In einem kleinen Wald nahe eines langen Gebirges hauste seit einiger Zeit ein Klan Kämpflinge. Mit ihrem abschreckenden Auftreten hatten sie längst jegliches Kleintier aus dem Bezirk vertrieben, und wagte es eines, dort auszuharren, so galt es unter den Kämpflingen, es bis auf Leben und Tod zu jagen. So kamen tags zwanzig Kämpflinge aus dem Bau herangenaht und stoben durch angrenzende Haine oder Felder, dort heimisches Ungetüm zu erlegen. Da sammelte sich dann manches Mal ein ganzes Gesinde Fellklöper zusammen, das es mit dem Pfund Kämpflinge aufzunehmen suchte. Doch gegen diese mächtigen, dunklen Geschöpfe mit ihren dicken Hörnern konnte gar ein Riesenklöper nie gewinnen.
Klanhaupt Fargon rief nach den Gospen, den Kämpflingwelpen; sie krochen heran, allesamt in der Unterwürfigkeitshaltung. Fargon knurrte Respekt einflößend. Ein Gospen jaulte auf, woraufhin ein harter Hieb in den Nacken folgte; dies genügte, ihn verstummen zu lassen. Der Häuptling stolzierte erhobenen Kopfes an der Reihe Gospen vorbei, hielt inne, befahl mithilfe eines Jaulens dem Gospen vor ihm, sich vor Unterwürfigkeit das Fell auszubeißen. Der Gospen verharrte in seiner Position, war aber nicht dazu bereit. Was musste Fargon die Jungtiere auch ständig trietzen, als wäre er ihr Gott?
Fargon fletschte die Zähne, knurrte. Nichts regte sich. Das Klanhaupt schmetterte seine Klaue ins Bauchfell des Gospen. Jener galt fortan als verstoßen. Am Ende des Waldes abgesetzt musste der Gospen sehen, wo er blieb. Die Fellklöper würden ihn zwar nicht verspeisen, doch auch so war der Gospenjunge Nachtsang seinem Schicksal in der unbarmherzig kalten Restwelt überlassen, mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, zu erfrieren. Zu jung war er noch, um gelernt zu haben, wie man Schwimmer fing, Klöper zu Dienern abrichtete oder gar Waldwuchs im hohen Schnee aufspürte. Ein Schneefall erschütterte ihn. Mit Mühen erklomm das kleine Geschöpf eine Zeder, konnte die Grautitanen, eine lange Gebirgskette neben dem Osthain, erspähen, und hinter ihnen ein weites Wasserloch. Dort würde Nachtsang schlafen müssen, im Schoße des Winters hoffend, nicht zu erfrieren. Er rutschte vom Baum herunter und taumelte durch den hohen Schnee. Sein nasses Fell schlackerte seicht im Winde.
Nachtsang passierte rasch die Grautitanen durch eine hohe Felsspalte und erreichte bald das Wasserloch. Es war nicht, wie er von Weitem angenommen hatte, völlig zugefroren, beherbergte sogar einige Schwimmer und Nasswuchs. Ein paar Äste und Blätter genügten, um Nachtsang einen Unterschlupf zu bieten. Er schnupperte; der bestechende Duft von Plausbeeren erreichte ihn aus näherer Entfernung. Der Strauch wuchs dicht am Ufer des Gewässers, trug einige, reife Früchte. Nachtsang stutzte, als er ihn entdeckte. Plausbeeren waren Gewächse der mittleren Mondzyklen*, also wuchsen sie in Warm- und Heißzeiten. Nun war mit dem ersten Vollmond des Jahres jedoch noch Kaltzeit und Kleinwuchs wie Plausbeeren oder Kreuzfrüchte fiel in den Kälteschlaf. Konnte das eine Illusion sein? Träumte Nachtsang, weil es ihn in Eis und Kälte um den Verstand gebracht hatte? Nachtsang wagte es, seinen Kopf hervorzustrecken, da ging es ihm wie durch Mark und Bein, als wäre ein riesiger, unbegreiflich kalter Eisklumpen in sein Herz geschossen worden. Nachtsang wälzte sich schmerzerfüllt im nassen Frost. Die Kälte durchzog nun seinen ganzen Körper, kläglich erschlafften Nachtsangs Glieder. Lang folgte nichts, pfeifend tat Nachtsang ein paar Atemzüge, winselte. Es wurde dunkel. Großer Druck umgab Nachtsang und ein so ohrenbetäubender Lärm, doch zugleich war es unglaublich still um ihn herum. Er konnte sich nicht mehr bewegen, nichts mehr fühlen, nichts und niemanden wahrnehmen. Sollte ihn der Tod also schon vereinnahmt haben?Ohne es zu wissen litt Nachtsang seit schon fünf Sonnenzyklen* unter einem Fieber. Eine Fremde hatte ihn zunächst für einen Rotklamm, Erzfeind der Schwarzklämme, gehalten und mit dem Eisfluch getroffen. Sie selbst gehörte zu den Schwarzklämmen, einer Gattung der Klammfüchse, welche seit einer alten Fehde bis auf Leben und Tod gegen die Rotklämme kämpften. So glich der kleine Nachtsang mit seinem recht rötlichen Gospenfell stark einem Rotklamm, gerade, da seine zwei Hörner noch nicht ganz aus der Stirn herausragten. Der Schwarzklamm Hangdorn musterte das kranke Tier. Es schlug die blitzgelben Augen auf, brauchte etwas, um ganz zur Besinnung zu kommen, wich vor Hangdorn zurück, was ihn einige Kraft kostete.
"Ruhig, leg dich wieder hin, Kämpfling", riet Hangdorn ihrem Schützling. "Ich will dir nichts Böses, es wird wieder gut, wenn du nur liegen bleibst. Ich bin Hangdorn, ein Schwarzklamm. Wie ist dein Name?" Einige Zeit verschlug es dem Kleinen die Sprache. "Du bist in Sicherheit, wirklich. Vertrau mir."
"Man nennt mich Nachtsang... Wo bin ich?" Er flüsterte."In meiner Höhle. Keine Sorge, wir sind allein hier. Ich hielt dich unten am See für einen Rotklamm."
"Du hast mich deshalb angegriffen?"
"Ein Eisfluch. Tut mir wirklich leid, Kleiner. Das wird schon. Was hattest du da unten überhaupt zu suchen? Wo ist dein Klan?"
"...Sie haben mich verbannt."
"Verstehe. Du musst wissen, ich bin auch eine Verstoßene. Man erwischte mich vor einigen Mondzyklen, als ich am Mitternachtsfest das Jagdverbot missachtet hatte." Nachtsang schaute Hangdorn fragend an. "Das Fest ist da, um für ein paar Tage der Kältezeit die Fuchsmagie für ein neues Jahr an die jungen Welpen weiterzugeben. Da eröffnen die Rudelältesten ein großes Feuer in toten Wäldern und stimmen ein Mondgeheul an. Die ausgebrannte Fläche nutzen wir als Bannkreis und damit wird eine neue Generation Schwarzklammfüchse zu Magiern."
"Du sagtest, das Fest findet in der Kaltzeit statt? Ist das nicht dann bald?"
"Ja, Nachtsang. Dieses Abendrot beginnt mein erstes Fest allein."Nachtsang rappelte sich auf. "Ich bin doch hier."
"Ja, das bist du...", murmelte Hangdorn und strich über Nachtsangs Fell. Jener fühlte sich so geborgen wie noch nie; beide blickten aus der Höhle hinaus. Draußen dämmerte es.
"Es beginnt."
Pfeifend drehte der Wind im Höhleneingang nahe des Wasserlochs seine Runden. Draußen blökten die verängstigten Fellklöper und die Sonne ging unter. Die Stille des Abends versank im Züngeln der Flammen, die schon bald das Ufer erreichten. Ein helles Farbenspiel spiegelte sich im Wasser wider und bot einen einmaligen Anblick.
*1 Mondzyklus: 1 Monat; 1 Sonnenzyklus: 1 Tag