Liebe Xandra
Wie schön, darf ausgerechnet ich Dein Valentinswichtel sein! Ich freue mich sehr über diese Ehre und hoffe, Dir gefällt unser gemeinsamer Ausflug, auf den ich Dich gleich mitnehmen werde.
Damit wir unsere Reise überhaupt antreten können, überreiche ich Dir – Valentin sei Dank – eine rote Rose. Bitte behalte sie in der Hand, Du wirst sie noch brauchen.
Siehst Du, wie schön sie blüht? Nimmst Du ihren samtenen Duft wahr? Ja? Dann lade ich Dich ein, noch einmal bewusst an dieser kostbaren Blume zu riechen und gleichzeitig Dein Augenmerk nur auf die Blüte zu richten.
Während Xandra die Blüte in ihrer Hand aufmerksam betrachtet, beginnt sich diese wie von Zauberhand von innen heraus zu öffnen. Gleichzeitig wächst sie und bald schon befindet sich die Betrachterin in einer Art Blütentunnel. Staunend bewundert sie die wunderbaren Farben, welche ihr hier entgegenkommen. Das Rot erinnert sie an einen Sonnenuntergang am Meer. Behutsam streicht sie mit den Händen über die zarten Blütenblätter, welche sogleich einen intensiven Duft zu verströmen beginnen. Xandra befindet sich nun tief in diesem Blütentunnel, doch bald schon entdeckt sie, dass sie sich dem Ausgang nähert. Nach einem weiteren tiefen Atemzug findet sie sich in einem grossen, wunderschönen Garten wieder.
Willkommen, liebe Xandra! Nimm bitte Platz! Schau, hier unter diesem wohlriechenden Rosenbusch steht eine Bank. Von hier aus wirst du nun Deine Geschichte direkt miterleben können. Und auch, wenn Du hier sitzen bleibst, wird Dir nichts entgehen, denn hier, an diesem Ort, hast Du magische Augen und Ohren, die alles sehen und hören! Ich wünsche Dir viel Freude!
In traulichem Zwiegespräch sassen Ranja und Silemon unter einem Apfelbaum und genossen dessen Schatten und den Duft seiner Blüten. Bienen und Schmetterlinge summten, die Sonne schien warm vom wolkenlosen Himmel – es war paradiesisch schön.
Sie liebten diese Momente zu zweit. Denn oft waren sie von all den Arbeiten, welche sie beide hier in diesem Paradiesgarten zu tun hatten, so sehr eingenommen, dass sie kaum Zeit füreinander fanden.
Ja, dieser Paradiesgarten! Das Grosse Sein hatte sie vor langer Zeit zu sich gerufen und ihnen gesagt: "Ich schenke euch diesen Flecken Land. Ihr könnt damit machen, was ihr wollt."
Voller Freude und Eifer hatten sie sich ans Werk gemacht. Sie pflanzten Blumen, Sträucher und Bäume und legten Wege an. Sie entdeckten Quellen und leiteten deren Wasser in Bächen und kleinen Wasserfällen durch ihren Garten. Mit der Zeit entstanden auch Seen, in welchen sich die verschiedensten Fische tummelten.
Zu ihrem Erstaunen wuchs der Garten beinahe täglich und bald schon dauerte es eine Tagesreise, um von einem Ende zum andern zu kommen. Nach wie vor aber waren sowohl Silemon als auch Ranja beglückt von ihrem Tun.
Während sie nun so traulich unter dem Apfelbaum sassen, hörten sie im Gras plötzlich ein Zischen. Eine grosse, grüne Schlange bewegte sich rasch und geschmeidig auf die beiden zu. Erschrocken sprangen Ranja und Silemon auf und wollten hinter dem Apfelbaum Zuflucht suchen. Doch Ranja strauchelte und schon wickelte sich die Schlange um ihr Bein, biss zu – und Ranja löste sich mitsamt der Schlange vor Silemon in Nichts auf.
Fassungslos schaute Silemon auf die Stelle, an der eben noch Ranja gestanden hatte, die Augen vor Schreck weit geöffnet. Nun war da einfach Leere, sie war weg. Verzweifelt suchte er die ganze Umgebung ab – Ranja war und blieb verschwunden.
Tief erschüttert setzte sich Silemon wieder unter den Apfelbaum. Alles in ihm sträubte sich und rebellierte. Wütend wandte er sich an das Grosse Sein, klagte, weinte, schrie. Doch das Grosse Sein schwieg.
Viele Tage und Nächte verharrte Silemon unter dem Apfelbaum, in der steten Hoffnung, Ranja werde dort wieder erscheinen. Doch der Platz neben ihm blieb leer.
Niedergeschlagen verliess Silemon nach sieben Tagen und Nächten diesen bis anhin so geliebten Ort und begann zu gehen. Er durchstreifte den gemeinsam angelegten Garten, weinte, als er all die Blumen wiedersah, welche Ranja mit so viel Sorgfalt gepflegt hatte, starrte mit ausdruckslosen Augen in die Seen und Weiher, wo die Fische scheinbar gleichmütig ihre Runden zogen. Er ging und ging. Mit jedem Schritt schien sich der Garten noch mehr zu weiten, so dass Silemon gar nie an dessen Grenzen kam. So ging er einfach immer weiter.
Viele Tage und Nächte wanderte Silemon ohne sich je auszuruhen, bis er irgendwann erschöpft zusammenbrach und auf der Stelle einschlief.
Da stand auf einmal Ranja vor ihm.
"Sei nicht mehr traurig, Silemon! Mir geht es gut. Ich bin an einem wunderbaren Ort, wo ich viel lerne. Auch du wirst bald viel Schönes erleben. Wir werden uns wiedersehen!"
Ein leichter Nebel stieg auf, dann war Ranja wieder verschwunden.
Silemon erwachte und sprang auf. Doch von Ranja fehlte jede Spur.
Wieder wollte ihn die Verzweiflung überwältigen. Doch die Müdigkeit war grösser und er schlief wieder ein.
Zarte Klänge drangen an Silemons Ohr. Töne, wie er sie noch nie vernommen hatte. Als er die Augen öffnete, wurde ihm schwindelig. Er schwebte im Weltenall umher, um ihn herum klangen und sangen Sterne und Planeten.
Silemon schloss die Augen wieder, in der Überzeugung zu träumen. Doch als er sie erneut öffnete, befand er sich immer noch im Weltenall, schwerelos schwebend.
Ein feingliedriges Wesen erschien auf einmal vor Silemon und lächelte ihn an.
"Willkommen, Silemon! Ich bin Estellina. Meine Aufgabe ist es, dich hier etwas herumzuführen."
"Warum bin ich hier? Ich verstehe gar nichts mehr!" Silemon blickte Estellina ratlos an.
"Du bist hier, um viel zu lernen, Silemon. Denke daran, was Ranja dir im Traum gesagt hat."
Der Traum, in dem Ranja ihm erschienen war, kam Silemon auf einmal weit entfernt vor. Doch dann erinnerte er sich. Auch er werde etwas sehr Schönes erleben, hatte sie ihm vorausgesagt.
"Weisst du, wo Ranja ist?" fragte er Estellina.
Diese nickte, wandte sich dann aber ab. "Komm!"
Gemeinsam schwebten sie durch die Milchstrasse. Silemon verlor beinahe das Bewusstsein in dieser unbeschreiblichen Weite und Fülle an Sternen, Planeten und leichten Nebeln, welche alles miteinander zu verweben schienen. Dazu kamen diese unglaublichen Klänge. Es kam ihm vor, als spiele hier ein gewaltiges Himmelsorchester Musik, die sein tiefstes Inneres berührte. Er spürte, wie alle Traurigkeit und Verzweiflung von ihm abfiel.
Immer tiefer drangen sie ein in die unendliche Weite des Universums.
Dann hielt Estellina auf einen silbrig-weissen Planeten zu.
"Hier ruhen wir uns erst mal ein wenig aus, Silemon. Morgen sehen wir weiter."
Während vieler Monde erkundete Silemon an Estellinas Seite den Weltenraum. Sie besuchten Sterne und Planeten und er lernte ihm bislang unbekannte Wesen kennen. Sie lehrten ihn die Zusammenhänge der Gestirne und deren Bahnen kennen. Sie machten ihn vertraut mit dem Wissen um die Schwingungen und Vibrationen der Sterne. Sie zeigten ihm auch den Einfluss der Gestirne auf den blauen Planeten. Er begann die Grosse Geometrie in diesem unendlichen Gefüge zu erahnen und spürte gleichzeitig, dass das Grosse Sein so immens gross war, dass ein menschlicher Geist nie imstande sein würde, dies zu erfassen. Er lernte und verstand bald, dass all die Sterne, Nebel und Galaxien und mit ihnen die dort lebenden Wesen, so unterschiedlich sie auch waren in Aussehen und Form, aus demselben Grossen Sein hervorgegangen waren wie sein Heimatplanet, wie er selbst und Ranja.
Am liebsten aber lag Silemon auf Estellinas Stern, hörte den bezaubernden Klängen zu, welche von all den verschiedenen Himmelskörpern ausging und schaute sehnsüchtig zum blauen Planeten, auf welchem er Ranja wusste. Wie sehr er sie vermisste!
Estellina schaute ihn oft verständnisvoll an, sagte aber meist nicht viel.
Bis zu jenem Tag, als der blaue Planet genau unter ihnen seine Bahn zog.
"Silemon, deine Zeit hier ist um. Du hast alles gelernt, was ein menschliches Wesen lernen kann. Du wirst dich heute noch auf den Heimweg machen, zurück auf den blauen Planeten und zurück zu Ranja."
Estellina nestelte ein Säckchen aus ihrem Gewand. "Hier drin ist all das, was für dich und euch alle dort wichtig ist, enthalten. Ranja wird wissen, was tun damit."
Sie übergab Silemon das Säckchen. Ein silbrig glänzender Sternenkristall lag darin. Noch während er dieses funkelnde Kleinod betrachtete, fiel er in einen tiefen Schlaf. Als er wieder zu sich kam, lag er unter dem Apfelbaum, diesem einstmals so vertrauten Ort.
Nachdem Ranja von der Schlange gebissen worden war, öffnete sich vor ihr der Zugang zu einer Höhle. Etwas ratlos blieb sie stehen, bis aus dem Dunkeln eine Frau auftauchte. Sie schien kein Alter zu haben, jedoch drückten ihre Augen eine Liebe aus, wie Ranja sie noch nie gesehen hatte. Sogleich fasste sie Vertrauen zu dieser Unbekannten.
"Ich bin die Erdenmutter. Herzlich willkommen, Ranja!"
"Warum bin ich hier, Erdenmutter? Warum ohne Silemon?"
Die Erdenmutter lächelte verständnisvoll.
"Ich weiss, diese Trennung war für euch beide ein grosser Schrecken. Doch sei gewiss, ihr werdet euch wiedersehen. Vorher werdet ihr noch geschult und dürft ihr vieles lernen, was für euch und für jene, die nach euch kommen, dereinst sehr wichtig sein wird."
Die Erdenmutter wandte sich um und deutete Ranja, ihr zu folgen.
Der Weg schien immer tiefer in die Erde und in die Dunkelheit zu führen. Merkwürdigerweise verspürte Ranja keine Angst. Ihre Augen hatten sich rasch an die Dunkelheit gewöhnt und sie sah, wie sich felsenähnliche Gänge abwechselten mit solchen, die nur aus Erde bestanden. Lange gingen sie dahin, in tiefem Schweigen. Dann öffnete sich auf einmal der Gang und sie betraten eine weite Höhle. In der Mitte brannte ein warmes Feuer, den Wänden entlang konnte Ranja Wandmalereien entdecken, die sie jedoch nicht entziffern konnte.
Die Erdenmutter verschwand in einer Ecke und kam gleich darauf mit einem Büschel wohlriechender Kräuter zurück. Sorgfältig hielt sie diese über das Feuer, damit sie zwar ihren Duft verströmen konnten, nicht aber verbrannten. Bald schon erfüllte ein wohltuender Geruch die ganze Höhle, welcher Ranja tief beruhigte.
Die Erdenmutter lächelte.
"Liebe Ranja, du wirst hier bei mir viel über die Schöpfung und das Schöpfen lernen. Mit diesem Wissen wirst du dereinst zurückkehren in euren Garten und es mit Silemon und denen, die nach euch kommen, teilen."
Zeit war für Ranja hier unten bald kein Begriff mehr. Die Erdenmutter erklärte ihr geduldig die Zusammenhänge von Leben und Leben schaffen und die Geheimnisse des Frauseins. Sie lehrte Ranja die Begleitung von jeglichem Leben, sei es Mensch, Tier oder Pflanze. Sie erklärte ihr die Weisheit des menschlichen Körpers und weihte sie ein in die Kunst des Heilens mit Kräutern, Ölen, Heilgesängen und Handreichungen.
Ranja lernte auch, auf die Geräusche im Erdinnern zu hören: Wasser, welches sich irgendwo seinen Weg bahnte oder die feinen Bewegungen, von heranwachsenden jungen Sprösslingen verursacht, zu erkennen. Sie lernte wahrzunehmen, wann eine Pflanze ihre Hilfe brauchte.
Lange lange Zeit verweilte Ranja bei der Erdenmutter in der Höhle. Dann kam der Tag, an welchem diese sagte: "Ich begleite dich heute zurück an die Erdoberfläche. Ich habe dir alles beigebracht, was du wissen musst für dein Leben und jenes von denen, die nach euch kommen."
Die Erdenmutter griff in die Falten ihres weiten Rockes und nahm ein paar Samen heraus.
"Nimm diese Samen, Ranja, und trage sie sorgfältig zurück auf die Erde. Suche mit Silemon einen geeigneten Platz, um sie zu säen. Legt den Sternenkristall dazu, den Silemon bei sich haben wird. Und dann" - die Erdenmutter lächelte - "liebt euch genau an diesem Ort. Es wird ein geheiligter Ort sein, den ihr damit gemeinsam erschafft."
Die Erdenmutter nahm Ranja liebevoll in ihre Arme, flüsterte ihr etwas ins Haar – und dann wurde es dunkel um sie.
Als Ranja wieder aufwachte, befand sie sich am Fusse des Apfelbaumes.
Wie gross war die Freude, als sie dort Silemon entdeckte!
Die beiden fielen sich in die Arme, lachten und weinten zugleich.
Viele Tage und Nächte lang sassen sie dann an diesem ihrem geliebten Platz und erzählten sich, was sie alles erlebt und gelernt hatten.
Hand in Hand machten sie sich an einem Abend während des Sonnenuntergangs auf, einen geeigneten Platz für die Samen und den Kristall zu suchen.
Beide hatten sie gelernt, auf die Stimmen und Zeichen der Erde und der Himmelskörper zu achten. Und so fanden sie recht bald den Ort, der ihnen beiden richtig erschien.
Still gruben sie ein Loch, legten die Samen und den Sternenkristall hinein und deckten das Ganze wieder zu. Zärtlich umfing nun Silemon seine Gefährtin und sie liebten sich auf diesem geheiligten Platz.
Als sie am Morgen aus ihrer Verschmelzung erwachten, zeigte sich bereits ein zarter Sprössling, der sein Köpfchen aus der Erde streckte. Er wuchs und wuchs, bildete bald einen kräftigen Baumstamm und kräftige Äste streckten sich gen Himmel. Sie spürten unter sich seine Wurzeln, welche bald auch an die Oberfläche drängten. Der Baum wuchs weiter und weiter, bis seine Wurzeln den ganzen blauen Planeten umfassten und seine Äste den Himmel berührten.
Der Weltenbaum war geboren, als Symbol der grossen, reinen Liebe. In sich trug er die Weisheit und das Grosse Wissen von Himmel und Erde.
Ranja und Silemon wurden Eltern von vielen Kindern, welche mit diesem Wissen und dieser Weisheit aufwuchsen. Sie gaben dies später weiter an ihre eigenen Nachkommen.
Es gibt heute noch Menschen, welche den grossen Weltenbaum mit ihren inneren Augen wahrnehmen können. Manche behaupten, Ranja und Silemon darunter zu sehen, in liebender Verschmelzung.