Schabend stürzten ein paar Stühle um, als Snorri ächzend auf die Holzdielen fiel. Langsam setzte er sich auf und blickte dem Mann, der ihn gerade einen linken Haken hat schmecken lassen, mit brennendem Zorn in den Augen an. Der Angetrunkene deutete ihm mit der Hand, zu ihm zu kommen und so erhob sich Snorri zu voller Größe und marschierte mit strammen Schritten auf den Dörfler zu, der schief grinsend zu ihm aufblickte.
Salvia sah, dass Wallace dazwischen schreiten wollte, doch zischte Snorri nur: „Wag es nicht!“ Eine leichte Hitzewelle wurde von ihm ausgestoßen und ließ die Kerzen auf den umstehenden Tischen wild aufflackern. Der Ältere hielt sich daraufhin zurück.
„Sehe ich aus, wie ein Späher irgendwelcher Feldräuber?“, fragte Snorri seinen Angreifer in bedrohlichem Unterton. Die Luft um ihm herum begann, zu flimmern und die Temperatur im ganzen Raum stieg merklich an. Wie sie hörte, machte nicht nur Salvia sich Sorgen, dass die leicht brennbaren Stoffe auf den Tischen und an den Wänden jederzeit Feuer fangen konnten. Trotzdem wirkten die anderen bezüglich des Kampfes weniger besorgt, als interessiert. Vermutlich bildete jede Kneipenschlägerei einen sehr willkommenen Ausbruch aus dem arbeitsbeladenen Alltag. Einen Ausbruch, den man lieber beobachtete, als ihn zu verhindern.
Der Mann musterte Snorri von oben bis unten. „Siehs‘ aus, wie‘n Schnapphahn, der einen unvorsichtigen Kaufmann um seinen Anzug erleichtert und dabei ordentlich eins auffe Fresse gekriecht hat.“ Er deutete provokant auf seinen Kiefer und keine Sekunde später bekam er selbst eine Faust ins Gesicht, was die umstehenden Leute zum Teil mit verzogenem Gesicht zurückweichen und raunen ließ. Der Angetrunkene hielt sich die Nase und ein paar rote Tropfen sickerten zwischen seinen Fingern hindurch.
„Und du siehst aus, als würde deine Regelblutung an der falschen Stelle stattfinden, junge Dame.“
Es lachte kurz eine Person auf, doch wurde diese wieder ganz still und senkte den Blick, als die anderen Zuschauer sie mahnend ansahen.
„Bastard“, spuckte der Angetrunkene hervor und löste seine Hand von der blutigen Nase, um nach dem Kragen von Snorris Anzug zu greifen. Kalt starrte dieser sein Gegenüber an. Der Blick wurde erwidert. Dann schloss der angetrunkene Mann die Augen, holte tief Luft und gab Snorri eine Kopfnuss, ehe er den Kragen wieder losließ. Snorri taumelte ein paar Schritte nach hinten, der Raum wurde kälter. Zitternd hielt er sich den Kopf und man sah ihm an, dass er Probleme hatte, sein Gegenüber klar zu erkennen. Er torkelte ein paar Schritte nach vorne und griff mit einem rechten Haken an. Der Angetrunkene rieb sich die Stirn und ging einen Schritt zur Seite, um im Folgenden zu beobachten, wie Snorri nach vorne stolperte und fiel. Regungslos blieb er liegen.
Salvia schaute sich um, doch niemand handelte. Manche schienen ratlos, andere nahmen die Situation wohl noch nicht so recht wahr. Einzelne wirkten sogar apathisch und waren laut Aussagen der Ansicht, dass es offensichtlich war, dass der Fremde keine Chance hatte, so schmächtig, wie er im Vergleich zu seinem Konkurrenten war.
Der Schläger konnte offensichtlich nicht begreifen, was passiert war. Somit lief Salvia als einzige zu Snorri und hockte sich neben ihm hin, um ihn anzutippen.
„Snorri?“ Plötzlich sprang der zu Boden Gefallene auf, wischte sich das Blut aus dem Gesicht und wollte sich auf den Angetrunkenen stürzen. Mit jedem seiner Schritte flimmerte die Luft um ihn herum immer mehr. Bevor er ihn allerdings erreichen konnte, packte Wallace Snorri am Arm und zog ihn mit sich nach draußen. Knallend schloss sich die Eingangstür.
Der Angetrunkene strich sich schmunzelnd über seine rötlichen Fingerknöchel und wollte hinterhergehen, doch schritten Mélina und Arne ein und stellten sich ihm in den Weg. Er schnalzte genervt mit der Zunge, beließ es aber dabei und wandte sich ab, um sich weiter zu betrinken und sich von seinen Freunden feiern zu lassen.
Salvia huschte nun ebenfalls nach draußen, da sie sich zunehmend unwillkommen in diesem Gebäude vorkam und nicht riskieren wollte, ebenfalls in eine Rangelei zu geraten. Leise quietschend öffnete sie die Holztür und folgte dem Geräusch der Schritte jener, die gerade vor ihr das Gebäude verlassen hatten. Offenbar wollten die zwei Herren nicht direkt vor der Tür diskutieren und so ging Salvia ihnen nach und blieb schließlich an der Ecke einer Hauswand stehen, um zu lauschen. Sie war sich selbst nicht ganz sicher, wieso sie dies tat. Vermutlich wollte sie einfach wissen, in welcher Verbindung Snorri und Wallace, der ihn mit sich an die frische Luft gezerrt hatte, standen. Immerhin schienen weder Snorri, noch Liz oder Falk Rebellium anzugehören – und dennoch herrschte Zusammenarbeit zwischen ihnen und Rebellium. Sie wollte den Grund dafür wissen, auch, um eine Vorstellung dafür zu entwickeln, wie fest oder locker diese Zusammenarbeit gesponnen war. Vorsichtig lugte sie an die Hauswand vorbei und sah die Silhouetten beider Männer vor sich.
„Reiß dich zusammen“, zischte Wallace Snorri zu. Er stieß ihn von sich und ließ dabei seinen Arm los. „Ich habe gesehen, dass du deine Magie einsetzen wolltest – in einem Holzhaus!“
Salvia brauchte eine Weile, bis ihre Augen sich ans Mondlicht gewöhnt hatten, doch als sie es taten, erkannte sie das wütende Gesicht von Wallace. Er kam ihr wie ein anderer Mensch vor.
„Dieser Bastard hätte es nicht anders verdient“, knurrte er.
„Du glaubst doch nicht etwa, dass das Gasthaus ihm gehört, oder? Außerdem“, fuhr Wallace sich über den Nacken und entspannte seine Gesichtszüge wieder etwas, „Du hast gehört, wie es den Leuten hier geht. Ihnen wird der Zugang zu ihrer Hauptnahrungsquelle verwehrt. Von Banditen. Denkst du nicht, dass man da misstrauisch werden kann?“
„Misstrauisch ja, aber man schlägt nicht einfach Leute deswegen.“
„Er war angetrunken …“
„Was keine Entschuldigung ist.“
„Ich wollte es nur anmerken“, verschränkte Wallace die Arme.
Snorri tippte sich leicht gegen den Kiefer und verzog dann das Gesicht. „Wie dem auch sei.“ Er wandte sich ab und ging in die Richtung, in der Salvia sich verborgen hatte. Sie bereute sogleich, so neugierig gewesen zu sein, wollte schnell von dort weg und wieder ganz unauffällig ins Gebäude gehen, bevor er sie erblicken würde. Doch zu ihrem Missmut waren die Schritte von Snorri zu schnell, um rechtzeitig und leise von ihm wegzukommen. Sie wurde zunehmend nervös. Was würde passieren, wenn er sie entdeckte?
„Was machst du hier?“, hörte sie bereits nach kurzer Zeit und fuhr herum. Er war wirklich schnell.
„I-ich wollte … ansehen … deine Wunde“, stammelte sie nervös vor sich hin.
„Kannst du das überhaupt?“
„… Was?“ Er ging langsamen Schrittes weiter auf sie zu und sie wich unwillkürlich zurück. Sah er vorhin auch schon so bedrohlich aus? Nein, sie musste sich zusammenreißen …
„Na, Erste Hilfe und sowas.“
Sie nickte hektisch. Wenigstens hatte sie in all ihrer Nervosität nicht vergessen, dass ihr Vater zu Lebzeiten Arzt war und sie einiges von ihm gelernt hatte.
Einen Moment lang schaute Snorri skeptisch, nickte dann aber ebenfalls. „Gut, dann zeig mal. In unserer Kutsche dürfte noch …“ Er schaute an Salvia vorbei und verengte die Augen, ehe er an ihr vorbeitrat. Verdutzt drehte Salvia sich zu ihm um und sah, wie er auf Liz und Falk zuging. Der Junge trug einen ledernen Koffer mit sich und hob eine Hand zum Gruß, während das Mädchen eine Laterne mit sich führte.
„Lass mal was wegen deines Kiefers machen, so läuft doch wohl kaum wer freiwillig rum“, sagte Liz zum Verletzten. Dann fiel ihr Blick grinsend auf Salvia: „Hab vorhin gesehen, wie du an der Wand standst und geguckt hast. War’s Gespräch interessant?“
Salvias Blick wandte sich kommentarlos zur Seite. Irgendetwas hatte dieses Mädchen an sich, was Salvia nicht gefiel.
„Oh, sind wir jetzt schon sprachlos?“
„Liz“, kam es leicht genervt von Falk, woraufhin sie nur die Schultern zuckte.
„Sie meint, sich in Erster Hilfe auszukennen, also gib ihr eine Chance, das zu beweisen“, nahm der Mann den Medizinkoffer von Falk entgegen und reichte ihn an Salvia weiter. Sie machten sich auf den Weg zu einer Sitzbank, die an einer der Gaststättenaußenfassaden aufgestellt war, und setzten sich.
Mit leicht zittrigen Händen stellte Salvia den Koffer neben sich ab und öffnete ihn. Sie fühlte sich sichtlich unwohl, doch musste sie sich zusammenreißen.
Einmal tief durchgeatmet, schaute sie nach, was darin enthalten war. Dort waren ein paar Stofftaschentücher, ein aus Eisen gefertigtes Zangengerät, Leinentücher, eine Schere und eine Phiole mit durchsichtiger Flüssigkeit. Irgendwas stand dort geschrieben. Mit zusammengekniffenen Augen las sie: ‚Des..fe…‘
… Es musste Desinfektionsmittel sein. Salvia öffnete das Fläschchen und roch daran. Kein Alkoholgeruch. Das Mittel kam wahrscheinlich aus Latis, denn nur von denen wusste Salvia, dass sie so etwas herstellen konnten. Sie schüttelte leicht den Kopf, um nicht zu sehr an ihren Vater zu denken. Sie legte das Fläschchen vorerst beiseite und untersuchte Snorris Gesicht genauer. Eine Platzwunde an der Stirn, der Kiefer rötlich und am Schwellen. Zuerst wollte sie sich der Stirn annehmen. Sie kniff die Augen zusammen.
„Licht“, sagte sie und man hielt die Laterne näher an seine Stirn. Tatsächlich, dort befand sich ein Holzsplitter, der sich wohl mit dem Sturz dort verfangen haben durfte. Sie entfernte ihn mithilfe der Zange. Vorsichtig nahm sie eines der Taschentücher und tränkte es ein wenig im Desinfektionsmittel, um anschließend damit die Wunde zu tupfen. Snorri verzog dabei das Gesicht, sagte aber nichts. Dies getan nahm sie ein Stück vom Leinentuch und band es ihm ein paarmal um die Stirn, um die Wunde zu isolieren. Dann wandte sie sich der anderen Verletzung zu.
„Mund öffnen und Zähne zeigen“, forderte sie konzentriert.
Snorri öffnete überrascht seinen Mund und sie sah, dass einzelne Zähne leicht schief waren. Daher wandte sie sich Liz und Falk zu, die das Prozedere stets verfolgt hatten.
Sie deutete auf die betroffenen Zähne und fragte: „War das vorher auch schon so?“
„Hm?“ Liz kam näher, um die Zahnreihen zu betrachten. „Sieht aus, wie immer.“
Falk nickte bestätigend, als er es sich selbst anschaute.
Salvia deutete dem Patienten, dass er den Mund wieder schließen konnte und tastete vorsichtig den verletzten Kiefer ab. Sie war sichtlich erleichtert, als sich keine Abnormalitäten im Knochenverlauf ermitteln ließen. Nur Snorri verzog beim Tasten schmerzlich sein Gesicht.
„Er ist nicht gebrochen. Einfach nur kühlen, wenn es möglich ist.“
Damit war ihre Arbeit erledigt. Sie säuberte die Werkzeuge und verstaute sie zusammen mit den Tüchern wieder im Koffer. Dann schloss sie diesen und überreichte ihn Snorri.
Er bedankte sich kurz und stand ebenso wie Salvia auf.
Liz und Falk standen immer noch neben ihnen. Das Mädchen sagte grinsend: „Bist ja fast wie Dog. Der ist auch immer wie ausgewechselt, wenn es um seine Arbeit geht.“
Darauf erwiderte Salvia nichts, schaute das Mädchen dafür nur perplex an. War sie anders? Eigentlich würde sie eher sagen, dass sie in dem Moment mehr sie selbst war. Nicht so, wie vorhin. Sie hätte sich wegen des Gestotters immer noch gerne selbst geohrfeigt. Doch nun … Sie musterte die drei Personen vor sich und allmählich kehrten ihre Unruhe und Angespanntheit wieder zurück. Sie wollte nicht unter Menschen sein. Sie wollte es nicht mehr.
„Ich gehe dann mal“, sagte Salvia und entfernte sich von den anderen, weg vom Gasthaus.
„Komm nachher mal zu uns an den Tisch, bis dahin sollten wir einen Platz für die Nacht haben“, rief das Mädchen ihr noch hinterher. Dann war Salvia an einigen Häusern vorbeigegangen und aus deren Blickfeldern verschwunden.
Sie wanderte durch das sternenbeleuchtete Dorf und wollte den Kopf freikriegen. Das Rauschen der Maisfelder, welche die Ortschaft umrahmten, nahm ihr mit der Zeit die Anspannung. Wenn auch nicht gänzlich.
Weit und breit war niemand zu sehen. Die Fenster der Häuser waren mit Holzklappen verschlossen und durch die Schlitze der Holzbalken schien kein Licht. So wanderte Salvia durch das ruhende Dorf.
„Du bist wirklich anders geworden“, erklang Victricias Stimme.
Salvias Antwort erfolgte leise und vorsichtig: „Das habe ich auch schon gemerkt.“ Ihr Blick wanderte umher, während sie lauschte. Immer noch keine fremden Schritte zu hören und keine Schemen zu sehen.
„Und wir wissen sicherlich beide, seit wann das so ist … meinst du, du schaffst das?“
„Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie lange ich es noch aushalten kann.“
„Meinst du die Zusammenarbeit mit Rebellium?“
„Die gesamte Gesellschaft von Menschen.“ Sie kam der Dorflinde näher, an der die feingemeißelten Elementar-Skulpturen standen. Einen Moment zögerte sie.
„Jedes Mal“, fuhr Salvia fort, „wenn sie mit mir sprechen, fühle ich diesen Druck, diesen Stress, diese Angst. Was stimmt denn nicht mit mir? Bis vor kurzem war‑“ Sie stockte. Es war offensichtlich.
„… Bis vor kurzem lebten sie noch, wolltest du sagen.“
Salvia verstummte und nickte nur leicht. Mit Bauchschmerzen senkte sie den Blick. Was geschehen war, war nicht zurückzudrehen. Wie oft hatte sie ihren Vater diese Worte sagen hören? Wie oft dachte er daran, was im Sommer vor knapp einundzwanzig Jahren passiert war? Mit diesem wehmütigen Blick? Nicht nur ihn, auch ihre Mutter belastete dieses Ereignis bis ans Ende ihrer Tage.
460 Jahre nach Latis-Gründung … in dem Jahr gingen die Leute der Hauptstadt Eldorans los nach Accomo, um die dort lebenden Antecessoris auszurotten. Es war nicht zurückzudrehen. Seine Freunde, seine Familie, alle tot. Nicht zurückzudrehen. Auch von Salvias Mutter – ihre Freunde, ihre Familie. Victricia. Sie alle starben dort. Nicht zurückzudrehen.
Der rote Abend wurde dieser Tag genannt. Der größte Völkermord in der jahrtausendealten Geschichte Eldorans. Auf ewig in den Geschichtsbüchern eingebrannt und bis in die Gegenwart weitergetragen.
Die Jagd war noch nicht zu Ende. Erst, wenn auch der letzte von ihnen einen verstummten Herzschlag hatte, würde man aufhören. Dass man Salvia schon ihre Eltern genommen hatte, reichte nicht. Man strebte auch danach, ihr Leben an Aldebaran zurückzugeben und ihre Seele dem Todes-Elementar Arktur zu überlassen, sobald man erkannte, dass Salvia ein Rotauge war. Deswegen wollte sie sich verstecken, bis ans Ende ihrer Tage.
Aber nun … war sie in diese Rebellion hineingestolpert. Sie konnte es immer noch nicht fassen. Sie sollte beten. Beten, dass es gutging. Beten für die Seelen ihrer verstorbenen Vorfahren. Beten, dass die Jagd auf ihr Volk aufhörte, bevor es zu spät für sie alle war.
Zögernd ging sie auf die Schreine der Elementare zu und blieb direkt vor ihnen stehen. Sie fühlte sich, als würde sich ihr Magen zusammenziehen. Opfergaben brauchte sie. Erst dann konnte sie beten. Also noch nicht. Altair des Feuers und Merak der Dunkelheit – etwas Entzündliches und etwas Dunkles brauchte sie. Ebenso ein Symbol des Lebens und ein Symbol des Todes, da sie auch zu Aldebaran und zu Merak beten wollte. Noch würde sie es wohl nicht beschaffen können. Frustriert schaute sie zum Sternenhimmel hinauf. Von dort aus sollten die Elementare als Sterne hinab auf die Geschehnisse der Welt Vantares blicken und Acht auf ein stetes Gleichgewicht geben …
Plötzlich vernahm sie ein lautes Rascheln, das nicht in den Rhythmus des restlichen Maisfeldes passte. Alarmiert drehte sie sich danach um und sah, wie ein Mann dort heraustrat. Schnell lief Salvia weg vom Fremden und wollte zurück zu den anderen, als plötzlich alles um sie herum schwarz wurde. Sie wurde langsamer und blieb letztlich stehen. Angst kroch ihr durchs Mark. Sollte dies das Ende sein? Sollte sie dasselbe Schicksal ereilen, wie ihre einstigen Verfolger aus Miska, die sie in den Wald getrieben hatten und die am Ende in einer derartigen Dunkelheit ermordet wurden? Ihre Atmung beschleunigte sich, sie spürte das Adrenalin in ihren Adern rauschen. Wie erstarrt versuchte sie, zu lauschen, konnte aber nichts vernehmen.
Salvia war zunächst nicht klar, wie ihr geschah, als sich auf einmal zwei Handflächen auf ihren Mund pressten und sie gegen den Körper einer nicht identifizierbaren Person gedrückt wurde. Mit weit aufgerissenen Augen schaute sie nach oben, konnte im Sternenlicht der sich langsam wieder lichtenden Dunkelheit ein wenig das süffisante Gesicht der Person erkennen. Es war ein ihr fremder Mann mit ungepflegtem Bart und kurzen, zerzausten Haaren. Er zog sie mit sich, während sie versuchte, sich mit Tritten und Schlägen aus seinem Griff zu befreien. Mit der Zeit wurde er immer gereizter und sein Druck auf ihren Mund wurde kurz geringer, als er eine Hand wegnahm, um ihr im nächsten Moment mit dieser ein Messer an die Kehle zu halten.
„Sei nicht so kratzbürstig, sonst mache ich dich einen Kopf kürzer“, flüsterte er mahnend.
Somit blieb ihr nichts anderes übrig, als die Wehr aufzugeben. Sie konnte nur Ausschau halten nach einer Möglichkeit, sich vielleicht irgendwie bei jemandem – irgendjemandem, der hoffentlich ebenfalls dort draußen im Dorf unterwegs war – bemerkbar zu machen. Oder irgendeine Waffe zu finden, irgendetwas brauchte sie …!
Doch schien es hoffnungslos und so baute sich allmählich blanke Panik bei ihr auf. Das konnte doch nicht wahr sein. Nicht hier, nicht jetzt, nicht so! Die beiden kamen der Dorfgrenze immer näher. Fast schon waren sie bei den zerrupften Maisfeldern. Sie musste etwas tun.
Ihr war es egal, sie musste ihre Magie nutzen! Also schloss sie ihre Augen und atmete einmal tief durch …
„Was tust du da?“, erklang es einige Meter von ihnen entfernt. Verwundert öffnete sie wieder ihre grünen Augen. Der Unbekannte Mann drehte sich zur Stimme um und zog Salvia dabei grob mit sich.
„Solltest du nicht schon längst im Bett sein?“, fragte er.
„Nö, wieso? Ich betrachte gerne die Sterne und das kann ich nur zu solchen Zeiten.“
„Dann tu das woanders.“ Sein Griff um das Messer festigte sich und der Druck auf Salvias Hals wurde größer. Was tat Liz da nur?!
Das Mädchen stapfte mit verschränkten Armen an die beiden vorbei zu den Schreinen. Dort hielt sie und kniete sich hin, um eine Pusteblume in Spicas Opferschale zu legen. Dreimal klatschte sie in die Hände, dann summte sie eine Melodie vor sich hin. Derweil versuchte der Mann, sich leise zu entfernen. Jedoch drehte Liz sich bereits nach kurzer Zeit zu ihm und seine Geisel um. Ihr Blick fiel auf Salvia und sie grinste. Ja, sie grinste. Sie … was stimmte nicht mit ihr?
Dann ging alles ganz schnell. Ein Windstoß kam von der Seite, schnell wie ein Schuss, und er traf dem Fremden ins Gesicht. Dieser taumelte zur Seite. Das sollte Salvias Chance sein. Hastig zog sie das Messer von ihrem Hals weg und lief nach vorne, während der Wind sich seinen Weg an Salvia vorbei bahnte und den Mann zu Boden drückte. Es musste ihm wie ein Sturm vorkommen, gegen den er sich zu stemmen hatte. Er hatte keine Chance.
Dann trat Liz an Salvia vorbei, klopfte ihr dabei kurz auf die Schulter, und blieb neben dem Mann stehen, der aufgrund des Drucks allmählich eine menschenförmige Kuhle in der Erde bildete. Ihren Fuß stemmte sie auf den Arm. Durch den herrschenden Wind war es, als würde sie mit voller Kraft zutreten. Vor Schmerzen ließ der Mann das Messer los und somit nahm auch der Wind stetig ab, bis es wieder ruhig wurde und nur noch in der Ferne das Rauschen der Felder zu vernehmen war, kombiniert mit leisem Grillenzirpen. Völlig ruhig hockte Liz sich hin und nahm das Messer, um es dem Mann an die Kehle zu halten. Sie drückte die Klinge so fest an, dass nur sehr wenig Mühe für einen todbringenden Schnitt vonnöten wäre. Mit Panik in den Augen schaute der Mann dem Mädchen entgegen.
„Könntest du die anderen holen, Salvia? Ich halte ihn derweil hier.“
Sie blickte zu ihr auf und grinste in völliger Ruhe. Ihre halblangen Haare waren vom Wind völlig zerzaust.
„… Mit dir stimmt was nicht“, murmelte Salvia nur und lief los, um die anderen zu holen. Dennoch war sie dankbar.
Salvia betrat das inzwischen sehr laute Gasthaus und bahnte sich vorsichtig ihren Weg an einigen Gästen vorbei, bis sie sich am Tisch der anderen befand.
Wallace erblickte sie, schaute noch kurz prüfend an ihr vorbei, stand schließlich auf und deutete Arne, ihn und Salvia zu begleiten. Den anderen deutete er, sitzen zu bleiben.
„Treibt sich also tatsächlich einer von denen hier herum?“, fragte Wallace, als sie draußen waren.
Auf Salvias Bestätigung hin lief Arne zum Wagen, während die beiden sich weiterhin auf den Weg zum Schauplatz machten. Dort angekommen begrüßte Liz sie und als Arne kurz darauf mit einem Seil zu ihnen stieß, packte jeder mit an, den doch sehr kräftigen Entführer zu fesseln. Es dauerte eine Weile, doch als es geschafft war, konnte das Gespräch beginnen.
„Wirklich, vier Leute gegen mich? Ihr seid ja kaum besser, als die Waschlappen aus diesem Dorf“, knurrte der Räuber und ein grimmiges Grinsen zierte sein Gesicht. Für einen Gefangenen hatte er noch eine ziemlich große Klappe, dachte Salvia und schaute sich bei dem Gedanken um. Keine feindliche Verstärkung in Sicht.
Liz schmunzelte. „Wenn Snorri nur dasselbe sagen könnte.“
Verwirrt blickte der Fremde zum Mädchen.
„Er wurde verprügelt“, erzählte sie, „obwohl er keiner von euch ist.“ Grinsend fügte sie an: „Übrigens, diese Verwirrtheit passt zu dir.“
„Ich sollte dich töten, Balg.“
„Du meinst wohl ‚bald‘ und nicht ‚Balg‘. Ich bin kein Kind mehr.“ Sie klang plötzlich überraschend ernst. Kein Funken Süffisanz mehr.
„Genug jetzt“, unterband Wallace das Entfachen einer Diskussion. Dann beugte er sich zum Gefesselten und erklärte streng: „Pass auf, Bursche, noch wissen die Dorfbewohner nicht, dass du hier bist. Aber das können wir ganz schnell ändern. Wir haben gehört, dass ihr manchmal nachts hier umherschleicht und Leute entführt, weswegen man sich zu solchen Zeiten kaum noch allein aus dem Gasthaus traut.“
„Und?“
Mit verschränkten Armen erklärte das Mädchen: „Sie werden dich ganz sicher nicht mit einem warmen Bad begrüßen – auch, wenn du es ganz dringend gebrauchen könntest.“
„Liz, aufhören.“ Dann richtete Wallace seine Worte wieder an den Gefangenen: „Die Leute hier werden dich vielmehr …“ Er schaute erst zu Salvia, dann zu Liz. „Haltet euch lieber die Ohren zu.“ Salvia tat im Gegensatz zu Liz, wie geheißen, wollte sie selbst keine weiteren unangenehmen Bilder im Kopf haben.
Sie beobachtete, wie sich beim Fremden eine gewisse Anspannung bemerkbar machte, die immer mehr zunahm. Mit ein paar abstrakten Handgesten betonte Wallace, was ihn bei den Dörflern erwarten würde, wenn er ihnen nichts verriet. Dabei verzog Arne schon angewidert das Gesicht. Liz dagegen lachte – wohl eher wegen der Reaktionen der anderen.
Bereits nach wenigen Minuten geschah es, dass Wallace lächelte, während er dem nervös gewordenen Gefangenen lauschte. Salvia hörte nun ebenfalls hin.
„… Aus den Feldern habe ich ins Dorf gesehen und dann war da halt dieses einsame, schwache Mädchen.“ Er schaute auf Salvia, die entgeistert den Blick erwiderte. Der meinte doch nicht ernsthaft sie? Sie kniff die Augen zusammen. Der Mann erzählte weiter: „Und da dachte ich mir: Hey, gibt es heute Nacht ein wenig Spaß für mich und die Jungs.“ Warte, was?! Jetzt wurde ihr Blick wütend. Aber sie blieb ruhig und lauschte weiter, dankbar, dass es nicht dazu kommen konnte.
„Wieso macht ihr das überhaupt?“, fragte Arne.
Der Mann schnaufte nur.
„Rede“, forderte nun auch Salvia.
„…“ Er schaute einen Moment gen Nachthimmel, seufzte dann und setzte seine Rede fort.
Er erzählte, dass er und seine Kollegen ursprünglich die großen Maisfelder besetzen wollten, um Lösegeld zu erpressen. Man hätte wegen des Ausmaßes des Anbaus allerdings nie damit gerechnet, dass die Dörfler nicht das nötige Geld hätten, sie zu bezahlen. Und so haben die Erpresser stattdessen beschlossen, die Felder einzunehmen und das Mais zu günstigen Preisen selbst zu verkaufen. Ein paar Leute aus dem Dorf hatten sie entführt, um sie als Arbeitskräfte auf den Feldern zu beschäftigen. Ihr Ziel war, mithilfe des Maises genug Geld zu erhalten, um eines Tages nach Latis ziehen zu können. Das bloße Plündern von Kaufleuten wurde ihnen als kleine Gruppe aufgrund der immer aufwändigeren Sicherheitsbegleitung zu riskant. Deswegen wollten sie es in Torraz versuchen, wo sie nun durchgängig mit mindestens einer Person die Felder besetzten. Sobald irgendwelche Ungereimtheiten auftraten, würde man die Felder allesamt in Brand setzen. Zwar würden die Diebe somit ihre aktuelle Geldquelle verlieren, doch würden gleichzeitig Gerüchte über sie gestreut werden, was ihnen später dienlich sein könnte. Mit dieser Erwähnung deutete der Gefesselte an, dass mit seiner Gefangennahme nur noch wenig Zeit bleibe, bis die gesamte Ernte verloren sei und das Dorf in einem Kessel aus brennenden Feldern gefangen wäre – sofern man ihn nicht schleunigst befreien würde.
„Was macht ihr jetzt?“, fragte der Feldräuber mit einem Hauch Hoffnung in der Stimme.
„Jetzt bringen wir dich zu den Dorfbewohnern und du kannst ihnen dasselbe erzählen.“
Sein Atem stockte. „Aber … bitte, bringt mich nicht zu denen, ich habe doch bereits alles erzählt! Sie werden mich umbringen“, sagte er mit brechender Stimme.
„Du glaubst doch nicht wirklich, dass die das mit dir anstellen, oder?“ Wallaces Blick wandelte sich zu einem verschmitzten Lächeln. Er hatte also geblufft. Dennoch wurde sein Blick schnell wieder ernst. „Dass ihr aber die Felder so arg bedroht, ist ein Problem.“ Er schaute sich in der Runde um. „Ich werde zusammen mit Arne den Verbrecher bei den Dörflern abliefern und Mélina holen, sodass sie die Felder versiegeln kann. Liz“, wandte er sich zum Mädchen. „Bitte mach keine Dummheiten. Wartet einfach auf uns. Ein wenig Zeit dürfte uns noch bleiben, ehe sie etwas bemerken.“ Er blickte zum Gefangenen. „Noch hättest du allerdings Zeit, euer Versteck zu nennen, ohne verletzt zu werden. Sobald wir erstmal bei den anderen sind, wird es nicht mehr so einfach. Ich kann nicht versprechen, dass du dann noch heil dort rauskommen wirst, jetzt wo ich weiß, wie sehr ihr diese Leute bedroht.“
Der Gefesselte schaute ihn mit verkrampft-gleichgültigem Blick an und spuckte ihm vor die Füße. „Macht sowieso keinen Unterschied mehr.“ Er grinste. „Jetzt würde ich gerne das Lodern der Felder betrachten.“ Mit diesen Worten zerrte man ihn mit sich zum Gasthaus.
„Ihr haltet Stellung“, rief man den Mädchen noch zu.