Akte 1: Ein geistreicher Dieb
Wache Crossbrick-Central, 10:32 Uhr
„Ich dachte, du trinkst deinen Kaffee nicht mehr schwarz? Weil dich das doch depressiv macht.“
„Als ich mir Milch nehmen wollte, ist sie aus dem Kühlschrank gekrabbelt, und Matilda kann erst in ihrer Mittagspause einkaufen.“ Gregori Shade hebt den Blick von der seelenlosen Flüssigkeit in seiner Kaffeetasse.
Die Tür zum Büro fällt hinter Merkury wieder ins Schloss und sie lässt einen Stapel Papiere auf seinen Schreibtisch fallen. Eine Staubwolke wallt auf und Greg hustet.
„Der Chef will das bis morgen durchgesehen haben. Wir sollen alles aussortieren, was verjährt ist.“
Greg hustet immer noch. Seine Partnerin betrachtet ihn besorgt, obwohl ihre ungewöhnliche Fürsorge wohl zu einem großen Teil der Furcht entspringt, allein auf der Arbeit sitzen zu bleiben. „Soll ich dir was zu trinken holen, Shade?“
„Geht schon!“, keucht Greg schließlich. „Sind das nicht die Akten aus dem Dringend-Ordner?“
„Nee, die sind aus dem Wirklich dringend!-Ordner.“[1]
Greg wischt den Staub zur Seite und beugt sich über die Akten. Er überfliegt ein paar der Delikte und schiebt die älteren Fälle zur Seite.
Merkury lässt sich in ihren quietschenden Drehstuhl auf der anderen Seite des Doppelschreibtisches fallen und nimmt die aussortierten Anzeigen entgegen.
„Hast du die Morgennachrichten gehört?“, fragt sie, während sie das erste Blatt der Länge nach faltet.
„Nee“, meint Greg. „Hatte keine Zeit.“ Er ist damit beschäftigt gewesen, seine Karva unter der Spüle hervorzulocken.
„Dieser Dieb, der ‚Geist‘, war hier. In Crossbrick.“
Greg sieht von den Unterlagen auf. „Echt?“
„Na, sie wissen natürlich nicht, ob es wirklich derselbe war – immerhin hat ihn niemand gesehen. Aber in Foxtown wurde die Statue von irgendeinem Schauspieler gestohlen. Es war genau wie bei den anderen Diebstählen – alle Wachen ausgeschaltet, alle Kameras zerstört, keine Spuren.“
„Was will er denn mit einer Statue?“, fragt Greg.
„Und was, glaubst du, macht er mit dem Gründerstein aus Teakhood?“, fragt Merkury zurück und wirft den Papierflieger, den sie aus der aussortierten Akte gefaltet hat, mit einer eleganten Bewegung und ohne auch nur hinzusehen in den Mülleimer. „Vielleicht geht es ihm auch weniger um die Beute als darum, sich zu beweisen.“
„Oder ihnen“, wirft Greg ein, der die verbreitete Theorie vertritt, dass es sich um eine gut organisierte Gruppe statt um einen Einzeltäter handelt. „Aber dann ist Crossbrick der letzte Ort, den sie aufsuchen würden. Hier wäre es etwas Besonderes, wenn mal nichts gestohlen wird.“
Merkury zuckt mit den Schultern und macht sich daran, den nächsten Flieger zu falten. „Da hast du auch wieder recht. Sag mal, guckst du dir heute Abend das Spiel an? Auf wen setzt du?“
„Auf die Crossbrick Tumblers!“, antwortet Greg, ohne zu überlegen.
„Schon wieder? Die stehen auf Abstiegskurs.“
„Kein Grund, die Mannschaft zu wechseln.“
„Sentimentaler Idiot“, diagnostiziert Merkury. „Da fühlt man sich fast schlecht, mit dir zu wetten.“
„Das würde voraussetzen, dass du ein Gewissen hast“, kontert Greg mit einem schmallippigen Lächeln. „Außerdem, wenn man am wenigsten damit rechnet, drehen die Tumblers plötzlich richtig auf! Wir stehen schon auf Platz 7.“
Merkury rollt die Augen. „Dass es denen so weit oben auf der Liste nicht schwindelig wird! Man könnte meinen …“
Ein Revolverschuss unterbricht ihre Diskussion jäh.
In Crossbrick sind Schüsse nichts Ungewöhnliches, doch dieser Schuss kommt von innerhalb der Polizeiwache. Die beiden Polizisten hören ein dumpfes Geräusch, als ein schwerer Gegenstand – vielleicht ein Sack mit Schrumpfköpfen oder Kartoffeln? – auf dem Flur umfällt. Dann erklingt der schrille Schrei einer Frau.
„Matilda!“, ruft Merkury und springt auf.
„Warte!“, ruft Greg. „Da draußen könnte jemand mit einer Waffe sein!“
„Was du nicht sagst!“, schnaubt Merkury und stürmt auf den Flur.
Greg hebt hilflos die Arme. „Ich meinte … wollen wir nicht eine Minute abwarten?“ Dann folgt er Merkury.
Auf dem Flur bietet sich ihnen ein schrecklicher Anblick: Gaiman Schlabbernack, Captain der Wache Crossbrick-Central, liegt in einer Blutlache auf dem gefliesten Boden, die sich in alle Richtungen kriechend ausbreitet und kleine Stückchen Gehirn im Flur verteilt. Ein faustgroßer Krater klafft dort, wo sich üblicherweise die Stirn des Insektoiden befindet. Schlabbernacks Facettenaugen starren leer zur Decke, der Smoking ist über dem rundlichen Leib aufgeplatzt, da sich die roten Deckflügel, vielleicht in einer Reaktion auf den Sturz, entfaltet haben.
Neben ihm liegt das Handtuch mit dem Logo seiner Lieblingssauna, das er immer bei sich getragen hat, um sich an heißen Tagen oder nach einem Sprint den Schweiß vom Gesicht zu wischen.
Die Tür der Wache schlägt zu. Greg hebt den Blick und sieht noch den Rücken eines großen, behaarten Individuums, das über die Straße läuft und in einer dunklen Seitengasse verschwindet.
Im Empfangsbereich hat Matilda mit dem Kreischen aufgehört und steht zitternd neben Merkury, beide Frauen sehen dem flüchtenden Schützen bestürzt nach.
„Werwolfmafia“, murmelt Merkury, als Greg zu ihnen tritt.
„Das hat ja früher oder später passieren müssen! Ach, der arme Chef!“ Matilda ringt mit den dürren Armen, und die vielen Ringe um ihre Handgelenke klappern. „Wie schrecklich das doch ist!“ Sie eilt zu dem gefallenen Insektoiden und streicht ihm mit ihren grünen Pflanzenfingern über die Stirn. Greg und Merkury sehen ihr schweigend dabei zu.
„Was sollen wir tun?“, fragt Greg in die Stille hinein.
„Jedenfalls werden wir heute keine Akten mehr sortieren!“, brummt Merkury achselzuckend.
Greg wirft ihr einen strengen Blick zu.
„Zu früh?“, fragt seine Partnerin.
„Zu früh!“, bestätigt der Schattenmann.
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[1] Polizeiarbeit in Crossbrick funktioniert nach dem guten, alten Beamtenprinzip, nach dem alles geschafft ist, wenn es sich nur im richtigen Ordner befindet: Neue Anzeigen kommen in den Zu Erledigen-Ordner. Wenn sich hier ein Haufen von einer gewissen Größe angesammelt hat, kommt ein Polizist und sortiert die ältesten Akten in den Dringend-Ordner. Haben die Papiere dort ihre Zeit abgesessen, leveln sie zu Sehr dringend auf, dann zu Wirklich dringend! und von da aus wandern sie in den Mülleimer, auf dem Verjährt steht. Die Ablage Abgeschlossen wird ungefähr so oft benutzt, wie ein Ork seine Nasennebenhöhlen rasiert.