Es ist soweit. Mal wieder. Der Druck auf die Blase wird unangenehm. Wohl oder übel muss ich dem Ruf der Natur folgen und schäle mich aus dem Schlafsack. Ein schneller Blick in die Umgebung. Die Dunkelheit gibt kaum Details preis. Lediglich diffuse Umrisse und Schatten sowie der wabernde Nebel unten im Tal. Alles wie immer um diese Zeit.
Mein Pinkelbaum steht direkt am Waldrand nur wenige Meter hinter der Schützenmulde. Ich lasse das Wasser laufen und sehne mich zurück in den Schlafsack. So warm es tagsüber immer sein mag; die Nächte bleiben kühl und klamm.
Der letzte Tropfen ist abgeschüttelt und alles wieder anständig verpackt. Ich wende mich um und stapfe zurück. Diese Ruhe ist wunderbar! Tagsüber ist die Luftwaffe aktiv und sorgt für eine Menge Krach. Lässt sie sich nicht blicken, knallt die Artillerie über unsere Köpfe hinweg. Dann versteht man nicht einmal mehr sein eigenes Wort!
Es sind die kleinen Dinge, die man schätzt. Der Schlafsack hat tatsächlich noch Restwärme! Ich mache es mir bequem, drehe mich auf die Seite und schließe die Augen. Möchte zurück in das Reich der Träume. Noch ein paar Stunden schlafen, bis der Wahnsinn wieder von vorn beginnt.
Nur funktioniert es nicht! Etwas spukt im meinem Kopf herum und ich kann nicht greifen, was es ist. Nach einigen Minuten ergebnislosen Nachdenkens gebe ich auf und öffne die Augen. Über mir der Nachthimmel mit einigen wenigen Wolkenfetzen. Da ist das Himmels-W, Kassiopeia. Dort parkt der Kleine Wagen. Da ist nichts, was mich hindert, wieder einzuschlafen.
Ich rolle mich auf den Bauch und schaue hinunter ins Tal. Still und friedlich, genau so, wie ich es erwarte. Über der Talsohle wabert der Nebel. Wie erwartet. Da ist nichts. Gar nichts! Dennoch suche ich nach meinen Orientierungspunkten. Vor Tagen schon habe ich sie festgelegt und markieren die Grenzen meines Schussfeldes. Baum eins auf elf Uhr. Baum drei auf ein Uhr. Baum zwei mit seinem Doppelstamm genau mittig auf zwölf Uhr. Alles in Ordnung. Warum auch nicht? Die Horde soll noch mindestens zwei Tage entfernt sein. Bomben und Geschütze haben sie desorientiert und verlangsamt. Sagte zumindest unser Unteroffizier bei seinem Abendrundgang.
Baum drei rechts. Baum eins links. Baum zwei mit dem Doppelstamm in der Mitte. Knapp daneben ein Pfahl des Weidezaunes.
Weidezaun.
Mein Gehirn läuft warm. Der Weidezaun endet doch bereits beim ersten Baum! Was habe ich denn beobachtet? Sehe ich Gespenster?
Ich setze mich auf und starre angestrengt hinunter ins Tal. Versuche, den Nebel zu durchdringen. Da ist kein Weidezaun. Aber auch nicht das, was ich gesehen zu haben glaube. Aber irgend etwas ist da unten. Ich weiß es!
Dort! Etwas ragt aus dem Nebel! Einen Augenblick lang. Dann ist es verschwunden. Taucht unvermittelt an anderer Stelle wieder auf. Ein Kopf? Ja doch, ein Kopf! Ein zweiter gleich daneben! Verschwinden erneut.
Mein Herz schlägt mir bis zum Hals. Das bilde ich mir nicht ein! Da unten ist jemand!
Pioniere vielleicht, die Hindernisse verlegen? Mitten in der Nacht? Aufklärer, die sich auf unsere Linie zurückziehen? Versprengte womöglich? Irgend ein Arschloch, der unsere Aufmerksamkeit testen will?
Das Tal ist Sperrgebiet, hat der Leutnant gesagt. Schießbefehl ohne Warnung, hat er gesagt.
Ich schaue nach rechts zum benachbarten Schützenloch. Keine zehn Meter entfernt. Dort rührt sich nichts. Zehn Meter links von mir liegt die Maschinengewehr-Stellung. Auch dort ist es still. Sieht denn keiner das, was ich sehe?
Neben mir schläft Bert den Schlaf der Gerechten. Beide entkamen wir aus München. Ließen uns von der Armee anwerben. Standen die Schnellausbildung durch und teilen uns seitdem das Schützenloch. Ein wirklicher Freund ist er nicht. Er denkt so weit voraus, wie er einen Untoten werfen kann, kennt mehr Kaffeesorten, als mir lieb ist und ist der geborene Raumgestalter. Er ist ein lausiger Schütze und diskutiert mit Vorliebe über Anweisungen, anstatt sie auszuführen. Mit dieser Einstellung zu Notwendigkeiten in diesen unseren Zeiten werden wir keine Freunde. Doch praktizieren wir eine Form der friedlichen Koexistenz, die für uns beide vorteilhaft ist.
Bert ist nicht hilfreich. Zwar reiße ich ihn ziemlich grob aus den Träumen, doch habe ich keinen Nerv, darüber zu diskutieren. Stattdessen soll er meine Beobachtungen bestätigen! Der Blindfisch sieht rein gar nichts! Immerhin glaubt er mir!
"Es beginnt."
Bert schaut mich einfach nur an. Ohne eine Diskussion anzuzetteln, beginnt er mit seinen Vorbereitungen.
Ich tue es ihm gleich.
Es beginnt. Die Horde ist da. Und wir sollen sie aufhalten. Wir! 130 verlorene Seelen, verteilt auf eine 500 Meter breite Front. 100 Sturmgewehre, 500 Patronen je Waffe und 10 Universal-MG mit der 20fachen Munitionsmenge. Gegen Hunderttausende Kreaturen, die nur durch Zerstörung ihres Gehirns ausgeschaltet werden können.
Wir können nicht gewinnen! Unsere Feuerkraft macht nicht viel her. Kaum die Hälfte von uns besitzt eine militärische Ausbildung; noch viel weniger können sich noch daran erinnern. Hinzu kommt der bemerkenswerte Umstand, dass wir ausschließlich tagsüber trainierten. Niemals nachts. Niemals!
Ich ertaste mein Gewehr. Ein Sturmgewehr G3. Eines mit drehbarem Diopter-Visier und einschiebbarer Schulterstütze. Ein gutes Gewehr. Beste Arsenalware! Dazu fünf Magazine. Jedes Magazin fasst 20 Patronen. Die 7,62 * 51mm-Munition ist stark und wirkt auch auf weite Entfernung.
Ich lade das G3 und lege sie in meine Schützenmulde. Bert reicht mir seine Waffe. Da er ein schlechter Schütze ist, haben wir eine Übereinkunft getroffen: ich schieße, er lädt.
Mit dem Gewehr im Arm lege ich mich in Feuerposition. Auf die Unterlage aus Reisig und Blättern, auf der ich noch kurze Zeit zuvor geschlafen habe. Bert links neben mir im Schneidersitz, eine offene Munitionskiste vor ihm.
Ich richte das Sturmgewehr aus. Lege an. Entsichere. Ziehe es fest an mich. Atme mehrere Male tief ein und aus. Ziele über die nachleuchtende Visierung. Atme ein. Lege den Zeigefinger an den Abzug. Atme aus. Spüre den Abzugswiderstand. Atme ein. Schärfe den Blick. Kimme. Korn. Ziel. Atme aus. Langsam und gleichmäßig.
Rückzug? Zur Hölle!
Der Schuss bricht und beendet die Stille.