mit den beiden hier aus.“
Und damit stand Salvia, ehe sie sich versah, schweigend vorm Anschlagbrett. Snorri, der neben ihr stand, ging nach und nach die Papiere und Pergamente durch, die man ins Holz genagelt hatte. Er schien schnell zu sein. Salvia dagegen verengte nur die Augen, als sie versuchte, zu entziffern, was vor ihr geschrieben stand. Zwar fand sie die Idee, Informationen in Form von Worten materiell festzuhalten, durch und durch faszinierend, doch konnte sie mit Geschriebenem letztlich nicht allzu viel anfangen. Ihre Mutter Beatrix hatte damals zwar immer mal versucht, es ihr beizubringen, doch konnte Salvia beim besten Willen, trotz der Mühe, die sie sich gab, keinen ganzen Satz lesen, ohne auf halber Strecke zu verwirren, da ihre Augen den Buchstaben oder Worten nicht so recht in ihrer Chronologie zu folgen vermochten. Sie schaffte höchstens einen halben Absatz einer durchschnittlichen Pergamentseite, ehe ihr Fokus in andere Zeilen abrutschte.
Inzwischen hörte sie, wie Snorri in ein Gespräch mit ein paar Bewohnern des Dorfes vertieft war und sie zu einer Gruppe Banditen befragte, die offenbar die Maisfelder ums Dorf herum unsicher machten und sich an den ohnehin schon raren, reifen Pflanzen vergriffen.
Plötzlich brüllte einer von ihnen los: „Bist du etwa ein Späher von ihnen?!“
Und ehe man sich versah, landete die Faust eines angetrunkenen Dörflers gegen Snorris Kiefer und er stürzte rumpelnd zu Boden.