Wie jede Nacht erwache ich von Kieselsteinen, die gegen mein Fenster geworfen werden. Blasses Mondlicht blendet mich, als ich mich aufrichte, um mich auf den Weg zur Tür zu machen und meinem nächtlichen Besucher die Tür zu öffnen. Sofort bin ich hellwach; bevor diese besondere Person in einer Vollmondnacht - wie auch heute eine ist - plötzlich wie aus dem Nichts hier aufgetaucht ist, bin ich nie wirklich aus dem Bett gekommen. Diese Welt ist eben wirklich nichts für Langschläfer.
Für einen Moment bleibe ich noch an der Bettkante stehen, um zum Fenster hinaus zu blicken. Das sachte, beinahe knisternde Klopfen der sandigen Steinchen gegen das makellose Glas ist bereits verstummt. Mein Besucher weiß einfach, dass ich seine Ankunft jedes Mal kaum erwarten kann und somit nur unruhig schlafe. Wie in jeder Nacht, wenn alle anderen seelenruhig in ihren Betten liegen, ohne das Gesetz zu brechen oder sich achtlos dem Staat zu widersetzen. Es ist uns strengstens untersagt, Menschen, selbst wenn sie sich in einer Notsituation befinden, zu helfen, da wir uns sonst der Gefahr aussetzen würden, eine Bindung zu der betreffenden Person aufzubauen.
Doch im Moment kümmert mich einzig und allein der im Mondlicht schimmernde Schatten, der dort auf der Straße steht und zu mir hinaufblickt, erwartungsvoll und hoffend, ich würde ihm nicht den Eintritt verwehre, auch wenn sich dies bisher noch nie getan habe. Über dem Kopf dieser dunklen Silhouette thront der Mond am sternenklaren Himmel - der aussieht, als hätte jemand versucht das tiefgründige Blau zu erstechen, um das eintönige Weiß dahinter zu sehen - und lässt mich Mut zu meinem Verbrechen fassen, das ich wieder einmal im Begriff bin zu begehen.
Dass dieser Vollmond derselbe ist, der auch in der allerersten Nacht und vor zweihundert Jahren schon dort gestanden, und gedankenverloren und mit seinen alten Augen auf uns Menschen herabgeblickt hat, beruhigt mich auf seltsame Art und Weise. So kann ich daran glauben, dass sowohl mein Besucher, als auch ich unbeschadet unserer Wege ziehen können, wenn diese Nacht vorbei ist und eine neue folgen wird.
Die kalte Nachtluft umarmt mich mit den Armen eines Toten, als ich mein Fenster endlich öffne, um den Schatten dort draußen eintreten zu lassen. Für einen Moment blicken wir einander einfach nur an, als wäre es das erste Mal, dass wir uns hier treffen, ehe die schemenhafte Gestalt nahezu tonlos auf mich zuschleicht, als wäre sie ein lauernder Wolf, der bereit ist, mich zu reißen.
In den ersten Nächten habe ich noch Angst davor gehabt, dass er mir etwas antun könnte, dass ich mein Fenster verschlossen hielt, um diesen Schatten in der Nacht zu beobachten. Doch letztendlich hat meine Neugierde gesiegt. Außerdem hat dieser Junge damals so hungrig und verloren im Mondlicht ausgesehen, dass ich ihn nicht im Stich lassen wollte, wie er da so um die Mülltonnen strich und vermutlich nach etwas Essbarem gesucht hat.
So habe ich damals leise nach ihm gerufen, doch selbst dieses atemlose Flüstern klang in der gespenstischen Stille der Nacht, als würde ich mir die Seele aus dem Leibe schreien. So stockte auch mein Herz, als dieser Fremde in der dunklen, schäbig wirkenden Kleidung aus einer anderen Welt sich mir abrupt zuwandte. Seine Augen haben in der Dunkelheit wie Saphire gefunkelt und haben ihn noch mehr wie ein ungezähmtes Tier erscheinen lassen.
Mit zur Faust geballtem Gesicht kauerte der Junge, der in diesem Moment so viel älter als ich auf mich wirkte, allein weil er so gebrochen und zerschunden ausgesehen hat, dort und starrte mir direkt ins Gesicht, als wäre ich sein ärgster Feind. Doch von diesem hasserfüllten Blick habe ich mich nicht abschrecken lassen und aus einem Reflex heraus habe ich ihn zu mir herangewinkt und habe sogar ein kleines Lächeln zustande gebracht, um offen und nicht bedrohlich auf den Fremden zu wirken.
So wie jetzt auch. Und ich meine sogar ein Zucken um die Mundwinkel des Jungen herum in der Finsternis erahnen zu können, als versuchte er, mein Lächeln zu erwidern. Noch kein einziges Wort hat er bisher mit mir gewechselt. Bisher kennt er meine Stimme, aber ich nicht seine. Dabei sehne ich mich regelrecht nach diesem Klang - nicht um dass er sich bei mir bedankt, sondern einfach, um etwas mehr über diesen Fremden heraus zu finden, dem ich mich so verbunden fühle ohne das Geringste über ihn zu wissen.
Schon im nächsten Moment steht der Junge in Schwarz neben mir und scheint auf ein Zeichen meinerseits zu warten. Ich komme mir so seltsam vor, dass ich wie erstarrt neben ihm stehe und nichts anderes tun kann, als den Duft zu inhalieren, den der Fremde in diesen Raum hineinträgt. Diese Person riecht nach Winter und der kalten Luft, die er von draußen geholt hat, doch aus irgendeinem Grund lässt mich genau dieser Geruch an Freiheit und Stärke denken. Dieser Junge riecht unverfälscht, ebenso wie er aussieht wie er selbst, nicht wie ich, die nur ein blasses, von der Gesellschaft zerstörtes Abbild ihrer Selbst ist.
Vielleicht fühle mich mich deshalb so seltsam angezogen von ihm. Niemand schreibt ihm vor, wer er zu sein hat. Woher dieser Junge wohl kommt? Ob er einen Namen trägt? Oder hat er sogar einen Partner zuhause, der sehnsüchtig auf ihn wartet, solange er sich mit mir umtreibt?
Dieser Gedanke allein versetzt mir einen Stich ins Herz; jedoch nicht, weil es um diesen Fremden und sein Liebesglück an sich geht, sondern darum, dass er überhaupt die Möglichkeit hat, jenes zu haben. Mir wird das auf ewig verwehrt bleiben, sollten sich unsere Gesetze nicht auf magische Weise ab morgen ändern.
Doch selbst wenn, die Menschen wären so manipuliert von der Regierung und so mit sich selbst beschäftigt, dass sie sich einander noch immer nicht nähern würden, selbst wenn man sie von der Leine lassen würde. Diese Welt wird für immer lieblos bleiben, doch dieser Junge, der da immer noch vollkommen stumm und angespannt an meiner Seite steht, könnte ein Ausweg für mich aus dieser Misere sein, die ich schon verabscheue, seit dieser alte Mann - möge er nun in Frieden ruhen und es ihm für seinen Dienst gedankt sein - mir gezeigt hat, dass ein Leben ohne Liebe einfach nicht lebenswert ist. Seitdem ist da dieses schwarze Loch in meiner Brust, das mich Tag um Tag verschlingt und erst durch die Gegenwart dieses fremden Jungen innehält.
Es ist seltsam, dass ich mich gerade zu einem Menschen des anderen Geschlechts zu hingezogen fühle. Diese sind nämlich nur noch zur Dekoration da - vielleicht auch noch, um typisch "geschlechtsspezifische Arbeiten erledigt zu bekommen. Sonst gäbe es wohl nur noch Männer auf der Welt, so wie die Regierung nur aus solchen besteht, die die Frauen dieser Welt in die Pflegeberufe wie Krankenschwester, Lehrerin oder Altenpflegerin pressen und den Männern den gesamten Rest überlassen.
Nur wir Frauen aus dem so hochangesehenen Discis dürfen auch in die Forschung, wenn es uns vorher bestimmt ist - doch meist werden wir Mädchen „nur“ mit der Biologie abgespeist, wenn wir uns als fähig erweisen. Fächer wie Physik, Medizin oder Jura bleiben uns gänzlich versperrt.
Ob diese Ungerechtigkeit in der Welt meines nächtlichen Besuchers ausbleibt? Oder idealisiere ich ihn nur, weil ich genauso leben will, wie es die Frauen in den Romanen unter meinem Bett tun? Am Ende stürzt mich dieser Fremde doch sowieso ins Unglück, wenn die Regierung von unseren Treffen erfährt - warum also lasse ich ihn so nahe an mich heran, wie niemanden zuvor?
Wortlos führe ich den Jungen in den nächsten Raum, wo ich meine Ration an Essen, die sicher schon eiskalt und so gut wie ungenießbar ist, bereit stehen habe, um sie ihm zu schenken. Wie immer werde ich sie kurz anwärmen, um ihm gegen die Kälte draußen immun zu machen, in die er stumm wie immer marschieren wird, wenn er alles aufgegessen hat. Wie immer werde ich mich so entsetzlich leer fühlen, wenn ich den leeren Teller und den Miniaturofen, den die zuständigen Lieferanten vorsorglich der Ration beilegen, da sonst alle Leute kalt essen müssten, in die graue Box räume und dann den Rest der Nacht wach liege, weil ich wieder an all die Worte denken muss, die ich mit meinem Besucher hätte wechseln können, hätte ich mich getraut, ihn anzusprechen.
Nun mustere ich zum ersten Mal meinen Gegenüber genauer, der mir gegenüber Platz genommen hat, seine Ellenbogen auf dem Tisch abstützt und sich beinahe schon interessiert in dem kleinen Raum umsieht, als wolle er jedes Detail für immer in Erinnerung behalten. Nur mich sieht der junge Mann nicht an, als würde ich ihn abstoßen. Dafür beobachte ich ihn umso genauer - zuvor habe ich mich das kaum getraut.
Er ist blass wie das Mondlicht selbst, was seine dunkle, robenähnliche Kleidung noch bekräftigt und alles an ihm in einen starken Kontrast stellt. Die Kapuze hat der Fremde sich bereits vom Kopf gezogen, womit ich freie Sicht auf seinen dunklenbraunen, leicht gewellten Haarschopf habe, der ein wenig zerzaust von der vermutlich langen Reise hierher wirkt. Dazu strahlen seine Augen auch in diesem schummrigen Licht mit derselben Intensität wie draußen und ziehen mich in ihren Bann. Ein hübsches Gesicht hätte er, würde er nicht so ernst und kalt dreinschauen, als hätte er die größten Schrecken der Welt bereits mit eigenen Augen gesehen. Dieser Junge sieht so anders aus als wir, die wir alle blonde Haare und grüne Augen haben.
Die Regierung hat direkt nach dem Krieg gemeint, dass die alte Ordnung auch beim Aussehen der neuen Weltbevölkerung hat umgekehrt werden müssen. So sind Dunkelhaarige, die zuvor den größten Anteil der Weltbevölkerung ausgemacht haben, vollkommen ausgestorben, wenn man von den Welten hinter den Mauern absieht.
Wenn dort überhaupt noch Menschen existieren, werden sie nicht alle blond sein. Doch dieser Fremde wirkt alles andere als missgebildet, wie es die Verseuchten sein müssen, die ihr Leben lang in atomarem Schmutz gehaust haben, sein müssen. Woher kommt er also? Ist er eine dieser seltenen Gendefekte, von denen die Lehrer uns das ein oder andere Mal berichtet haben? Doch warum sollte er dann so hungrig sein, dass er gezwungen ist, hinaus zu gehen und die Umgebung nach Nahrung abzusuchen?
Das Essen wird fertig und, wie jedes Mal, stelle ich es dem Jungen hin, der mich noch immer nicht ansieht. Sofort beginnt er wie ein ausgehungertes Tier zu essen und ich beobachte jede einzelne seiner gehetzten und doch selbstsicheren Bewegungen.
Dieser Fremde ist zu faszinierend, als dass ich eine weitere Nacht wortlos verstreichen lassen kann. Was wäre, wenn er schon in der nächsten nicht mehr zu mir kommt, sondern Zuflucht bei einem anderen sucht, der schließlich genauso aussieht wie ich und für ihn dasselbe bereithalten kann? Auch dieser Gedanke versetzt mir einen Stich ins Herz, das da in meiner Brust leer vor sich hin schlägt, ohne einen Nutzen zu kennen.
Und was wäre, wenn der neue Gastgeber die Gesellschaft dieses Jungen nicht so sehr zu schätzen wüsste, wie ich es tue, und ihm den Eintritt verweigern würde? Würde der Hartherzige am Ende vielleicht noch die Regierung verständigen und meinen einzigen Freund auf der Welt von den Beamten in Schwarz abtransportieren lassen? Würde die Elite dann dieselben menschenunwürdigen Experimente mit meinem stummen Gast durchführen, wie Wissenschaftler es schon vor mehreren Jahrhunderten mit Andersartigen getan haben?
Mich selbst möchte ich ohrfeigen, wo ich mich so denken höre. Wie kann ich mich nur so sehr um einen vollkommen Fremden scheren, der es bisher nicht einmal übers Herz gebracht hat, auch nur ein Wort mit mir zu wechseln? Gestrandet ist er in meiner Welt - warum also kann er nicht wieder zurück dorthin, wo er auch hergekommen ist? Dieser Junge tut mir mit seiner bloßen Anwesenheit in meiner Wohnung weh; was tut er mir nur an mit dieser Angst, die da immer wieder aufwallt und sich legt, als wäre sie das Meer im Bann der Gezeiten selbst?
Mühsam kratze ich einige Worte zusammen, die mir auf die Schnelle einfallen und verscheue den Gedanken, dass ich meinen Gegenüber gern mit dem Vollmond am Himmel vergleichen würde, der dort oben steht in seiner ganzen Pracht und meine Nacht mit sanftem, wohltuenden Licht flutet. Für einen Moment lasse ich das Schweigen noch bestehen, ehe ich wieder meine Augen auf den Dunkelhaarigen richte, der in seiner ganz eigenen Welt und dem Genuss des Essens zu versinken scheint, und meinen ganzen Mut zusammennehme.
»Darf ich dich etwas fragen?«, bringe ich leise hervor, während ich Mühe habe, diesen Fremden weiterhin so direkt anzuschauen, so sehr schäme ich mich in diesem Augenblick. Der Junge blickt von seinem halbleeren Teller auf und mir direkt ins Gesicht. Seine blauen Augen blitzen auf, doch in ihnen kann ich nur Leere und Verständnislosigkeit lesen, die mich erschreckt.
Einige Momente braucht es, ehe ich mit Schrecken endlich begreife, dass er nicht aus dieser Welt stammt. Spricht mein Gegenüber überhaupt meine Sprache? Doch dann regt sich mein Gast und nickt knapp, ehe er sich wieder ganz geschäftig dem Essen widmet. Ich beiße mir kurz auf die Unterlippe, um den resignierten Seufzer zu unterdrücken, der sich da seinen Weg nach außen zu bahnen versucht.
Stattdessen setze ich wieder zum Sprechen an, egal ob mir mein Gegenüber nun seine volle Aufmerksamkeit schenkt, oder nicht. »In der ersten Nacht, in der du hierher gekommen bist ... Was genau hast du da draußen gesucht?« Wieder hört mein Gast auf zu essen, seht dabei ein wenig genervt aus und blickt mich direkt an, während sein linker Mundwinkel für den Bruchteil einer Sekunde zuckt. »Genau dasselbe, was ich hier von dir bekomme«, gibt der junge Mann mit hartem Akzent und rauer, wohl kaum oft benutzten Stimme zur Antwort, »Es kann eben nicht jeder wie die Made im Speck leben, wie ihr es hier tut.«
Verwirrt runzle ich die Stirn. Wenn er hungert, warum meldet er sich dann nicht einfach bei der Armenhilfe an, die damals für Überlebende des Krieges eingerichtet wurde und bis heute noch existiert, auch wenn sie durch das Ausbleiben der Armut in unserer Welt ein wenig heruntergekommen ist? Dort würde er seine Nahrungsration bekommen, wie jeder andere von uns auch, vermutlich würden sie sogar sein Aussehen anpassen.
Doch warum sollte man das wollen? Mit seinen dunklen Locken und den Saphiraugen ist dieser Fremde etwas Besonderes, was nicht einfach der Gleichheit willen zerstört werden sollte.
»Und warum warst du dann genau hier? Warum bist du mir einfach so ins Haus gefolgt, ohne zu wissen, wer ich bin und was ich mit dir vorhaben könnte?«, frage ich weiter, woraufhin ich nur ein beiläufiges Schulterzucken ernte. »Ich habe dich nicht darum gebeten, mir zu helfen«, murmelt der Dunkelhaarige zwischen zwei Bissen, die er vom Brot nimmt, »Außerdem seid ihr doch alle viel zu naiv, um jemandem Schlechtes zu wollen, wie wenig ihr ihn auch kennt. Eher hätte ich dich umgebracht und ausgeraubt, hätte ich nicht gewusst, dass ich dann nach nur einer Mahlzeit weiterziehen und mir einen neuen Idioten, der mich durchfüttert, suchen müssen.«
Aus irgendeinem wahnwitzigen Grund stört es mich nicht im Geringsten, dass mein Gegenüber mich indirekt beleidigt, eher bin ich nun erst recht neugierig, was er noch auf meine tausend Fragen zu sagen weiß. »Wir sind also naiv, deiner Meinung nach? Woher kommst du denn, dass du das denkst?« Der junge Mann wendet wieder seinen Blick ab und sichtlich spannt er die Muskeln an. »Es war schon schwierig genug, eure dämliche Mauer zu überwinden, ohne erschossen zu werden«, setzt mein Gegenüber leise an, »warum kannst du mich nicht einfach damit in Ruhe lassen?«