Schon einige Tage ist es her, dass Dion und ich das erste Mal miteinander gesprochen haben. Noch immer kommt er jede Nacht und leistet mir Gesellschaft. Zusammen verlieren wir uns dann so sehr in unseren Gesprächen, dass mein Gegenüber sogar manchmal das Essen unangerührt stehen lässt. Dabei reden wir nicht einmal über irgendetwas Bestimmtes, wir finden einfach immer zu einem Thema. Manchmal lasse ich Dion mehr über seine Vergangenheit und das Leben auf der anderen Seite der Mauer reden, denn so habe ich das Gefühl, dass er vollkommen bei mir und ehrlich ist. Ich will ihn ohne seine Fassade sehen. Außerdem scheinen diese Gespräche über die Vergangenheit zu helfen, denn seine Augen wirken schon viel weniger leer, wenn er mich ansieht, während er einfach von seinen Freunden erzählt, wie er sie kennengelernt hat, wie viel sie zusammen durchgemacht haben und wie sehr er sie vermisst.
Bei seinen Erzählungen werde ich fast neidisch auf diese Geschichten, da ich niemals sowas erleben werde, solange ich gefangen in dieser sicheren, aber kalten Welt bin, um die mich mein Gast beneidet und das auch immer wieder erwähnt, als wolle er mich nicht vergessen lassen, wie unterschiedlich wir doch letztendlich sind. Doch ich möchte diese Tatsache im Erdboden versinken lassen, allein schon, weil ich mich nach der Nähe Dions sehne.
Wie kann mir nur dieser Junge in so kurzer Zeit ans Herz gewachsen sein? Zuvor sind wir nur eine Zwecksgemeinschaft gewesen - er ist zu mir gekommen, um nicht zu verhungern und ich habe ihn geduldet, um nicht an meiner Einsamkeit zu zerbrechen. Doch letztendlich haben wir zueinander eine Bindung aufgebaut, die wohl kein zweites Mal in dieser Welt existiert. Liebe ist auf diesem Planeten ausgestorben. Ob Dion und ich sie vielleicht wiederbeleben können?
Alles fühlt sich im Moment so unwirklich an. Ich riskiere mein Leben, nur um bei einem Fremden zu sein, von dem eigentlich nur Gefahr für mich ausgeht, und doch nehme ich für ihn alles in Kauf, komme was wolle. Es ist, als lebte ich endlich in einem meiner Liebesromane, die zugleich so verträumt und doch realitätsnah auf mich wirken.
Wenn es mich krank macht, ohne zwischenmenschliche Nähe zu leben, muss ich doch dagegen etwas tun, oder? Schließlich tönt unsere Regierung immer wieder, dass sie nur unser Bestes will und somit Krankheiten fast schon allgemein hin als verpönt gelten. Denn fühlst du dich nicht wohl, bist du unbrauchbar und fällst den anderen nur zur Last.
Ob Dion auch so über mich denkt? Dass ich nur eine Last für ihn bin, zu der er Nacht um Nacht zurückkehren muss, ohne dass es einen plausiblen Grund dafür gibt? Wenn ja, fühle ich mich schuldig - auch wenn ich das Gefühl habe, ihm etwas zu bedeuten, will ich keine Bürde sein, die ihn niederdrückt. Aber warum sollte dieser Junge mir einen Namen geben, wenn er nur Negatives mit mir in Verbindung bringt? Oder mich küssen, wie er es in der letzten Nacht getan hat, einfach aus dem Nichts heraus und ohne im Nachhinein noch ein einziges Wort darüber zu verlieren?
Noch immer kann ich seine Lippen auf meinen fühlen, auch wenn er schon längst verschwunden ist. Wo Dion wohl gerade steckt? Ob er mich noch einmal küsst, wenn ich ihn danach fragen würde? Beobachtet er mich vielleicht aus den Schatten heraus, während ich mir meinen Weg durch die wenigen Menschen, die auf den Straßen unterwegs sind, bahne? Ich denke nicht daran, mich wie üblich in die Schule zu begeben, nein, dafür bin ich viel zu abgelenkt. Ob ich bestraft werde, wenn ich heute nicht hingehe? Doch was will die Elite mir schon antun, schließlich bin ich eine derjenigen, in die sie ihre Hoffnungen setzen. Ich fühle mich unbesiegbar, gerade so, als könnte mir nun nicht einmal mehr der Tod etwas anhaben. Also kann ich mir bestimmt eine kleine Auszeit gönnen, einfach weil ich das noch nie zuvor getan habe. Früher haben Schüler das doch manchmal täglich gemacht, da ist ein einziges Mal bestimmt okay.
Zu meinen ständigen Gedanken an Dion kommen mit einem Mal auch diese störenden Blicke hinzu, die ich in meinem Nacken spüre und die meine Haut kribbeln lassen. Immer wieder huscht ein dunkler Schatten durch mein Sichtfeld doch zu schnell ist dieser jedes Mal, um dass ich genau sagen kann, wer mich da nun verfolgt.
Für einen kurzen Moment hege ich die Hoffnung, dass es Dion ist, der versucht, mir so nahe wie möglich zu sein, doch ich möchte auflachen, wie naiv ich doch durch die ganzen Gefühle in meinem gerade wiederauferstandenen Herzen bin. Dieser Junge würde doch niemals so dumm sein und sich am helllichten Tage auf einer öffentlichen Straße aufhalten, wo ihn jeder sehen kann und er automatisch zur Zielscheibe wird.
In dieser Welt gilt der Dunkelhaarige als Bedrohung - wie es wohl wäre, wenn sich die Elite einmal Zeit nehmen würde, mit den Menschen von der anderen Seite der Mauer zu sprechen? Wäre die Regierung dann noch immer so feindselig unseren Nachbarn gegenüber? Denn Dion hat recht, wir haben die Menschen dort drüben damals einfach im Stich gelassen, nur weil sie nicht zu uns gepasst haben und wir Angst gehabt haben. Als Monster stellen wir sie uns vor, doch eigentlich sind sie wie wir, nur viel gebrochener und gezeichneter von einem harten Leben, das wir so einfach besser machen könnten, würden wir uns dafür interessieren.
Nach einigen weiteren Schritten und mit immer größer werdender Paranoia im Gepäck, die mich beinahe ersticken lässt, bin ich mir sicher, dass die Männer in Schwarz ihre üblichen Spielchen mit mir treiben. Ob ich der Regierung nun doch aufgefallen bin? Sind da doch Kameras in meiner Wohnung, die ich bisher einfach nicht habe finden und somit umgehen können?
Doch eigentlich habe ich in diesem Moment weniger Angst um mich selbst, eher sorge ich mich um Dion. Hoffentlich ist die Elite nur hinter mir und nicht auch hinter ihm her. Ich würde es mir nie verzeihen, wäre ich am Ende schuld daran, dass er den Tod findet. Ich würde sogar freiwillig sterben, wenn ich sicher gehen könnte, dass der Dunkelhaarige überlebt und weiterhin frei sein kann. Ist das Freundschaft? Dass ich alles geben würde, nur damit ein Junge, der mir bisher so viel anvertraut und mich noch mehr gelehrt hat, weiterhin existieren kann?
Meine doch recht vereinnahmenden Gedanken finden ein jähes Ende, als ich plötzlich auf einen harten Widerstand treffe, der mich am Fortsetzen meines Weges hindert. Irritiert schaue ich auf und blicke in das so alt und leer wirkende Gesicht eines Mannes, der nur in Schwarz dort steht und mich anstarrt, als hätte ich soeben seine gesamte Familie vor seinen Augen ermordet und mich in ihren blutigen Überresten gewälzt. So viel Verachtung und Hass sendet er aus, dass ich zusammenfahre und einen Schritt zurückweiche.
Wohl kaum ist jemand einem der Männer in Schwarz jemals so nahe gekommen, wie ich in diesem Moment. Normalerweise verbergen sie sich im Schatten und spielen ihre Paranoia auslösenden Psychospielchen mit den Unruhestiftern, die sie, auf Geheiß der Elite hin, zu verunsichern versuchen. Doch noch nie haben sie solch eine Offensive an den Tag gelegt, dass sie sich ihrem Opfer direkt von Angesicht zu Angesicht gezeigt hätten. Da bin ich wohl endlich mal etwas Besonderes, aber sonderlich positiv wird das Ganze für mich wohl nicht enden.
Denn, so sehr ich es doch liebe, den Staat zu provozieren mit meinem Ungehorsam, habe ich die Männer in Schwarz schon öfter bei ihrer Arbeit beobachtet, als ich ihnen gefolgt bin.
Sie sind Jäger, die ihr Opfer so lange vor sich her treiben, bis es vor Verzweiflung und Angst wahnsinnig geworden und durch die Hetzerei so erschöpft ist, dass es sich kaum noch auf den Beinen halten kann. Erst dann schlagen diese niederträchtigen Raubtiere zu. Meist geschieht dies am Rande der Stadt, wo niemand Außenstehendes die sadistische Ader, die diese Monster an ihrer erlegten Beute auslassen, mitbekommen kann. Manchmal machen sie dem Opfer den Tod noch halbwegs angenehm und erschießen es auf der Stelle - doch die meisten der Beamten neigen zu speziellen Foltermethoden, die im Verhältnis recht wenig Blut, aber umso mehr Schmerzen hervorrufen. Ob diese Männer nach genau diesen Voraussetzungen für diesen Beruf ausgesucht werden? Hauptsache sie erfreuen sich am Leid anderer und haben solche Komplexe, dass es ihnen nichts ausmacht, der Elite wie Hunde zu gehorchen, nur um Unschuldige foltern zu dürfen.
Doch dieser Mann, der da nun vor mir steht, rührt sich nicht. Weder wirkt er, als überlege er, welche Foltermethode er zuerst an mir ausprobieren sollte noch überhaupt angetan von dem Gedanken mir Schmerzen zu zufügen. »Du solltest dich in Acht nehmen«, schnurrt der Schwarzgekleidete mit sonorer Stimme. »Es wäre doch wirklich schade um deinen Status, wenn du fortfährst, die Regeln zu brechen, die dich so lange vor dem Tod beschützt haben. Gute Hunde beißen nicht die Hand, die sie füttert. Und weißt du was mit ungehorsamen Viechern geschieht? Sie werden zum Futter für die guten Hunde.«
Mit diesen Worten verschwindet der Mann in Schwarz, als würde er sich in Luft auflösen. Ungläubig blinzle ich und starre noch einige Zeit auf die Stelle, wo er eben noch gestanden hat. Die Regierung toleriert meinen Regelverstoß? Also wissen sie von Dion und den Treffen? Warum unternimmt die Elite dann nichts? Mein Status verspricht keine Immunität, was also ist sonst der Grund, dass ich nicht zu Tode gejagt und gefoltert werde, wie alle anderen auch? Wartet die Regierung etwa auf einen wirklich grob fahrlässigen Fehler, damit sie mich vor der gesamten Welt an den Pranger stellen und ein Exempel statuieren können?
Auf der Stelle mache ich kehrt und gehe zurück in meine Wohnung. Warum biete ich der Elite nicht gleich einen Vorwand und schwänze die Schule, wie es zuletzt vor mehr als zweihundert Jahren üblich gewesen ist? Auf das viele unnötige Wissen könnte ich mich im Moment sowieso nicht konzentrieren. Dazu ist mein Kopf zu sehr mit der so eben ausgesprochenen Drohung und Dions Wohlergehen beschäftigt.
Hoffentlich findet die Patrouille ihn nicht, bevor ich die Chance habe, mich von ihm zu verabschieden. Denn das werde ich tun, um ihn nicht noch mehr in Bedrängnis zu bringen. Egal wie sehr es mich schmerzen wird, ich muss Dion loslassen, um selbst gehen zu können. Denn eine Welt ohne ihn ist längst nicht mehr lebenswert für mich. Niemals könnte ich es ertragen, wieder in Einsamkeit dahin zu siechen, wenn ich doch nun weiß, wie es sich anfühlt, mich einem anderen Menschen so verbunden zu fühlen.
Ich werde die Nacht abwarten und hoffen, dass mein einziger Freund auf dieser Welt noch lebt. Bis dahin werde ich mich damit zufrieden geben, die Liebesromane noch einmal zu lesen, um dieses Geschenk noch einmal in vollen Zügen auszukosten, bevor alles den Bach runtergeht. Wenn ich schon alles versaut habe und bald schon die Bücher brennen werden, die die Welt verändern könnten, darf ich doch zumindest einige Erinnerungen mit ins Grab nehmen, nicht wahr?
»Und was hast du jetzt vor?«, fragt mich Dion leise, während er mir ernst in die Augen schaut. Er hat nicht lange gebraucht um zu verstehen, wie schlecht es doch um mich und vor allem auch ihn steht, allein weil er mit mir in Verbindung steht. »Ich weiß es eben nicht«, klage ich, während ich mir gestresst mit einer Hand durchs Haar fahre. Wenn ich wüsste, was in einer solchen Situation zu tun ist, hätte ich wohl kaum mit ihm sprechen müssen.
»Eigentlich habe ich mich von dir verabschieden wollen. Damit du sicher bist und nicht wegen mir am Ende stirbst. Denn das macht unsere Regierung mit Fremden, wie du weißt.«
Dions Saphiraugen weiten sich für einen kurzen Moment, ehe er nach meiner Hand greift und mich noch eindringlicher als zuvor ansieht. »Rede keinen Unsinn. Ich lasse keinen Freund im Stich. Dafür habe ich viel zu wenig davon.«
Wie sanft seine Worte doch klingen und wie schnell sie mein Herz schlagen lassen. Doch ich zwinge mich dazu, mich nicht allzu sehr von dem Gefühl beeinflussen zu lassen. »Und wie stellst du dir das vor? Wenn du hier bleibst und weiterhin mit mir Kontakt hast, enden wir früher oder später beide unter der Erde.« Mein Gegenüber schüttelt mit dem Kopf. »Nicht wenn du flüchtest, bevor sie dich erwischen. Und ich werde dich begleiten, ob du nun willst oder nicht. Ich lasse dich ganz bestimmt nicht im Stich, Pandora. Wir haben das zusammen angefangen, also beenden wir es auch zusammen.« Mich verblüfft, wie loyal dieser Junge doch ist. Hat er nicht bei unserem ersten Gespräch noch genau das Gegenteil von sich behauptet, als er gemeint hat, dass er kurz davor gestanden hat, mich einfach für die Dinge, die ich gehabt habe und ihm gefehlt haben, umzubringen?
»Doch wo sollen wir hin?«, werfe ich ein, »Weder deine Heimat noch meine ist sicher. Da bleibt doch eigentlich nur der Freitod als Ausweg. «
Sofort muss ich an Romeo und Julia denken. Ist es der Liebe vielleicht vorherbestimmt, immer auf diese eine Weise zu enden? Doch noch bevor ich weiter darüber philosophieren kann, sehe ich, wie mein Gegenüber den Kopf schüttelt. »Diese Welt ist nicht nur schwarz und weiß, Dummerchen«, beginnt er, »selbst heute existiert noch Niemandsland, das von niemandem besiedelt werden wollte. Es liegt an den Küsten, die ständig überschwemmt werden, da sich die Meere noch nicht vom Einsatz der Atomwaffen vor zweihundert Jahren erholt haben. Aber dort lässt es sich leben, wenn man ein paar Risiken auf sich nimmt, habe ich gehört. Außerdem haben wir wohl keine Wahl, wenn wir überleben wollen. Meine Welt möchte ich dir einfach nicht zumuten. Da müsste ich viel zu sehr auf dich aufpassen, um auch nur eine Sekunde frei atmen zu können.«
Auf das seichte Lächeln, das die Lippen des Dunkelhaarigen umspielt und seinen Hohn achte ich nicht, viel zu sehr bin ich mit meinen Gedanken an die Möglichkeiten, die sich mit dem Erreichen des Niemandslands eröffnen würden, beschäftigt. Ich wäre frei und könnte bei Dion sein, so lange ich will. Wir könnten unsere eigene Welt gründen, auch wenn wir allein sterben würden, da ich nach wie vor unfruchtbar bin. Doch wer braucht schon Kinder, wenn man einander hat?
»Wie kommt man dorthin?«, frage ich darum geistesabwesend. Mein Gesprächspartner lacht leise auf. »Was denkst du denn? Über die Mauer natürlich.« Als ich nicht antworte, fügt er hinzu: »Keine Angst, Pan. Ich bin schon einmal drüber gekommen, als wird das zweite Mal ein Klacks.«
Ich nicke nur leicht, noch immer überrumpelt von den ganzen Gedanken, die auf mich einstürmen.
»Wann wollen wir los?«, frage ich leise. Er steht auf. »Jetzt wäre doch ein guter Zeitpunkt. Je spontaner das Ganze ist, desto kleiner ist die Chance, dass wir erwischt und hingerichtet werden.« Er hat recht. Darum stehe ich ebenfalls auf, packe die längst kalt gewordene Nahrungsration, die Kiste mit den Liebesromanen und eine Decke und stopfe alles in einen Rucksack, den ich mir auf den Rücken werfe.
Mehr habe ich nicht, um es mit in mein neues Leben zu nehmen - mehr hätte mir die Elite auch niemals erlaubt. Unsicher ergreife ich Dions Hand, mit der anderen umklammere ich meine spärlichen Habseligkeiten. Vor allem um die Bücher mache ich mir dabei Sorgen. Sollten wir es nicht schaffen, werden diese wundervollen Vermächtnisse der alten Welt eingeäschert. Doch hier lassen, kann ich sie aus etwa demselben Grund genauso wenig.
Danach geschieht alles wie in Trance. Ich spüre nur am Rande, wie der alte Rucksack, den ich irgendwann mal auf meinen Streifzügen außerhalb der Stadt gefunden habe, bei jedem Schritt gegen meinen Rücken schlägt, dass eben dieser schmerzt, als würde man mich von hinten erstechen. Dion zieht mich mit sich, da er sich einfach weigert, meine Hand loszulassen, als hätte er Angst, ich könnte ihm am Ende noch verloren gehen.
Wie lange wir genau durch die Nacht laufen, weiß ich nicht. Unsere Schritte hallen ohrenbetäubend in meinen Ohren wider, ebenso wie mein eigener Atem, der durch die kalte Luft, die ich gezwungen bin, einzuatmen, ebenfalls Schmerzen verursacht. Doch egal sie nahe ich mich durch meine mangelnde Ausdauer der Ohnmacht auch fühle, ich halte mit Dion mit, einfach um der Freiheit weiter entgegen zu laufen. Mehr habe ich mir doch nie gewünscht, oder?
Aus meiner Trance erwache ich erst, als ich hinter mir lautes Rufen höre und die Mauer in Sichtweite gerückt ist. Schüsse fallen und schwirren durch die Luft - scheinbar sind die Männer in Schwarz hinter uns her. Wie viel Abstand wir wohl noch zu ihnen haben? Ich drehe mich nicht um, da ich in dieser Bewegung an Tempo verlieren könnte. Stur laufe ich weiter, ungeachtet der Angst, die mich mit kalten Klauen greift und mich nun vollkommen wachrüttelt. Ein kurzer Seitenblick zu Dion genügt mir, um mich selbst aufzuraffen und neuen Mut zu schöpfen, selbst wenn mein Körper kurz davor ist, einfach auf der Stelle zusammenzubrechen. Wir werden es schaffen. Schließlich sind wir zusammen. Auch wenn immer wieder Kugeln dicht an meinem Ohr vorbei schießen und diese klingeln lassen. Ich schmecke die Freiheit auf meiner Zunge. So kurz vor dem Ziel werde ich nicht aufgeben.
Stimmen dringen immer wieder verwaschen an mein Ohr. Die Rufe der Männer in Schwarz verstehe ich nicht, für mich klingt alles wie statisches Rauschen. Das einzige Wort, das ich noch überdeutlich höre, ist das »Spring!«, das mir Dion entgegen brüllt, um den Kugelhagel und das Geschrei unserer Verfolger zu übertönen. Kurz darauf werde ich von ihm in die Höhe gehoben, als hätte ich automatisch auf sein Kommando reagiert.
Kalter Stein schabt im nächsten Moment über meine Haut. Ich bin wie blind und muss sie abtasten, um die Mauer zu erkennen. Einen Moment lang frage ich mich, wie viele Menschen wohl ihr Leben lassen mussten, um dieses Monstrum zu bauen, ehe ich mich wieder meinen Gedanken an die so nahe Freiheit zuwende und um mein Leben klettere.
Als würde ich zwischendurch immer wieder kurz in Ohnmacht fallen, sehe ich plötzlich das Ende der Mauer und den Himmel dahinter, obwohl ich doch eben noch am Fuße des Walls gehangen habe. Ein erleichtertes Lächeln schleicht sich auf mein Gesicht. Alles wäre perfekt, wäre da nicht dieser plötzliche Schmerz in meinem Bein, der mich beinahe den Verstand verlieren lässt.