Wenn die Nerven wieder und wieder durch das Kreuzfeuer alltäglicher Arbeitsroutine gehetzt werden, ist jährlich eine Auszeit vonnöten. Mindestens. "Tapetenwechsel". Eine absolute Notwendigkeit, um die Batterien wieder aufzuladen. Manche erreichen dies mit Unmengen Alkohol auf Malle, andere in den Bettenburgen auf den Malediven. Und ich in der Sächsischen Schweiz. Seit Jahren nehme ich meinen Jahresurlaub in einem typischen Touristen-Nest an der Elbe.
Meistens allein. Es tut gut, Dinge anzugehen, die ich selbst in Angriff nehmen möchte. Unglaublich gut! Ohne das jemand dazwischen quakt. Aufstehen, wenn ich wach werde. Anziehen, was mir bequem erscheint. Essen, auf das ich Appetit verspüre. Unternehmen, wonach mir der Sinn steht. Schlafen gehen, wenn ich müde bin. Unter der Dusche singen - oder so tun als ob. Ohne Reue einen Magenwind ins Sofakissen ableiten.
Das ist meine Definition von persönlicher Freiheit.
Diese Autonomie gestattet es mir, an diesem Montag in aller Herrgottsfrühe aus dem Bett zu hüpfen. Ich möchte das Elbtal im Nebel sehen. Vor einigen Jahren verbrachte ich meinen Sommerurlaub auf der Festung Königstein. Dort erlebte ich zum ersten Mal dieses Naturschauspiel. Auf dem nördlichen Wallgang, nahe der Friedrichsburg. Im Osten die aufgehende Sonne. Über mir der klare blaue Himmel. Während sich vor mir ein weites, weißes Wolkenmeer ausbreitete. Lediglich die Plateaus der Tafelberge ragten heraus. Es war, als kreuzten wir, Schiffen gleich, durch die Endlichkeit der Dämmerung.
Heute stehe ich nicht über den Dingen. Sondern auf der Kottesteig-Brücke über den Grünbach im Kurort Rathen. Mitten in den Wolken. Jeder Blick verliert sich nach wenigen Metern in weißen Schleiern. Alle Geräusche scheinen seltsam gedämpft. Das träge Rauschen des Flusses in seinem Bett. Ein tuckernder Motor eines älteren Zweizylinders irgendwo am anderen Ufer. Der Lüfter einer im Bahnhof Rathen anfahrenden E-Lok. Die Flora raschelt vor sich hin, während die Fauna erste Motivationsgesänge anstimmt. Eine kleine heile Welt, die darauf wartet, geweckt und bestaunt zu werden.
Auf das Brückengeländer gestützt beobachte ich, wie sich die Nebel langsam heben. Der Fähranleger ist bereits deutlich zu sehen. Ebenso das rote Backbordlicht der am Anleger festgemachten Gierseil-Fähre. Bald wird das andere Ufer sichtbar sein und der Sonnenschein die letzten Geistererscheinungen vertreiben.
Diese Momente sind so friedvoll! Entschleunigend. Phantastisch geradezu! Ich lasse meinen Gedanken freien Lauf. Vergesse die Zeit. Aus diesem Grunde kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, wann ich dieses Geräusch zum ersten Mal wahrnahm. Zunächst ist es unterschwellig. Mein Unterbewusstsein versucht, es auszublenden, weil es so gar nicht mit dem Zauber des Augenblickes harmonisiert. Doch verschwindet es nicht, sondern wird präsenter. Gewinnt an Substanz. Irgendetwas Großes. Aus östlicher Richtung.
Ein Schiff? Eine Lokomotive, deren Schalldämpfer geplatzt ist?
Nein. Das ist etwas anderes!
Bevor ich mein Oberstübchen auf Touren bringen kann, jagt etwas mit feindseligem Kreischen über mich hinweg. Erschrocken ziehe ich den Kopf ein. Ein Flugzeug. Strahlgetrieben. Tieffliegend. Nur knapp über den Wolken. Ich kann unmöglich sagen, woher es kam und wohin es fliegt. Militär? Ja, was sonst?
"Was zum Teufel … ?"
Innerhalb weniger Augenblicke verwandelt sich der friedliche Morgen in ein Tollhaus. Weitere Flugzeuge donnern vorbei. Wahre Ohrenbrecher! Die Abgasschleppen reißen die Nebel auf. Und zwischen den wirbelnden Schleiern die grollenden Geister. Deren Kakophonie wird verstärkt durch aufkommendes Wummern starker Wellenturbinen und das typische "Pattpattpatt" von Rotoren.
Hubschrauber. Tiefflieger. Zu Hause vor dem Fernseher würde ich über das 'Was', 'Wie' und 'Warum' philosophieren. Hier, mitten im Geschehen, bin ich mit der Aufnahme der Eindrücke beschäftigt. Das lastet mich aus. Daher ignoriere ich mein Bauchgefühl, welches sich mit einem verzweifelten "Mach, das du wegkommst!" bemerkbar macht. Stattdessen registriere ich, wie sich eines der Phantome materialisiert. Über der Mündung des Grünbach in die Elbe. Genau vor mir! Ein Hubschrauber! Mittelgroß. Dunkle, fast schwarze Farbgebung. Auffallend gefällige Linienführung. Fenestron-Heckrotor. Sieht französisch aus.
Die Seitentüren öffnen sich. Mehrere Kisten gleiten an Seilen zu Boden. Landen im Wasser. Zwei, vier, acht, zwölf, 14 Personen folgen rasch nacheinander. Wow! Wie haben die alle in den Hubschrauber gepasst? Zumindest wirken sie nicht allzu groß.
Kaum hat sich der Letzte abgeseilt, werden die Seile ausgeklinkt. Der Hubschrauber wendet auf der Stelle. Steigt auf. Verschwindet in einer Nebelbank über der Kleinen Bastei nordöstlich von mir.
Da stehe ich nun mit offenem Mund auf der Kottesteig-Brücke und kann nicht sagen, wann sich mein Verstand verabschiedet hat.
Die soeben aus dem Hubschrauber angelandeten Gestalten sind uniformiert. Schnürstiefel, gefleckte Hosen und Jacken, Helme. Bewaffnet mit Sturmgewehren. Deren charakteristischen Kurvenmagazine sind nicht zu übersehen.
Soldaten! Sie schwärmen aus. Einige stürmen über den Fähranleger an Bord der Gierseil-Fähre. Beginnen einen Disput mit den beiden Fährleuten. Plötzlich ein Blitz aus einer Waffe. Der schlanke Ferge fällt in die Elbe. Der andere kniet mit hinter dem Kopf verschränkten Armen neben dem Steuerhaus.
Mein Hirn nimmt wieder seine Arbeit auf. Sah ich soeben eine Exekution? Mehrere Soldaten nähern sich meiner Position. Ihre aggressive Körperhaltung lässt mich einige Schritte rückwärts gehen. Gleichzeitig sehe ich Blitze. Mündungsfeuer! Etwas zirpt an meinem rechten Ohr vorbei.
Panik! Ich drehe mich nach rechts und renne. Den Grünbachweg entlang Richtung Unterkunft. Im leichten Zickzack.
Von der Kottesteig-Brücke bis zu meiner Ferienwohnung sind es bequeme fünf Minuten Fußweg. Angesichts aktueller Stressbedingungen lege ich diese Strecke in weniger als die Hälfte der Zeit zum Preis völliger Atemlosigkeit zurück.
Die Tür fällt ins Schloss.
"Stille liegt über dem Land …"
(Das Fragment eines Zitates, welches sich in meinem Kopf festsetzt.)
Mein Herz schlägt bis zum Hals. Die Lunge ist bereits ein Stück weiter. Schweiß tropft in die Augen. Kurzum: ich bin fix und fertig! Setze ich mich jetzt auf die Couch, stehe ich so schnell nicht mehr auf. Also bleibe ich in Bewegung. Drehe Runden durch Wohnzimmer, Küche und Flur. Möchte damit auf eine normale Ebene zurückfinden.
Während ich durch die Räume kreise, normalisiert sich allmählich die Atmung. Gedanken formen sich zu Fragen. Was habe ich soeben beobachtet? Eine Illusion? Eine Übung? Eine - Invasion? Wer schlägt hier so derbe um sich? Franzosen? Hätten die nicht längst kapituliert? Doch wer dann? Aus welchem Grund? Was gibt es hier zu holen?
Im Wohnzimmer bemühe ich den Fernsehapparat um Antwort. Es bleibt beim bildlosen Rauschen. Nächster Kanal. Dasselbe Ergebnis. Ich zappe weiter. Nichts. Ebenso erfolglos endet die Sendersuche im Radio. Es überrascht mich nicht sonderlich. Etwas Großes geht hier vor!
Vom Schlafzimmerfenster aus habe ich einen ausgezeichneten Blick auf den Grünbach. Bis hinunter zu jener Brücke, auf der ich mich vor wenigen Minuten den Nebelgeistern so nahe wähnte. Jetzt stehen mehrere Soldaten auf dem Bauwerk. Einige von ihnen wenden sich dem Kottesteig zu. Verschwinden aus meinem Blickfeld. Andere schicken sich an, den Grünbach hinauf zu kommen. Auf mich zu!
Oh ja. Meine Frist an diesem Ort läuft ab.
Ich muss hier weg. Schnell. Schnappe mir den Kamera-Rucksack und entleere seinen Inhalt auf das Bett. Was benötigt ein Mensch auf der Flucht? Weitwinkel- und Teleobjektive? Reserve-Akkus? Filter? Ersatz-Schutzkappen? Sicherlich nicht! Stattdessen wandern Geld und Ausweispapiere in den Rucksack. Meine Kapuzenjacke. Ein paar wenige Wechselklamotten. Waschutensilien. Die letzten Tüten mit selbst gemachtem Beef Jerky. Eine Rolle Klopapier! Dazu zwei Literflaschen Wasser in die Außentaschen. Ritschratsch. Die Reißverschlüsse sind zu. Ich setze den Rucksack auf. Schließe Schulter- und Beckengurt. Schiebe ihn auf dem Rücken herum, bis er sitzt.
Ein letztes Durchatmen. Aufbruch!
Die Wohnungstür ziehe ich hinter mir zu und sperre ordnungsgemäß ab. Der Schlüssel wird unter dem Abtreter deponiert. Für alle Fälle!
Es ist still geworden. Ab und an meine ich, Hubschrauber-Rotoren zu vernehmen. Leise. Weit entfernt. Ein positives Zeichen! Ich poltere die metallene Außentreppe hinab und wende mich der Grünbachstraße zu. Im letzten Augenblick halte ich inne. Auf der Straße, gerade noch in meinem Blickfeld, steht ein Opel Combo D-Kastenwagen.
"Plock, Plock, Plock!"
Kleine dunkle Löcher entstehen im weiß lackierten Blech der fensterlosen Hecktüren.
"Plock!"
Meine Güte! Einschusslöcher. Das Fahrzeug steht unter - Beschuss! Wer auch immer die sind; sie schießen scharf.
Überwältigt von dieser Erkenntnis weiche ich zurück. Meine Kombinationsgabe lässt in dieser Sekunde zu wünschen übrig. Nur langsam fällt der Groschen. Hubschrauber. Soldaten. Waffen. Mündungsfeuer. Ein in den Fluss stürzender Mensch. Ja, selbstverständlich fliegen hier keine Wattebällchen!
Die Straße kann ich vergessen. Was nun? Ich sehe mich um. Hinter mir, am anderen Ende des Gebäudes befindet sich ein alter Abgang. Er führt mich auf den vor dem Hause liegenden Parkplatz. Wenn mir eine alte Brettertür nicht den Weg versperren würde! Vorsichtig rüttle ich an der Tür. Verschlossen. Selbst einem kräftigen Fußtritt hält sie stand. Das kann doch nicht wahr sein!
Rufe. Schreie! Einzelne … Schüsse? Ich kann die Geräusche nicht verorten. Doch sie sind näher, als mir lieb ist! Mit einiger Entschlossenheit werfe ich mich mit der rechten Schulter gegen das Holz. Es gibt nach. Ich fliege! Pralle gegen einen dunklen Schatten. Schüsse. Unglaublich nah. Unglaublich laut! Schlage auf dem Boden auf.
Die Lichter gehen aus.