Seine Bitte vollkommen missachtend, reiße ich die Augen auf. »Du kommst von jenseits der Mauern?« Ich rede lauter, als ich es beabsichtigt habe und halte mir reflexartig die Hand vor den Mund, als ich mich vor meiner eigenen Stimme erschrecke. Vermutlich sollte ich aufpassen, nicht noch weitere solcher unüberlegten Aktionen geschehen zu lassen, sonst könnte noch jemand aufwachen und meinem verbotenen Gast und mir Schwierigkeiten bereiten. Vorsicht ist gerade das höchste Gebot, auch wenn ich einfach nicht glauben kann, was dieser Junge mir da gerade anvertraut hat.
Während dieser seelenruhig aufisst, mustere ich ihn ein weiteres Mal. »Aber du siehst gar nicht so aus«, bringe ich ungläubig hervor. Mein Gegenüber zieht nur eine Augenbraue in die Höhe, anstatt eine direkte Frage zu formulieren. Dennoch verstehe ich, was er mir damit sagen will. »Na ja«, beginne ich ein wenig stockend, da es mir schwerfällt, die richtigen Worte zu finden, ohne die Gefühle meines Gesprächspartners zu verletzen, »Ich habe mir die Menschen von der anderen Seite einfach ... anders vorgestellt. Missgebildet und nicht so ansehnlich, schätze ich. Da ist deine Erscheinung einfach eine ziemliche Überraschung.«
Ich habe einen Wutausbruch erwartet, vielleicht einen Schlag ins Gesicht, da dieser Junge mir wirklich wie ein ungehobeltes Tier vorkommt, oder ein empörtes Aufspringen und Verschwinden seinerseits. Doch stattdessen bricht der Dunkelhaarige in Gelächter aus, dass die Wände erzittern und ich erneut fürchten muss, jemand könnte uns auf die Schliche kommen.
So tief kann doch niemand schlafen, dass er dieses durchdringende, raue und doch so melodische Lachen überhört, das meine Mundwinkel zucken und mein Herz flattern lässt, als wäre es ein junger Spatz, der gerade das Fliegen erlernt. Sein Lachen klingt freudlos, dennoch habe ich wohl noch nie etwas Schöneres in meinem ganzen Leben gehört. Mittendrin schlägt mein Gast sogar einige Male mit der Faust auf die Tischplatte ein, dass sie sehr verdächtige Geräusche von sich gibt. Hat dieser Teufel denn wirklich gar keinen Anstand?
Nun fürchte ich nicht nur um mein und das Leben dieses jungen Mannes, sondern auch um mein Mobiliar. Noch nie zuvor hat es ein Mensch gewagt, seine Inneneinrichtung, die uns die Regierung freundlicherweise zur Verfügung stellt, mutwillig zu zerstören. Erst recht nicht, tatenlos dabei zu zuschauen, wie ein Anderer, der eigentlich nichts in diese vier Wände zu suchen hat, es tut.
So schnellt meine Hand vor, um seine Faust vom nächsten Schlag abzuhalten. Seine Haut ist so kalt und spannt sich über die Knochen, als ich das Handgelenk meines Gegenübers fast schon verzweifelt umschließe. Zu viel Angst habe ich vor den Konsequenzen, die mich erwarten, sollte dieser Tisch zerstört werden, um diesen Jungen, mit auch immer er da zu tun glaubt, fortfahren lassen zu können. Abrupt versiegt das Lachen und er blickt mich komplett verständnislos an, als hätte er noch nicht begriffen, in was für einer Gefahr wir in dieser Sekunde schweben.
Verlegen lockere ich den Griff um sein Handgelenk, als ich mir sicher sein kann, dass der Dunkelhaarige sich nun endlich beruhigt hat. Perplex starrt dieser auf den roten Abdruck, den mein plötzliches Eingreifen ins Geschehen auf seiner bleichen Haut hinterlassen hat. Ich wage ein entschuldigendes Lächeln. »Es tut mir leid, aber wir müssen vorsichtig sein. Darum bitte ich dich, leise zu sein und sorgsam im Umgang mit meinen Möbeln zu sein, da ich wirklich nicht weiß, ob ich eine zweite Garnitur gestellt bekomme, wenn meine erste zu Bruch geht.«
Doch mein Gegenüber scheint mir schon gar nicht mehr zu zuhören, da er mir stattdessen direkt ins Gesicht blickt und noch einmal nachhakt. »Du hast also geglaubt, dass Menschen wie ich hässliche, behinderte Monster sind?«
Beschämt wende ich den Blick ab, da ich es nicht ertragen kann, diesem jungen Mann noch länger in die schönen blauen Augen zu schauen. »Monster ist das falsche Wort«, druckse ich herum, »Außerdem denke ich das nicht allein, sondern eigentlich alle hier. Wir kriegen das in der Schule gelehrt.«
Diese lahmen Entschuldigungen fühlen sich falsch an, also versuche ich vom Thema abzulenken. »Aber wie es aussieht, haben unsere Lehrer keine Ahnung, was hinter den Mauern liegt. Du bist eben kein Monster. Oder eben das Wesen, was ich mir so unter euch Menschen aus den Sperrzonen vorgestellt habe. Das ist mein Fehler gewesen. Willst du mir vielleicht etwas über dich erzählen? Dann werden die Missverständnisse aus der Welt geschafft und ich lerne endlich mal den Mann kennen, der mir die ganze Zeit mein Essen wegisst.«
Der Junge mir gegenüber zuckt nur mit den Schultern. »Was willst du denn so genauer wissen?« Er zeigt sich also aufgeschlossen? Verstohlen bringe ich ein kleines Lächeln zustande. Wer ist nun der Naive von uns beiden? Selbst sein so verhärmt und abgeklärt wirkender Blick kann nichts daran ändern, wie er mich so ansieht und scheinbar sehnsüchtig auf eine Antwort meinerseits wartet. »Ob du einen Namen trägst zum Beispiel. Woher du genau kommst. Wie du aufgewachsen bist und warum du hierher gekommen bist. Warum du meine Sprache sprichst.« Die Fragen, die einfach wie Feststellungen klingen, sprudeln nur so aus mir heraus und lassen meinen Gegenüber, zumindest seinem Blick nach zu urteilen, regelrecht ertrinken.
Einige Minuten lang, die mir wie persönlich Tage vorkommen, hüllt der Dunkelhaarige sich in Schweigen, ehe er sich kurz räuspert und wieder zum Sprechen ansetzt, mit diesem harten Akzent, nach dem ich mich schon regelrecht süchtig fühle.
»Was ist das denn für eine Frage? Natürlich habe ich einen Namen. Ich heiße Dion und komme aus etwa dem Sektor, der vor zweihundert Jahren Frankreich gewesen ist.« Noch ehe er weiter ausholen kann, auch wenn er dafür eigentlich viel zu wortkarg wirkt, unterbreche ich ihn fast schon empört. »So selbstverständlich ist die Sache mit den Namen nicht! Ich zum Beispiel trage keinen. Weil ich zusammen mit allen anderen "Naivlingen" hier, nur eine austauschbare Nummer bin. Sei‘ doch einfach froh, dass du individuell sein darfst, Dion.«
Abwehrend hebt der junge Mann die Hände, wobei jedoch das seichte Lächeln auf seinen Lippen dieser Geste jede Ernsthaftigkeit nimmt. »Da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen, was? Aber klar, ich erfreue mich gerne an der beschissen tollen Individualität, die mich halb verhungern und nachts nicht schlafen lässt, weil ich Angst haben muss, von euren saudummen Patrouillen geschnappt zu werden. Sonderlich gastfreundlich seid ihr echt nicht, kann das sein?«
Ich kann ihn einfach nur stumm anschauen. Seine Worte verletzen mich tief und doch kann ich nicht genug von ihnen kriegen. Was hat nur das Lesen dieser vielen Liebesromane mit mir gemacht? Dion ist mir noch immer ein Fremder, ein recht ansehnlicher, um ehrlich zu sein, aber dennoch ein Wesen aus einer vollkommen anderen Welt, die ich vermutlich niemals kennen lernen werde, weil er wie jedes Mal in die Nacht verschwinden wird, ohne dass er sich um mich und meine Wünsche schert.
»Und warum bist du dann hier, wenn dir unsere Welt nicht gefällt? Geh‘ doch zurück, wenn hier alles so schlecht und gefährlich ist!«, werfe ich meinem Gegenüber an den Kopf, ohne weiter drüber nachzudenken, dass ich vermutlich gerade viel zu laut spreche und Dion der Erste ist, der mich je auch nur in die Nähe waschechter Wut gebracht hat.
Dieser reißt nun seine Saphiraugen auf und blickt mich an, als würde ihm in diesem Moment einfallen, dass er hier nicht hergehört, ehe er wieder wie eh und je dreinschaut und es sogar wagt, mir ein schiefes Lächeln zu schenken, als würde ich dadurch vergessen, wie unhöflich dieser Flegel zuvor gewesen ist. Ich würde am liebsten schreien, um einfach nur diesen Druck in meinem Innern loswerden zu können, doch welchen Grund habe ich schon dazu? Schließlich weiß Dion es nicht besser - er ist ein Fremder, der keine Ahnung hat, was ich Tag für Tag erlebe und hasse. Kann ich ihm denn dafür böse sein?
»Ich bin hier«, fährt der Dunkelhaarige fort und unterbricht so meine Gedanken, »weil es in meiner Heimat nicht viel besser ist. Dort hinter den Mauern sind der Hunger und die Angst sehr viel präsenter, als es bei euch hier der Fall ist. Schließlich werdet ihr ja herzallerliebst von eurer heiligen Regierung versorgt und müsst euch keine Sorgen darum machen, wo ihr in dieser Nacht schlaft, was ihr esst oder ob ihr überhaupt den nächsten Morgen noch erlebt.
Arm sind wir alle in meiner Welt, doch manche sind eben gewaltbereiter als andere, um zu bekommen, was sie brauchen, damit sie überleben. Nicht selten wird man für ein wenig Brot erstochen oder muss über ausgeweidete Kinder- und Tierleichen steigen, weil wieder so wenig Nahrung vorhanden gewesen ist, dass Kannibalismus und Wilderei der einzige Ausweg aus dem Elend gewesen sind.
Menschen werden als Nahrungsquelle oder Lustobjekt missbraucht, wie es das Gesetz des Stärkeren zulässt - die Vernunft, auf die ihr hier drüben so stolz seid, ist bei uns zwischen Todesangst und Überlebenskampf gestorben. Durch die nur ganz langsam abklingende Verseuchung des Bodens und der Luft werden wir krank und sterben an Geschwüren und Bluthusten, weil uns niemand hilft. Zwar wird das von Generation zu Generation ein wenig besser, da wir uns auch an radioaktive Strahlung gewöhnen, aber lebenswert ist das alles dennoch nicht. Wer einen Platz in einem der alten unterirdischen Bunker ergattert hat, ist ein echter Glückspilz, genauso derjenige, der älter als dreißig wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob du langsam an irgendeiner Krankheit verreckst, zu Tode gefickt oder für dein verseuchtes Fleisch umgebracht wirst.
Wir sind unsere eigenen Nutztiere und behandeln uns auch gegenseitig genau auf diese Weise. Mütter bringen ihre Kinder um, weil sie nicht wollen, dass sie von jemand anderem missbraucht werden, manche sind so wahnsinnig vor Hunger, dass sie sich die Haut von den Knochen reißen, um diese dann in sich hinein zu stopfen. Es ist widerlich. Wir sind gefühllose Monster, keine Menschen mehr, also hast du schon recht, wen du uns Verseuchte als solche bezeichnest.
Und das alles nur, weil ihr uns dort drüben im Stich gelassen habt. Nur wegen eurer Selbstsucht versuchen wir einen Krieg zu überleben, der bereits zweihundert Jahre andauert und noch lange ist kein Ende in Sicht.«
Für einen Moment blickt mich Dion so strafend an, als wäre ich allein an der Verkommenheit schuld, die dort hinter den riesigen weißen Grenzwällen zu herrschen scheint. Doch in dieser falschen Anschuldigung scheint mein Gegenüber ebenso wenig Sinn zu sehen, wie ich, darum wendet er kurz darauf den Blick ab und starrt den leeren Teller vor sich an, als versuchte der Junge, mit der bloßen Kraft seiner Gedanken den dort liegenden Löffel zu verbiegen oder eine Antwort auf seine stummen Fragen zu finden, die da vermutlich in seiner Brust rumoren.
»Deshalb bin ich auch von dort geflüchtet. Weil ich dachte, dass es hier so viel besser ist, als dort wo ich mutterseelenallein tagtäglich um mein Überleben gekämpft habe, seit meine Mutter einer Meute von Triebgesteuerten zum Opfer gefallen ist. Schon als kleiner Junge habe ich immer an dem Zaun gestanden, der uns noch einmal extra von eurer Mauer trennt, und habe euren Soldaten auf dem Niemandsland marschieren zugesehen.
Schutzanzüge trugen sie dabei und niemand hat mich weiter beachtet. Bis auf diesen einen Soldaten, der immer mal wieder zu mir an den Zaun kam, mir etwas zu Essen gab und auf mich einredete. Er war es auch, der mir das Miranische beigebracht hat, da bei uns nur die alten Sprachen gesprochen werden, die ihr schon längst vergessen habt und sich in unserer Welt mit der Zeit etwas vermischt haben, wenn man denn überhaupt noch miteinander spricht. Der Soldat hat mir immer versichert, dass ich hinüberkommen könnte und auch meinen Dienst leisten könnte, wenn ich größer bin. Dass dabei meine Herkunft und mein Aussehen keine Rolle spielen würden.
Stattdessen hat er mir und meinen Freunden, die ich später über die Jahre hinweg um mich geschart habe und die meine Überzeugungen, dass das Gras drüben grüner ist, geteilt haben, zu Flucht verholfen. Um unser Leben sind wir drei gerannt, als er uns den Rücken mit seinem Gewehr frei gehalten hat. Doch gerade als wir über die Mauer geklettert und somit fast in Sicherheit waren, hörte ich Schüsse, die irgendwie ... anders klangen, als die, die unser Retter bis dahin abgefeuert hat. Am Ende hat er für uns sein Leben geopfert, ohne dass ich davon etwas weiß. Mich würde es in eurer herzlosen Welt nicht wundern, wenn seine eigenen Kollegen ihn erschossen hätten, nur weil er als Soldat nicht von seiner Pflicht hätte abweichen dürfen.
Es sind mir ja nicht einmal meine Freunde geblieben. Cataleya ist ihrem schlechten gesundheitlichen Zustand erlegen, der sich selbst unter dieser Kuppel nicht mehr gebessert hat, und Samuel hat man vor meinen Augen niedergeschossen, als er nicht begriffen hat, dass auch eure Welt alles andere als barmherzig ist und versucht hat, mit einem dieser umheimlichen Beamten zu reden. Nur weil er schwarze Haare hatte, ist er eurer Regierung ein Dorn im Auge gewesen.
Wir sind vom Regen in die Traufe geflüchtet, doch zurück will ich nicht. Wenn ich das versuchen würde, wären alle Mühen umsonst und meine Freunde sinnlos gestorben.«
Mit Tränen in den Augen lausche ich der Geschichte meines Gegenübers und doch schwirrt mir nur ein Gedanke durch den Kopf. »Zumindest bist du frei«, bringe ich brüchig hervor, »Das ist das, was ich mir in dieser Welt schon so lange wünsche.« Dion schüttelt nur mit dem Kopf. »Du bist sicher. Freiheit und Sicherheit kannst du nicht beides gleichzeitig haben. Außerdem ist frei zu sein nichts, was man sich in dieser Welt wünschen kann.«
Mit diesen Worten steht er auf und scheint sich zum Aufbruch bereit machen zu wollen. Dann jedoch erstarrt der Dunkelhaarige mitten in der Bewegung und schaut mich fast schon entschuldigend an. »Jetzt habe ich doch glatt vergessen nach deinem Namen zu fragen.« Ich seufze nur und kremple meinen rechten Ärmel nach oben, wo mir "D-287" in die Haut gebrannt worden ist. »Das ist alles, was ich an Identifikation besitze.« Dion verzieht daraufhin das Gesicht und scheint kurz in seinen Gedanken zu versinken, ehe sein Gesicht sich schlagartig aufhellt. »Dann nenne ich dich ab sofort einfach Pandora.« Kurz legt der Dunkelhaarige eine Pause ein, als würde er den Klang dieses Namens auf sich wirken lassen und nickt dann zufrieden. »Ja, das ist ein wirklich guter Name für dich.«
Dann geht er um den Tisch herum, haucht mir einen Kuss auf die Wange und murmelt leise Worte, die in etwa klingen wie: »Danke für das Essen und deine Gastfreundschaft, Pandora. Du bist wohl der einzige Grund, dass diese Welt noch halbwegs erträglich für mich ist.« Und noch bevor ich ihn fragen kann, warum er mir gerade einen Namen verpasst hat, der einem Wesen gehört hat, dass nur Schlechtes über die Welt gebracht hat, ist er schon zum Fenster hinaus und vom allmählich nahenden Morgenrot verschluckt worden.