Schnaufend und ächzend quält Rick Everglade sich die drei Stufen zur Wache hinauf und zwängt sich dann durch die Glastür. Mit pfeifendem Atem und nah dem Ende seiner Kräfte stellt er seinen großen, abgenutzten Lederkoffer ab und ringt nach Luft. Für einen Moment schließt er die Augen und atmet tief durch. Er keucht durch den offenen Mund, schnaubt durch die Nüstern, dann bläht er die Hautsäcke an seinem Hals auf und mit einem lauten G'ULP presst er mindestens zehn Liter Luft durch den Hals und in die Kiemen.
Als er seine Augen blinzelnd auf das Innere der Wache richtet, stellt er fest, dass seine neuen Untergebenen bereits in einer Reihe angetreten sind und ihn befremdet mustern.
„Nun … äh … Hallo, zusammen“, stammelt Everglade, doch er fängt sich schnell wieder. Drei Jahre Praktikum als Rettungsschwimmer für präpubertierende Kobolde zahlen sich eben aus. „Ich bin Rick Everglade, für euch: Captain Everglade. Ich werde den verstorbenen Gaiman Schwabbelnack vertreten, bis Polizeimeister Feelut einen dauerhaften Ersatz gefunden hat.“
Das zierliche, grün-braune Wesen neben dem Empfang hebt eine schmale Hand. „Äh, für wie lange genau, Sir?“
„Das … werden wir sehen“, schnauft Everglade. Erstens, weil er immer noch außer Atem ist, und zweitens, weil er zu seinem großen Ärger nicht weiß, ab wann er diese Höllenstadt wieder verlassen darf. „Für den Anfang … sollten wir uns einander vorstellen!“
Die Dryade am Empfang lächelt und deutet eine Verbeugung an. „Matilda, Sir. Ich bin die Sekretärin.“ Sie sieht auch wie eine Sekretärin aus: Schlank, in einem pinken Kostüm und mit unzähligen Armreifen und Ketten behängt, deren Bronzeton mit ihrer Rindenhaut harmonisiert, während das Pink gut zu ihren hellgrünen, lianenförmigen Haaren passt. Sie ist die einzige hier, die offenbar Wert auf ihr Aussehen legt.
„Ich bin Merkury. Jane Merkury“, sagt die nächste in der Reihe. Sie scheint ein Mensch zu sein, eine kräftige, nicht besonders große Frau mit strengen Augenbrauen und entschlossenem Kinn, die dicken, schwarzen Haare zu einem Zopf geflochten. Uniformen scheinen hier unbekannt zu sein, denn sie trägt ein schwarzes Tanktop, eine militärische Camouflagehose mit breitem Gürtel und schwarze Stahlkappenstiefel. Sie lächelt Everglade an, oder jedenfalls zeigt sie die Zähne. Ricks Rückenschuppen stellen sich unwillkürlich auf.
„Detective Gregori Shade“, stellt sich die letzte traurige Gestalt in der Reihe der traurigen Gestalten vor. Es handelt sich um einen kreideweißen Mann, dürr und hochgewachsen, ohne Augenbrauen oder Wimpern, sodass die Augen nur zwei dunkle Punkte in seinem glatten Gesicht sind. Über seinen schmalen Schultern sind zwei Vektakel zu erkennen, halbmaterielle Greifarme, die widerstandslos durch den schwarzen Anzug von Shade gleiten. Er ist ein Schattenmann, wie er im Buche steht - bis auf seine langen, schwarzen Haare, die um seine dünne Gestalt flattern wie ein Vorhang.
Noch während Everglade die Haare anstarrt, bauschen sie sich plötzlich wie in einem Windzug auf – obwohl die Tür längst hinter Rick ins Schloss gefallen und auch sonst kein Lufthauch zu spüren ist – und bilden für einen Moment einen Kreis hinter dem Schattenmann, der quallenartig in sich zusammenfällt. Rick vermeint sogar, ein leises „G'ulp“ zu hören, ehe die Haare wieder glatt nach unten hängen.
Shade hat Everglades Blick bemerkt. „Oh, und das ist meine Karva. Sie ist harmlos, nur manchmal etwas sarkastisch.“
„Äh, aha, also … nettes … Haustier“, stammelt Everglade. „Sie bekommt aber keinen Lohn ausgezahlt, oder?“
„Oh, nein. Sie ist keine Polizistin.“ Shade lächelt. Es könnte sogar ein warmes Lächeln sein, wenn er kein Schattenmann wäre. „Manchmal fängt sie allerdings die Spinnen, die sich im Büro breitmachen.“
„Keine Polizistin?“ Everglade runzelt die Stirn. „Also eine Zivilistin in der Wache? Hat sie denn die Schweigepflichtserklärung unterzeichnet?“
Shades ratloser Blick huscht zu Merkury. „Äh …“
„Laut §37-j, Absatz 9 ff der Allgemeinen Arbeitsverordnung sind in Betrieben, die der Schweigepflicht unterstehen, Haustiere, Blindenhunde, rachsüchtige Geister, Aufhocker etcetera dazu verpflichtet, sich ebenfalls der Schweigepflicht zu verschreiben.“[2]
„Ich glaube nicht, dass die Karva unter das Gesetz fällt“, grübelt Greg. „Sie kann nicht sprechen und auch nicht schreiben … glaube ich.“
„Ah so“, murmelt Everglade, im Moment nicht gewillt, das Thema weiter zu vertiefen. „Wo ist mein Büro?“
Jane Merkury zeigt auf die Tür am Ende des schmalen Ganges und Everglade drängt sich an den drei neuen Untergebenen vorbei.
Greg sieht der fülligen Gestalt nach, die den Gang hinunter schwabbelte und dann die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt.
„Sonderlich glücklich sah der nicht aus“, brummt Merkury.
„Jetzt lasst den Armen doch erst einmal ankommen!“, schnappt Matilda und tänzelt hinter den Empfangstresen. Schon ist sie nur noch eine Stimme zwischen den zahlreichen Topfpflanzen, die sich auf der Tischplatte verteilen. „Er hat eine lange Anfahrt hinter sich!“
Greg und Merkury tauschen einen Blick, zucken mit den Achseln und schlendern in ihr Büro, der erste Raum im Gang und der einzige Raum außer dem Büro des Captains und der Kaffeeküche, der noch regelmäßig benutzt wird.
„Was hältst du davon?“, fragt Merkury, kaum, dass sie die Tür geschlossen hat.
„Was soll ich wovon halten?“, fragt Greg.
„Von ihm.“ Merkury deutet mit dem Daumen über den Rücken in Richtung Tür. „Von dem fetten Meermenschen.“
Greg zuckt mit den knochigen Schultern. „Er ist gerade erst angekommen!“
„Doch nicht von ihm persönlich.“ Merkury rollt die Augen. „Aber warum schickt uns der Polizeimeister einen revierfremden Captain, statt einen von uns zu befördern? Wir kennen die Stadt besser als der Schwabbel!“
„Sch!“, macht Greg, besorgt, dass Everglade ihre Unterhaltung hören könnte. Die Wände im Revier können in den ungünstigsten Moment sehr dünn werden, eine Nebenwirkung davon, wenn man ein Gebäude von betrunkenen Dschinnen errichten lässt, um Geld zu sparen. „Willst du etwa Captain sein, Merkury?“
„Ich? Natürlich nicht. Ich dachte an dich!“
„Ich. Klar. Ich bin ja auch das Paradebeispiel an Vertrauenswürdigkeit“, schnaubt Greg mit einem bitteren Lächeln.
„Du bist ein guter Polizist.“
„Ich bin ein Schattenmann, Merkury. Niemand vertraut einem Schattenmann. Ich werde wohl kaum Captain von irgendeiner Wache, deswegen hat Polizeimeister Feelut uns einen neuen Captain geschickt.“
Merkury seufzt. „Vermutlich hast du recht, Shade. Obwohl ich es wirklich nicht gutheißen kann, wie du über dich selbst redest. Tja, dann bleibt uns nur, abzuwarten und zu sehen, wie der neue Captain so drauf ist.“
Just, als Merkury das sagt, erklingt Everglades Stimme: „Jupiter! Shadow! Tretet mal kurz an!“
„Vergesslich“, konstatiert Greg. „Eindeutig vergesslich.“
„Was ist das hier?“, fragt Everglade und wedelt den beiden Polizisten mit dem Corpus Delicti unter den Nasen herum, sobald sie sich vor seinem Schreibtisch eingefunden haben.
„Eine Zeitung“, erkennt Greg professionell.
Everglade stöhnt frustriert. „Ich meine die dreimal vermaledeite Schlagzeile!“
Es handelt sich um einen Artikel über den eindrucksvollen Raub der Statue des Lukas Porridge, dem einzigen berühmten Schauspieler, der aus Crossbrick stammt, da seine Mutter zum Zeitpunkt seiner Geburt in der Stadt Urlaub gemacht hat. Sie hat den späteren Frauenschwarm ganz allein in einer rostigen Tonne auf einem Hinterhof zur Welt gebracht. Diese wilde Geschichte ist das Hauptfundament von Porridges Karriere, denn mit Talent kann er nicht aufwarten.
„Und?“, fragt Merkury.
„Und was?!“, fährt Everglade sie an. Mehrere seiner Kinne wackeln aufgebracht. „Warum unternehmt ihr beide nichts dagegen? Habt ihr eine Spur, Verdächtige, habt ihr Zeugen befragt?“
Merkury und Greg tauschen einen ratlosen Blick.
„Ich weiß, dass euer Captain grausam ermordet wurde, aber ist das ein Grund, die Arbeit liegen zu lassen?“, zetert Everglade weiter. „Erzählt mir nicht, dass ihr den Fall ignoriert habt!“
„Nun ja“, sagt Greg vorsichtig. „Wir befinden uns hier in Crossbrick, Sir.“
„Hab ich gefragt, wie die verdammte Stadt heißt?“, braust der Meermensch auf. Seine blaugrüne Haut hat am breiten Hals inzwischen eine beeindruckende Purpurfärbung angenommen. „Ihr seid doch Polizisten, oder nicht? Geht der Sache nach! Fangt diesen Dieb!“
Schwer atmend lässt sich Everglade in den schwarzen Schreibtischstuhl fallen, der mit einem traurigen Quietschen in den Fettrollen vergraben wird. Everglade lockert seinen Kragen mit einer Flossenhand und wedelt Greg und Merkury mit der anderen Hand hinaus.
„Wir machen Polizeiarbeit?“, wispert Merkury, als sie Seite an Seite auf den Gang schleichen.
„Sieht so aus“, entgegnet Greg fröhlich. „Fangen wir den Dieb!“
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[2] Als der Papagei einer korrupten Schwimmbadbesitzerin belastende Ausschnitte von ihren Telefonaten mit einer radikalen Bewegung von Meerjungfrauen wiedergab und sie dadurch überführt wurde, setzten sich plötzlich verschiedene Politiker dafür ein, ein entsprechendes Gesetz zu formulieren, das es illegal macht, zukünftige Aussagen von Papageien (und Ähnlichem) vor Gericht zu verwenden.