„Wir sollten was unternehmen“, rief die junge Frau energisch.
„Und was soll das sein, Mikene?“, kam die mürrische Antwort.
„Wir brauchen Hilfe!“, erklärte sie mit fester Stimme. „Und wir müssen sie uns holen.“
Der Alte schüttelte ablehnend den Kopf. „Wen willst du fragen? Keiner wird uns helfen.“
„Wir können doch nicht tatenlos zusehen, wie die ganze Welt zerstört wird!“, widersprach sie.
„Mikene, bitte!“ Vaar, ihr alter Freund aus Kindertagen, der bisher nur abseits gestanden und zugehört hatte, trat nun auf die beiden zu. „Vielleicht beruhigt sich die ganze Situation wieder. Wir sollten einfach abwarten.“
Sie widerstand dem Impuls, wie ein kleines Kind wütend auf den Boden zu stampfen. Elende Feiglinge waren sie. Allesamt.
Wie damals schon.
„Wir sollen uns also ängstlich verkriechen, während die Bedrohung um uns herum immer größer wird? In der Hoffnung, dass sie einfach so verschwindet, wie sie auch gekommen ist?“
Vaar zuckte ratlos mit den Schultern. „Hast du einen besseren Vorschlag?“
Er beugte sich leicht vor und strich ihr eine Strähne, die ihr ins Gesicht hing, hinter das Ohr. „Vielleicht brauchen wir einfach nur Geduld.“
Früher hätte sie sich damit wohl zufriedengegeben.
Aber nicht mehr seit diesem Tag.
Dieser Tag vor nunmehr fast sechs Jahren, an dem sie ihn fortgebracht hatten. Abgeführt wie einen räudigen Hund. Jad, der nie der kleinsten Fliege etwas zuleide getan hatte.
Seitdem hatte sie sich geschworen, sich niemals mehr so hilflos fühlen zu wollen. Es durfte nicht mehr so weit kommen, dass sie wehrlos war.
Wochenlang hatte sie geweint. Nachdem er fort war.
Nachts. Heimlich. Möglichst geräuschlos unter ihrer großen Bettdecke.
Den Dorfbewohner gegenüber hatte sie versucht, stark zu wirken. Sie verdienten ihre Tränen nicht. Schließlich hatten sie ihn elendig im Stich gelassen.
Sie wusste nicht, wann ihre Tränen weniger geworden waren und schließlich ganz versiegten. Was auch daran liegen mochte, dass sie sich schon damals vorstellte, er würde noch leben.
So fest, dass sie sich bisweilen einbildete, ihn zu spüren. Nur sehr schwach, kaum viel mehr als eine Erinnerung aus ferner Zeit, die sie beruhigte und dafür sorgte, dass sie weiterleben konnte. Irgendwie.
Was alles verrückt war und sie auch erschreckte. Hatte dies doch zu sehr Ähnlichkeit mit den Märchengeschichten, die einst ihre Großmutter an kalten Wintertagen zu erzählen pflegte. Über Verstorbene, die immer noch über ihre Lieben wachten und mit ihren in Verbindung standen.
Nein! Sie wollte das nicht glauben! Denn es würde bedeuten, dass der junge Mann tatsächlich in irgendwelchen Verliesen des dunklen Lords umgekommen war.
Und damit war sie wieder an diesem Punkt. Dieser Einfall, den sie seit zwei Wochen mit sich rumtrug.
Eine Idee, die sie im ersten Moment als absolut lächerlich abgetan und gleich wieder verdrängt hatte.
Aber je mehr Zeit verging, desto akzeptabler erschien ihr diese Lösung. Was auch daran liegen mochte, dass ihr einfach keine bessere einfiel.
So schluckte sie deutlich, bevor sie Vaar fest in die Augen blickte: „Würdest du mich begleiten?“
„Wohin willst du?“, wollte er überrumpelt wissen. Dass sie schnell nachgeben würde, damit hatte er nicht gerechnet, schließlich kannte er sie nur allzu gut. Aber dass sie sich bereits einen Plan ausgedacht hatte, das war überraschend.
„Zu seiner Residenz. Die des schwarzen Lords!“
Fassungslos starrte ihr Gegenüber sie an. „Wohin willst du?“
„Du hast mich schon ganz richtig verstanden. Zu ihm!“
Nicht nur ihr alter Freund konnte kaum glauben, was er hörte. Auch der alte Mann schien verblüfft, und so starrten vier Augenpaare verwirrt auf die junge Frau.
Es war Vaar, der schließlich das Schweigen brach. „Du überrascht mich immer wieder, Mik. Dass außergerechnet du diesen Vorschlag machst.“
„Verrückt, nicht wahr?“ Sie lachte bitter. „Aber vielleicht naheliegend. Schließlich hat er mir alles genommen, was mir einst etwas bedeutete.“
„Das ist nicht gut“, widersprach nun der Alte. „Herr Dark macht nichts ohne Gegenleistung! Er wird uns nicht helfen! Und du bringst dich unnötig in Gefahr, wenn du zu ihm reisen willst.“
„Was habe ich zu verlieren?“, entgegnete sie. „Er kann mir nichts mehr nehmen, was er nicht schon an sich gerissen hat.“
„Dein Leben, Mikene. Was ist damit?!“
„Das hat er sich schon genommen“, erklärte sie mit erschreckend tonloser Stimme. „Damals, als sie mir Jad wegnahmen. Was soll mir also noch passieren?“