»Au, pass doch auf«, presste der Junge am Boden hervor und sah seinem Gegenüber grimmig ins Gesicht. Hätte es nicht ausweichen können?
Vor Justus stand ein Junge, kaum älter als der Jugendliche selbst, doch er wirkte viel ernster als alle Gleichaltrigen, die Justus kannte. Die strengen Brauen über den komischen Augen des Fremden waren missbilligend zusammengezogen und der Ausdruck um seinen Mund war hart.
»Wie kommst du hier her?«, fragte der Junge und seine Stimme hatte etwas Schneidendes. Sie war tiefer als die von Justus, der noch immer mit den Ärgernissen des Stimmbruchs zu kämpfen hatte.
»Keine Ahnung. Durch einen Tunnel? Ich bin hier auf der Wiese eingeschlafen.«
»Das sehe ich. Das interessiert aber nicht.«
»Bist du immer so nett?«
Der düstere Junge ließ kurz seine Augenbraue zucken, bevor er sich etwas vorbeugte und Justus, der noch immer im Gras saß, seine Hand reichte, um ihm aufzuhelfen. Dieser reckte sich leicht und ergriff sie.
In der Sekunde, als sie sich berührten, durchflutete ein noch nie gekanntes Gefühl Justus. Es war, als würde er diesen Jungen von irgendwoher kennen, irgendetwas an ihm war dem Jugendlichen so vertraut wie ein liebgewonnenes Kissen, ohne das man nicht einschlafen konnte. Justus fühlte etwas, doch er konnte nicht den Finger darauf legen, denn schließlich hatte er diesen mysteriösen Fremden noch nie zuvor gesehen. Er sah nicht aus wie einer der lausbubenhaften Burschen aus seiner Schule oder der Nachbarschaft, er wirkte eigentlich überhaupt nicht wie ein normaler Mensch, selbst wenn er wie einer aussah. Irgendetwas an ihm war anders.
Der Junge zog den Anderen auf die Beine und sofort die Hand wieder zurück, doch seine seltsamen rötlichen Augen fixierten ihn.
»Wer bist du? Ich bin Justus. Kannst du mir sagen, wo ich hier eigentlich bin?« Der Jugendliche putzte sich die Hosen ab und linste argwöhnisch nach oben. Die Fledermäuse flogen in einer Konstellation kreisförmig über dem Kopf des seltsamen Jungen, der nun leicht die Lippen schürzte.
»Man nennt mich Illian und du befindest dich hier in den Düsterlanden.«
»Noch nie gehört ...«
»Das hat einen Grund. Du darfst nicht hier sein!«
Justus zog eine Braue hoch. »Kein Anlass, gleich feindselig zu werden. Ich wusste nicht mal, dass ich hier rauskomme. Ich bin ... einfach nur in ein Rohr geklettert.«
»Macht man das da, wo du herkommst? Blindlings irgendwo hineinkriechen? Geh’ zurück. Es ist verboten für jemanden wie dich, hier zu sein.«
»Für ... jemanden wie mich?« Der Jugendliche stutzte und sah Illian ins Gesicht. Der wirkte noch ernster als vorher und nickte langsam.
»Ja. Geh’ zurück, bevor man dich entdeckt.«
Justus war von Natur aus zu neugierig, um sich einfach etwas vorschreiben zu lassen und so verschränkte er die Arme vor der Brust. »Nur, wenn du mir sagst, warum ich nicht hier sein darf.«
Illian knurrte und seine merkwürdigen Augen gewannen an Intensität. Als er die Zähne bleckte, zuckte sein Gegenüber zurück. Offenbar hatte es einen Grund, warum die Fledermäuse den Jungen wie ihren menschlichen Anführer behandelten.
»Stell’ keine Fragen. Entweder bist du einfach nur fürchterlich penetrant oder schlichtweg dumm«, er reckte die Finger seiner linken Hand und aus seinem Ärmel glitt etwas, das Justus erschreckend an einen Knüppel erinnerte. »Gehst du freiwillig oder muss ich nachhelfen?«
Der Jugendliche hob die Hände. »Schon gut ... schon ... gut ... Agh!« Er zuckte zusammen, denn der Fledermausschwarm hatte wieder angefangen, auf ihn niederzugehen.
»Pfeif’ sie zurück!«, kreischte er und setzte sich eilig in Bewegung, wieder in Richtung des Gehöfts. Von dort war er schließlich gekommen, irgendwo musste es da einen Weg zurück geben. Er merkte nicht, dass Illian ihm langsam folgte, den Stock in der Hand schwingend.
»Das kann ich nicht«, antwortete der Junge leise auf Justus’ Forderung, »sie verrichten nur ihre Arbeit ...«
Der fliehende Jugendliche, der immer wieder nach den ihn verfolgenden Tieren schlug, sprang kurzerhand über die morsche Holzeinfriedung des Hofes und riss in der Bewegung seine Jacke mit sich, die noch immer über einem Balken lag. Dabei bemerkte Justus nicht, dass die Taschenlampe herausfiel und im Gras liegenblieb. Hektisch rannte er auf das heruntergekommene Gebäude zu und riss die wackelige Türe auf. Beim letzten schnellen Blick zurück sah er, dass Illian am Zaun stehen geblieben war und die Fledermäuse wieder wie ein unheiliges Omen über ihm kreisten. Je schneller er, Justus, von diesem komischen Ort wegkam, umso besser.
Entschlossen trat der Junge über die Schwelle und die Tür fiel hinter ihm zu.
Illian blickte ihm nach, einen nachdenklichen Ausdruck in seinem blassen Gesicht, und zog die Augenbrauen kraus, als ihm auffiel, was vor ihm im hohen Gras lag. Er bückte sich und hob die Taschenlampe hoch. Illian wusste, was es war, doch hatte noch nie ein solches Ding in den Händen gehabt. Er schaltete es ein und seine Lippen zuckten leicht.
»Du wirst zurückkommen, Justus. Es ist dir noch nicht bewusst, aber dein Schicksal ist längst besiegelt.« Das Lächeln wurde schwermütiger und trauriger, als Illian seufzte, die Leuchte in die Tasche seines Mantels gleiten ließ und mit einer Bewegung seiner Hand kehrt machte und die Fledermäuse auf die Heide zurückführte.
.
Justus fiel praktisch durch die Türe, doch er fand sich nicht im Inneren einer Hütte wieder, sondern mitten in der Bauruine beim Spielplatz. Verwundert riss er die Augen auf und sah sich hektisch um. Wie konnte das sein? Er hob den Kopf und kniff die Lider zusammen, denn durch die nackten Fensteröffnungen und das halbfertige Dach des Gebäudes fiel die blasse, aber sehr helle Wintersonne.
Wie viel Zeit war hier vergangen? Er konnte nicht lange fort gewesen sein, denn es war noch immer früher Nachmittag – in der Ferne konnte Justus das Geläut einer Kirchenglocke hören, die drei Mal anschlug. Dort drüben war es Nacht gewesen.
War er vielleicht eingeschlafen, tatsächlich, und hatte das alles nur geträumt? Er kniff sich und zischte laut. Nein, er war definitiv wach und er wusste mit Sicherheit, dass er den Rohbau zuvor nicht betreten hatte. Prüfend strich er sich mit seinen Fingern über das Gesicht, wo ihn die Fledermausviecher gekratzt hatten, doch er fühlte nichts. Weder Schmerz noch wunde Stellen.
Das konnte doch nicht wahr sein!
Knurrend zog sich Justus seine Jacke über, denn hier war es eisig kalt. Es war wohl Zeit, nach Hause zurückzukehren und sich mit realen Dingen wie seinen Hausaufgaben zu befassen anstatt mit merkwürdigen Welten, die sein Gehirn ausgesponnen hatte, weil er einfach viel zu viel Fantasie hatte. Müde und ungewöhnlich erschöpft stapfte er den Weg durch die grauen Straßen zurück nach Hause und als er die Wohnung betrat, konnte er riechen, dass seine Mutter von der Arbeit zurück sein musste. Es duftete nach einer Brotsuppe.
»Na, schon wieder zurück von deiner Räubertour?«, rief die Frau ihm zu, als er seine Jacke an den Haken hängte. Der Junge sah auf die Uhr. Er hatte erst vor nicht ganz zwei Stunden Schulschluss gehabt, das bedeutete, er war vielleicht eine Stunde auf dem Spielplatz gewesen!
»Ja«, murmelte er, »es ist zu kalt, um lange draußen zu bleiben.« Er streckte sich und verzog sich in sein Zimmer, wo er sich auf das Bett legte. Mit einem müden Seitenblick sah er auf die Schulbücher. Der Junge hatte einen Haufen zu tun für den nächsten Tag, doch er war zu erschöpft.
Als er die Augen schloss, durchflutete ihn wieder das Gefühl von Wärme, das er empfunden hatte, als er auf der blühenden Wiese gestanden hatte. Es war kein Wunder, dass er sich solche Dinge ausdachte. Immerhin lebte Justus in einer Wüste aus Stein, in der jeder Park zur Unkenntlichkeit verkommen war. Am meisten hatte ihn jedoch die Vertrautheit irritiert, die er bei Illian gefühlt zu haben glaubte, obwohl er ihn so unheimlich fand mit seinen roten Augen und den komischen, fangartigen Zähnen. Wie konnte es sein, dass man bei jemandem, den man noch nie zuvor gesehen hatte, so ein Gefühl haben konnte? Seine Berührung hatte sich angefühlt wie die eines alten Freundes aus einem anderen Leben. Doch das war absurd. Justus glaubte nicht an so etwas, nicht an Wiedergeburt oder Gott oder Himmel und Hölle.
»Ah, zum Teufel damit«, knurrte er der Zimmerdecke entgegen, streckte sich und erhob sich. Er zwang sich rigoros, nicht mehr an die Episode dieses Nachmittags zu denken und als er nach dem Hausaufgaben machen und dem Baden am Abend schließlich zusammen mit seinen Eltern am Tisch saß, hatte er schon fast vergessen, was er erlebt hatte.
Aber eben nur fast, denn in seinen Träumen war Justus vor der Erinnerung daran nicht sicher und das Gefühl der ledrigen Flügel der Fledermäuse auf seinem Gesicht verfolgte ihn, bis er am nächsten Morgen vollkommen gerädert aufwachte.