1944, Devon, England
Die Luft war schwer vom Haarspray und dem Parfum der anderen Mädchen. Wieder mussten sie sich in einen kleinen Raum zwängen, wo es nur verschmutzte, zum Teil zerbrochene Spiegel gab, um sich zurechtzumachen.
“Fünf Minuten, Mädchen!”, rief eine männliche Stimme von irgendwo her. Hereingetraut hatte er sich nicht, wäre ja auch noch schöner gewesen. Nur einmal hatte es ein Kerl versucht sie, natürlich unbeabsichtigt, beim Umkleiden zu erwischen. Johanna hatte ihm die Nase gebrochen und er konnte die nächsten drei Tage nicht aus seinem linken Auge sehen. Schade, denn ihr einstudierter Auftritt ist berühmt, ebenso wie Johannas rechter Haken. Sie hatte Klempnerin gelernt, eine Folge der Männerknappheit im Land. Beinahe jede der Frauen kam aus einem maschinellen Betrieb. Christine war auf dem Bau gewesen, Rachel hat irgendwo in einer Garage zusammen mit drei anderen Frauen Autos repariert. Wann immer ihr alter LKW, in dem sie von Lager zu Lager touren, den Geist aufgab, kletterte Rachel vorne in die Motorhaube und brachte das Ding wieder zum Laufen.
Keine im Raum hätte sich vor zehn Jahren vorgestellt im Dreck zu wühlen, Häuser zu bauen oder Mechanikerin zu werden; dafür waren Männer da. Der Krieg hatte ihre Welt jedoch zu einer anderen werden lassen. Männer waren nun an der Front und die Frauen … nunja, wie sagte Rosie im Slogan so schön: wir schaffen das!
Carmen war eine Krankenschwester gewesen und eigentlich wäre sie mit anderen aus ihrem Kurs in eines der vielen Lazarette gebracht worden, wenn sie nicht ein so hübsches Gesicht gehabt hätte. Dasselbe Schicksal hatte jede von ihnen ereilt. Sie alle waren zu hübsch, als dass die Army sie irgendwo hinschicken würde. Nein, für Frauen wie sie gab es eine viel bessere Lösung, und das war Unterhaltung.
Der Krieg ging nun schon vier Jahre, ein Ende war abzusehen, doch die meisten waren bereits viel zu lange von Zuhause fort. Waren gezeichnet vom Krieg und dessen Bildern, weshalb die United Service Organisation auf ihren neusten Streich kam, nämlich gutaussehenden Frauen genau in diese Gebiete zu schicken, um vor den Herren zu tanzen.
Die Bezahlung war gut, was ein Grund gewesen war, dass Carmen damals zugesagt hatte. Rückblickend betrachtet hätte sie das Bargeld, was dieser Schnösel vom USO ihr in die Hand gedrückt hatte, lieber in seinen offenen Arsch geschoben.
Die Bomben, die irgendwo in der Ferne detonierten, im Minutentakt egal ob Tag oder Nacht, waren das Schlimmste. Ihr LKW fuhr durch zerklüftete Landschaften, deren Boden oft noch rot vom Blut der gefallenen war. Nie hatten sie eine Schlacht miterlebt, doch die Folgen und Nachwirkungen waren überall zu sehen.
“Alles klar, euer Auftritt Candy Dolls.” Candy Dolls, mehr waren sie nicht. Perfekt herausgeputzte Püppchen, die vor gierigen Männeraugen ihre Hintern wackelten.
Rita ging voraus, das tat sie immer. Sie schien die Aufmerksamkeit wirklich zu genießen. Die Männer eure war bereits zu hören, wie sie unter lasziven Pfiffen die Damen auf der provisorisch gebauten Holzbühne willkommen hießen.
Alles, was sie sahen, waren schwer geschminkte Frauen im selben knappen Outfit, das gerade einmal die Knie bedeckte und so eng geschnitten war, dass man jede Rundung sah. Carmen war die Blonde unter ihnen. Nein, auch das war nicht ganz richtig. Es gab drei Blonde, doch sie war die etwas dunkler. Mehr interessierte die Männer sowieso nicht. Alles, was sie zu sein hatten, waren hübsche Frauen, die man nur an der Farbe ihrer zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden Haar auseinander halten konnte, wenn man denn wollte.
“Guten Abend, Gentlemen!”, begann Rita ihre Ansprache. Sie winkte und lächelte den jubelnden Herren zu. In der Zwischenzeit stellten sich die anderen hinter ihr auf mit demselben Lachen und den großen Augen, die sie auf niemand bestimmten im Raum warfen. Jeder sollte sich persönlich angesprochen fühlen, das war ihr Auftrag.
Carmen ließ es über sich ergehen, kannte jeden Schritt und jede Note mittlerweile im Schlaf. Vermutlich könnte man ihr die Lustlosigkeit ansehen, wenn man denn genau hinschauen würde. Alles, was für die Soldaten wichtig war, waren jedoch schöne Gesichter und lange Beine.
Ihr Auftritt ging nur 15 Minuten mit Zugabe. Zu patriotischen Trompetenklängen verließen sie die Bühne und kehrten, nicht ohne eindeutige Angebote aus dem Publikum zu erhalten, in ihre Räume zurück.
Das Lächeln behielten sie bei, bis sie hinter der Tür verschwunden waren und erneut Platz vor den schmutzigen Spiegeln nahmen. Jedes Mal, derselbe Ablauf.
“Du musst mehr rechts stehen, Rachel. Du warst mir fast auf den Fuß getreten!”
“Und wenn schon, hätte doch keiner gemerkt.”
“Ich hätte es gemerkt!”
“Prue, lass gut sein. Zieh dich um, wie werden erwartet.”
Auf Ritas Ermahnung hin schwiegen alle und begannen sich umzuziehen. Neben einem Auftritt gehörte es auch zu ihren patriotischen “Pflichten” sich um die Soldaten zu kümmern. Prostituierte waren sie keine, auch wenn etliche Männer sie als genau das sahen. USO hatte ihnen aufgetragen - wie waren die Worte gewesen - nett zu lächeln und die Soldaten auf ihre Art glücklich zu machen. Während sie aber auf der Bühne getrennt waren von einer unsichtbaren Mauer, mussten sie sich nun unter sie mischen, in einer der Kavernen, die jetzt schon sicherlich überquoll vor wartenden GIs.
Statt Haarspray empfing sie dort der dicke Rauch von qualmenden Zigarren und dem Geruch nach altem Schweiß. Die Musik dröhnte laut, sodass man kaum das eigene Wort verstand. Taktik, damit wenigstens hier die Schläge der Bomben aus der Ferne nicht zu hören waren. Die Mädchen, eine Gruppe aus 10 Frauen, gingen und verließen solche Orte immer nur zusammen. Es war noch nie etwas passiert, doch vielleicht auch gerade deshalb fühlten sie sich am Sichersten ständig beisammen zu sein. Auch hier ging Rita stets voraus.
Sie war nicht die größte von ihnen, das war Prue, oder die Stärkste, das war Christine. Trotzdem strahlte sie Selbstsicherheit aus, die ihnen allen Kraft gab. Immerzu redete sie davon, wie wichtig ihre Sache war, wie sie dazu beitrugen den Krieg zu gewinnen und dass sich Millionen Menschen darauf verließen, was hier in Europa geschah. Ob sie selbst wirklich daran glaube, bezweifelten einige. Diese Zweifel aber laut auszusprechen, wagte niemand.
Der Raum war wie zu erwarten war zum Bersten gefüllt mit Soldaten, deren Brust stolz erhoben war. Die meisten hatten sich sogar ihre Mützen angezogen um verwegener zu wirken. Dass dadurch ihre Kriegswunden nicht versteckt wurden, war ihnen gleich. Diese trugen sie wie Medaillen. Ganze Arme waren eingewickelt und eng an den Körper gepresst, Schusswunden, wie Carmen mittlerweile wusste. Ab und zu hatten sie auch die Verwundeten in den Lazaretten besucht, wenn diese zu schwach gewesen waren zu laufen. Die Bilder, dieser schweißgebadeten und todkranken Männer auf den blutdurchtränkten Liegen, würde sie nie wieder aus dem Kopf bekommen.
Carmen spürte, wie ihr saure Galle hochkam, weshalb sie eilig die Bar aufsuchte, um sich einen Schnaps zu bestellen. Der Soldat, der für den Ausschank zuständig war, bemerkte etwas, vermutlich musste er seine Meinung laut aussprechen, wie ungewöhnlich es für eine Dame wie sie war, harten Schnaps zu trinken. Carmen war jedoch nur darauf konzentriert ihren Mageninhalt nicht zu verlieren, was angesichts des vorherrschenden Odors nicht einfach war. Als schließlich das Glas Schnaps vor ihr stand, kippte sie es in einem Zug hinunter. Der Brand im Gaumen war besonders schlimm, vermutlich war es eine selbstgebrannte Kreation. Es schmeckte scheußlich und ließ Carmen angewidert das Gesicht verziehen, aber es half ihren Magen zu beruhigen.
“Noch einen, bitte”, sagte sie leise, beinahe zu leise, doch der Soldat verstand ihre Handgeste mit dem wedelnden Glas.
Kaum, als sie auch das zweite Glas geleert hatte, war sie umringt von vier Männern.
“Hallo Blondie, du hast einen netten Auftritt geliefert.”
“Der Abend kann gerne so weitergehen, ich habe gesehen, welche Blicke du mir zugeworfen hast.”
“Sie hatte nur Augen für mich, stell dich hinten an.”
Während die Herren sich stritten, wem Carmens volle Aufmerksamkeit nun gegolten hatte, versuchte sie ein wenig Abstand zwischen sich und der Gruppe zu bringen, die ihr eindeutig zu nah gekommen waren. Die Musik des alten Plattenspielers, der irgendwo versuchte die Menge zu übertönen, schmerzte ihr schon beinahe in den Ohren.
“Kein Grund zu gehen”, sagte einer der Vier und packte sie mit breitem Grinsen an der Schulter.
“Verzeihung, Gentlemen, aber ich werde woanders gebraucht.” Sie setzte ein scheues Lächeln auf in der Hoffnung, schnellstens aus der Situation zu kommen.
“Die anderen amüsieren sich doch schon prächtig. Bleib hier und tanz für uns.”
“Carmen!”, hörte sie Rita sagen. Ehe Sie sich umdrehen konnte, war Rita bereits zwischen sie und die Männer getreten. “Hier bist du, ich habe dich schon gesucht. Meine Herren, ich muss sie euch leider entführen.” Sanft aber bestimmt schob sie die Hand des Mannes, der Carmen noch immer fest im Griff hielt, beiseite.
“Du kannst gerne bleiben, Blondie wollte gerade für uns tanzen.”
“Wollte sie das?” Gespielt neugierig zwinkerte sie Carmen zu und kicherte. Carmen hingegen hielt sich am Tresen fest, um ihr Zittern zu verbergen. “Ich fürchte das muss warten, wir haben alle einen strengen Zeitplan. Ich bin sicher wir können uns später einig werden.”
Carmen beobachtete, wie Rita nun ihre Finger über die Wange des Größten streichen ließ, der sofort nickte. “Aber gerne doch, Ladies.” Noch immer mit den Wimpern klimpernd, lehnte sich Rita dem Mann sogar entgegen, sodass Carmen angeekelt das Gesicht verzog. Selbst mit Abstand brannte ihr der Bier- und Schweißgeruch in der Nase. Wie Rita das aushielt, war ihr ein Rätsel.
“Wir sehen uns, Darling.” Abrupt drehte sich Rita um, wobei ihre dunklen Haare im Schwung wehten. Ihre Hand ging zu Carmens Finger, die noch immer den Tresen umklammert hielten. Sanft griff sie zu, um sie vom Möbel zu lösen. Carmen ließ sich ohne zu zögern von ihr führen.
“Geht es dir gut?”, fragte Rita ruhig, ihre Stimme war nun hörbar tiefer, als eben noch während des Gesprächs. “Hat er dich angefasst?”
“Nein”, erwiderte Carmen und widerstand gleichzeitig dem Drang, sich noch einmal umzudrehen um sich zu vergewissern, dass sie nicht verfolgt wurden. Sie erwartete, dass Rita sie zur Gruppe mitnehmen würde, doch stattdessen liefen sie beide direkt auf die Tanzfläche. “Rita, was wollen w-”
“Wir tun das, was sie wollen. Wir tanzen.” Sie legte beide Hände auf Carmens Schultern, und diese starrte nur ungläubig zurück. Sie kam sich albern vor und mehr denn je auf dem Präsentierteller. Die ersten begannen sich bereits zu ihnen umzudrehen und zu pfeifen.
“Ignorier sie”, meinte Rita mit einem Lächeln. “Schau mich an.”
Mit ihrer stoischen Ruhe wartete Rita, bis Carmen sich schließlich geschlagen gab und zögerlich ihre Arme hob. Sie war sich unsicher, wo sie ihre Hände platzieren sollte und wedelte zunächst nur auf und ab, ehe Rita mit einem leichten Seufzen Carmens Hände an ihre Hüfte leitete.
Wieder hörte Carmen die Pfiffe der umstehenden Herren, doch sie versuchte Ritas Rat zu folgen und konzentrierte sich auf die braunen Augen ihrer Tanzpartnerin.
Über die Männer hinweg tönten nun Trompetenklänge, die scheppernd begannen mit hörbarem Hintergrundrauschen. Die Platte gab ihr bestes das Musikstück wiederzugeben. Rita machte den ersten Schritt. Völlig neben dem Takt lenkte Carmen mit ein. Für jemanden, der regelmäßig tanzte, machte sie in diesem Moment ein wenig schmeichelhafte Figur, was auch Rita auffiel.
“Hör auf die Musik, lass einfach los.” Carmen fixierte noch immer Ritas große Augen und begann den Rhythmus zu fühlen. In großen Kreisen tanzten sie auf Margaret Whitings Gesang. Irgendwann traute sich Rita sogar Carmen für einen kurzen Moment loszulassen und eigene Drehungen zu machen, oder aber Rita mit einer leichten Bewegung dazu zu bringen, es ihr gleichzutun. Jules sanfte Stimme und Ritas strahlende Augen beruhigten Carmen, bis sie sogar Spaß daran fand. Sie fühlte sich plötzlich sicher, umringt von fremden Soldaten und inmitten eines fremden vom Krieg gebeutelten Landes.
“Siehst du, alles ist gut”, sagte Rita, als die letzten Töne verklangen und sie sich nur noch gegenüberstanden. Carmens Hände waren mittlerweile nicht mehr an Ritas Hüfte. Wie selbstverständlich waren ihrer beider Finger ineinander verflochten.
____________________________________________________________________
Takoma Park, März 1946
Ein breiter LKW, halb ausgeladen, versperrte die Straße. Sehr zum Ärger einiger Anwohner, doch neuen Nachbarn gegenüber wollte man nicht bereits am ersten Tag seine hässlichsten Seiten zeigen. So blieben sie meistens nur kurz stehen um das Treiben zu beobachten, ehe sie weiter zogen. Die meisten Möbel waren zwar ausgeladen, standen aber noch im Vorgarten des kleinen Hauses, durch dessen Tür dutzende Helfer aus- und eingingen. Carmen sprang gerade erneut von der Ladefläche, ihre Knie schmerzten bereits vom ständigen Bücken und Heben. Doch die Aussicht endlich in einem eigenen Haus zu wohnen, ließ sie weitermachen.
“Die Garderobe als nächstes, Erdgeschoss dritter Raum rechts”, rief sie in gewohnt selbstsicherer Manier den Helfern zu, die sich eher unwillig daran machen die breite Garderobe aus Kirschholz zu bewegen.
Kurz schaute sie ihnen nach, nur um sicher zugehen, dass das wertvolle Möbel ohne Kratzer durch die Tür bugsiert wurde, ehe sie sich wieder daran machte die Kisten zu stapeln.
Der Krieg war nun schon seit beinahe einem Jahr vorbei und mit dem Land ging es langsam aber sicher voran. Immobilien waren so billig wie nie geworden, sodass Rita sich dank ihrer neuen Arbeit als Assistenz in der Justizbehörde und zusammen mit ihrem Ersparten ein Haus leisten konnte, das schöner nicht sein könnte. Dass sie sich dieses Haus zusammen mit Carmen gekauft hatte, war ein kleines Detail, das die meisten entschlossen zu ignorieren. Es war seltsam, aber als Krankenschwester war Carmen genau das, was Ritas jüngerer Bruder nun benötigen würde. Niemand hinterfragte also, weshalb Rita nun nicht nur ihre eigenen Kartons sortierte, sondern auch die von Carmen.
“Wenn die Küche steht, laden wir alle zu einer Gartenparty”, hörte sie Carmen von weitem rufen. Rita suchte den Vorgarten vergeblich nach ihr ab, bis sie sie winken sah. Carmen hatte die breite Fensterfront im Erdgeschoss aufgerissen und strahlte ihr nun entgegen.
Rita schmunzelte, stemmte aber gespielt skeptisch die Hände gegen die Hüften. “Wenn die Küche steht, brauch ich erst einmal etwas zu essen. Abgesehen davon wirst du kaum alle an einen Tisch bekommen.”
Nach dem Krieg hatte sich ihre Tanzgruppe schnell zerschlagen. Während ihrer gemeinsamen Zeit hatten sie eine Einheit bilden müssen, waren regelrecht gezwungen gewesen, da sie füreinander die einzigen Verbündeten waren. Nun, zurück in der Heimat, hatte jede eilig das Weite gesucht, um die letzten Jahre ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Die Candy Dolls gab es nicht mehr, nur noch Rita und Carmen.
“Ich werde sie trotzdem einladen.” Rita schaute zur Seite. “Vorsicht! Das kommt hier nicht hin, zurück!”, kommandierte sie nun und verschwand aus Carmens Blickfeld. Einen kurzen Moment genoss sie die kühle Brise, ehe sie sich wieder daran machte in den LKW zu klettern.
Carmen und Rita hatten beinahe all ihre Habseligkeiten eingepackt, mehr schlecht als recht. Einiges ist dabei auch zu Bruch gegangen, was Rita die Arbeit nun nur erschwerte. Lampen standen direkt neben Kisten mit Geschirr oder anderem Hausrat. Daher verwunderte es Rita nicht, hinter einem Stapel wild zusammengefalteter Handtücher einen Plattenspieler zu finden.
Sie war schon wieder außer Atem vom Herumklettern im LKW, der Anblick des Geräts ließ sie aber schmunzelnd innehalten.
Es musste Carmens Spieler, sie selbst hatte nie ein solch technisches Gerät besessen. Neugierig öffnete sie die Grüne Holzbock, in dessen Innern die Scheibe zum Vorschein kam. Eine Kurbel gab es nicht, sehr zu Ritas verwundern, dafür aber einige Platten, die in einer Tasche am Deckel des Kastens aufbewahrt wurden. Im Schneidersitz sitzend zog sie nun die schwarzen Platten heraus und versuchte die Titel zu entziffern.
“Sie einer an, Carmen wie hast du das geschafft?”, flüsterte sie, als ihr ein spezielles Exemplar ins Auge stach.
Sie war nicht unbedingt vertraut mit der Technik, doch trotzdem legte sie die Platte auf und versuchte den Spieler zum Laufen zu bringen, indem sie einige Knöpfe drückte. Sie schaffte es sogar es zum Laufen zu bringen, wenn auch viel zu langsam, sodass die Musik eher scheppern durch den LKW hallte.
“Was machst du denn?”, kam plötzlich die Stimme von Carmen. Sofort sprang sie hinein, ihre Schürzte, die mit Staub bedeckt war, bekam zusätzliche schwarze Streifen, als sie mit den Knien auf dem Boden herumkrabbelte. “Das sollte eine Überraschung werden.”
Mit geübten Fingern stellte sie die Platte aus, deren Musik eher nur ein klägliche Ansammlung an undefinierbaren Tönen war.
“Kein gutes Versteck, wenn du mich fragst”, gab Rita belustigt zurück, während sie Carmen beobachtete. “Wieso machst du es aus?”
“Ich wollte es erst spielen, wenn alles eingerichtet ist.”
Eine sentimentale Geste war typisch für Carmen, doch Rita war zu ungeduldig. “Nein, bitte, lass sie spielen.”
Trotz des spärlichen Lichts im LKW, konnte Rita jede Mimik in Carmens Gesicht lesen. Sie wusste, Carmen würde bald nachgeben. “Bitte.”
Mit einem geschlagenen Seufzen drehte Carmen den Plattenspieler erneut an, doch unter ihrer Führung, erschallte das Lied laut und klar.
Sofort war Rita aufgesprungen und hatte Carmen zu sich gezogen, um sich im Tanz mit ihr zu drehen, wie damals in der Kaserne, als das Lied zum ersten Mal für sie spielte. Das Innere des Gefährt bot nicht viel Platz, doch es war genug für sie beiden. Mehr benötigten sie nicht.
____________________________________________________________________
Oktober, 1953
Wutentbrannt zerriss Rita den Brief in seine Einzelheiten und schmiss sie zu Boden. Als würde sie sie auch noch im zerstörten Zustand verhöhnen, segelten sie sanft durch die Luft. Carmen beobachtete stumm das Geschehen, Rita hatte den Brief vorgelesen. Man sollte meinen, sie hätten überrascht sein sollen, doch insgeheim hatten sie beide jeden Tag mit so einem Brief gerechnet, auch wenn es keine ausgesprochen hatte.
“Verdammte Bastarde”, spukte Rita aus und kickte mit dem Fuß gegen die Küchenzeile. “Entlassen wie nutzloses Vieh!”
Noch überwog der Hass auf diejenigen, denen sie ihre Lage nun zu verdanken hatten, statt der Angst vor dem, was nun kommen würde. Sie waren auf Ritas Einkommen angewiesen. Carmen verdiente kein Geld, sie war vollzeitig zu Hause um Ritas kranken Vater zu pflegen der nun seit vier Jahren bei ihnen wohnte.
“Ich verklage die”, meinte Rita plötzlich bestimmt. “Sie können mich nicht einfach feuern.”
Doch, genau das konnten sie und das wusste Rita auch. Seit Eisenhower vor wenigen Monaten per Dekret bestimmt hatte, dass Rita auf Grund ihrer Lebensgemeinschaft mit Carmen vom öffentlichen Dienst suspendiert werden durfte, hatte Carmen jeden Tag mit der Kündigung gerechnet.
“Sie werden jede Klage abweisen”, stellte sie nüchtern fest.
“Soll ich also einfach aufgeben? Akzeptieren, dass sie mir meine, unsere, Lebensgrundlage nehmen? Dieselben Leute, vor denen ich mit dem Arsch gewackelt habe, als es ihnen gepasst hat?”
“Wir haben Ersparnisse, es wird schon gehen. Dann suche ich mir eben doch eine Stelle als Krankenschwester. Wenn ich Schicht habe, kannst du dich um deinen Vater kümmern.”
Rita seufzte und verdrehte die Augen. Ihr Vater war zu einer Bürde geworden, wenn seine Umstände, so schlimm sie auch waren, ihnen nicht sogar willkommen gewesen wären. Natürlich hatte sie gerne zugestimmt für ihn zu sorgen, als sich die Anzeichen einer Demenz verschlimmert hatten. Rita war sein einziges Kind und sie liebte ihren Vater. Da Carmen als ausgebildete Krankenschwester geradezu perfekt gewesen war, um für ihn zu sorgen, sahen alle in ihr nur die Haushälterin. Die Fragen, wieso sie beide zusammen wohnten, hatten mit einem Mal aufgehört. Trotzdem verschlimmerte sich der Zustand ihres Vaters von Tag zu Tag und wurde zu einer Belastung. Mehr noch in Zeiten wie diesen.
Beruhigend legte Carmen ihre Hand auf Ritas Arm, die nun tatsächlich allmählich die Wut aus ihren Augen verlor.
“Wir schaffen das schon.”
_____________________________________________________
April, 1954
Die Trauerfeier war ein öffentliches Event, dem sie sich nicht entziehen konnten. Als einzige lebende Verwandte war Rita daher auch ständig im Mittelpunkt. Freunde aus ihrer alten Heimat Virginia waren extra angereist, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Heuchlerisch, wie Rita fand. Schließlich hatte niemand während der letzten zehn Jahre auch nur einmal gefragt, wie es ihm ging. Doch nun, am Grab, standen sie wie die Geier.
“Mein Beileid, er war ein guter Mann.”
“Hatte es so schwer die letzten Jahre, großartiger Mensch.”
“Er bleibt unvergessen.”
Fremde Menschen schüttelten ihr die Hand, und jeden einzelnen musste die anlächeln, während sie sich für geheuchelte Worte bedankte. Ihr einziger halt war Carmen, die ein wenig Abseits stand und die Menge beobachtete. Wie sehr sie sie doch nun an ihrer Seite gebraucht hätte, doch sie beide wussten, dass es Carmen offiziell nicht zustand.
Überhaupt interessierte sich kaum einer für die blonde Frau, bis sie während des Mittagessens, das sie verpflichtet waren in ihrem Haus für all die Trauernden abzuhalten, erfuhren, dass sie es gewesen war, die Ritas Vater die letzten Jahre genau hier gepflegt hatte.
“Erstaunlich, Sie haben Ihre besten Jahre dem Vater Ihrer besten Freundin geopfert”, bekam sie dabei oft zu hören, und Carmen blieb nur stumm und nickte. Rita war angespannt, sodass ihr Carmen immer wieder zärtlich über die Schultern fuhr. Hier konnte Carmen ihr beistehen, wenn auch nur in kleinen Handbewegungen wie diese.
“Was machen Sie nun?”, fragte eine Mrs Collins nach der Trauerfeier. “Werden Sie eine Stelle im Krankenhaus suchen?”
Eine berechtigte Frage, auf die Carmen vorbereitet war. “Das habe ich schon. Ich arbeite seit kurzem im städtischen Krankenhaus.” Ihre Antwort war wahrheitsgemäß, dennoch war sie nicht genug.
“Sie haben so viel geopfert, nun sollten Sie leben. Es ist noch nicht zu spät, Sie finden sicher auch noch jemanden, mit dem Sie alt werden können.” Mrs Collins drückte den Arm ihres Mannes an sich, der dies über sich ergehen ließ.
"Und Sie? Nun da ihr Vater tot ist, werden Sie sicher sein Haus verkaufen?"
Hörbar atmete Rita neben Carmen ein. Es dauerte kaum einen Wimpernschlag, ehe Rita antwortete. "Dieses Haus, ist mein Haus. Ich habe es gekauft zusammen mit Carmen, Mrs Collins." Sie wandte sich ab, um nun ihre Stimme noch lauter zu erheben. "Ich danke Ihnen, für all ihre warmen Worte, doch die Trauer übermannt mich fast. Ich bitte Sie daher zu gehen."
Mrs Collins wurde blass und schien empört. "Nun aber, wie reden Sie, die meisten haben noch gar nicht ihr Essen beendet."
"Verschwinden Sie."
Sie wartete nicht, bis die Gesellschaft sich von dem Schock erholte, sondern stürmte nach oben davon. Carmen blieb zurück, und wartete, bis jeder zur Tür hinausgegangen war, wobei sie sich auch das ein oder andere Kommentar anhören musste. Sie ertrug alles stumm.
“Rita?”, rief sie nach oben. “Sie sind weg, komm bitte wieder runter.”
Als ob Rita oben am Geländer, unsichtbar für alle anderen, gewartet hätte, erschien sie sofort auf den obersten Stufen. “Weg, dann geht doch einfach mit ihnen”, rief sie. “Geh! Such dir einen Ehemann! Was hält dich hier noch?” Ritas sonst gütige Augen funkelten vor Wut, was Carmen schockiert innehalten ließ. Sie zögerte. Scheinbar eine Sekunde zu lang, da Rita sich abrupt umdrehte und verschwand.
Es vergingen Stunden, in denen sie sich aus dem Weg gingen. Rita hatte sich in ihrem gemeinsamen Zimmer verschanzt und gelauscht. Lange herrschte nur erdrückende Stille, bis schließlich, als die Sonne schon lange untergegangen war, eine Melodie durch das Haus hallte.
Kurz darauf knarrte der Boden vor dem Zimmer und Carmen stand in der Tür. Sie hatte ihre Trauerkleidung abgelegt und ließ ihre langen, blonden Haare offen über ihren Rücken fallen. Nur ein dünnes Kleid bedeckte ihren Körper.
“Ich will keinen Ehemann”, sagte sie leise, während sie die Tür offen ließ, damit die Musik bis zu ihnen reichte. Rita beobachtete, wie sie näher kam. “Was will ich schon mit einem Ehemann. Ich habe hier doch alles.”
Rita, die sich heute Nachmittag nicht umgezogen hatte, machte ihr Platz unter der Schlafdecke.
“Wirst du das nicht irgendwann bereuen?”
Statt zu antworten, presste Carmen ihre Lippen sanft gegen Ritas. So viele Jahre waren sie nun schon zusammen, doch es war immer wieder ein beflügelndes Erlebnis sie zu spüren. Hier, in ihren eigenen Wänden, gehörte Rita ganz ihr, und sie gehörte mit Leib und Seele Rita. “Ich will dich. Du bist alles, was ich brauche.”
Rita atmete hörbar aus und vertiefte den Kuss, während ihre Hand die Kontur von Carmens Gesicht entlangfuhr. “Dann wird das genügen.”
____________________________________________________________________
Juni, 1978
Gebannt starrten sie auf ihre Bildschirme und beobachteten das Geschehen. Seit Tagen berichteten die Medien nun schon von Demonstrationen, die beinahe einheitlich als negativ betrachtet wurden. Carmen und Rita hingegen verspürten Hoffnung, als über den schwachen Farbfernseher eine bunt gestreifte Flagge wehte, die für so viel stand. Manche sahen in ihr nur eine Regenbogen-Flagge, doch für Rita und Carmen, stand sie für eine ganze Gemeinschaft. Zum ersten Mal fühlen sie sich nicht allein.
Die Federn der alten Couch quietschten, als Rita sich enger an Carmen schmiegte. Eine mittlerweile gewohnte Geste, die Rita wohl kaum noch wahrnahm. Doch bei ihrer Partnerin löste sie stets eine wohlige Wärme aus. Kaum hörbar, begann Carmen ihre Lieblingsmelodie zu summen, während sie weiter dem Treiben zusahen.
____________________________________________________________________
14. November, 1994
Mit geübten Händen öffnete Carmen das Fenster der kleinen Wohnung. Seit Tagen hustete Rita und bekam nur schwer Luft, das offene Fenster machte es ein wenig besser, auch wenn die Kälte dadurch ins Zimmer zog und Ritas Gicht vermutlich verschlimmern würde.
Ihr Haus hatten sie vor acht Jahren gegen eine kleine Wohnung getauscht, die weitaus einfacher zu pflegen war. Davon abgesehen hatten beide die Treppen kaum noch bewältigen können. Anfangs war Carmen beinahe das Herz zersprungen ihr Heim, das sie sich aufgebaut hatten, hinter sich zu lassen. Doch gerade an Tagen wie heute, an denen Rita sich kaum Bewegen konnte und hustend im Bett lag, war sie froh darüber den Schritt getan zu haben.
“Brauchst du Wasser?”, fragte Carmen und strich Rita zärtlich über das graue Haar. Es war dünn geworden, so wie ihre Geliebte.
Da sie keine Antwort erhielt, stellte sie das Glas Wasser einfach auf die Kommode und wollte schon gehen, als Rita doch etwas sagte.
“Mein Liebling, würdest du unser Lied spielen?” Eine Bitte, wie sie fast täglich kam. Und täglich kam Carmen dieser Bitte nach.
Ihre Wohnung beherbergte einen kostbaren Schallplattenspieler, mit einer beachtlichen Sammlung. Doch mittlerweile gab es nur noch eine einzige Platte, die Carmen spielen sollte. Sie machte sich schon gar nicht mehr die Mühe sie nach dem Spielen einzupacken, und so musste sie nur einen Knopf drücken, um das Lied erklingen zu lassen.
Es war nichts zu hören, außer den Trompeten und dem Gesang von Margaret Whiting. Carmen setzte sich neben Ritas Bett und summte mit. Ihre Hand streichelte dabei die hageren Finger von Rita.
“Ich kenne dieses Lied”, sagte sie plötzlich. “Ich denke, ich habe es schon einmal gehört.”
“Ja, mein Schatz. Du kennst das Lied.”
“Ich liebe dieses Lied. Es macht mich immer so glücklich.”
“Ja, mich auch.”