Die Maschinen fahren wieder an. Ich fühle mich wie beim Aufwachen nach einer langen Nacht mit einem wunderschönen Traum. Diese merkwürdige Zufriedenheit bei gleichzeitiger Orientierungslosigkeit. Aus welchem Grund liege ich auf hartem Pflasterstein? In der linken Schulter pocht dumpfer Schmerz. Was habe ich nur angestellt?
Als ich mich, um wieder auf die Beine zu kommen, mit der rechten Hand auf dem Boden abstütze, berühre ich etwas. Instinktiv greife ich zu und hebe es auf. Betrachte sekundenlang den Gegenstand, ohne zu begreifen, was es ist. Eigenartig vertrautes Design. Brüniertes Metall, schwarzer Kunststoff. Klappschaft, Verschlussgehäuse, Pistolengriff, Kurvenmagazin. Eine Waffe. Sturmgewehr! Die Abstammung vom Urahn Automat Kalaschnikov ist offensichtlich.
Während ich diese Erkenntnis verarbeite, stehe ich auf. Eine Bewegung reißt mich aus meiner Begriffsstutzigkeit. Keine zwei Meter von mir entfernt kniet eine Person. Männlich. Jung. Sicherlich keine 20 Jahre alt. Ausgeprägte asiatische Gesichtszüge. Militäruniform. Stahlhelm, beschusshemmende Weste, Koppel und Koppeltragegestell mit Ausrüstungsgegenständen. Wie ein Handwerker, der in seinem Werkzeuggürtel für jede Situation das passende Werkzeug parat hat. Wäre da nicht das Abzeichen der chinesischen Volksbefreiungsarmee am rechten Ärmel seiner Uniform!
Eher unbewusst hebe ich das Sturmgewehr in meine Rechte. Das gefährliche Ende der Waffe zeigt in die allgemeine Richtung des unbekannten Soldaten. Dessen Blick liegt starr auf dem Gewehr. Seine Hände hält er mit den Handflächen nach außen in Brusthöhe vor sich.
"Nickt siessäh! Nickt siessäh!"
Mir liegt es fern, auf ihn zu feuern, doch bin ich auch nicht bereit, die Waffe zu senken. Ich bedeute ihm, das Koppelzeug abzulegen. Gehorsam schnallt er ab. Weicht zurück, immer darauf bedacht, keine ruppigen Bewegungen zu machen. Schritt für Schritt entfernt er sich von mir. Überquert den kleinen Parkplatz. Erreicht das Gebäude. Dreht sich plötzlich um, verschwindet mit ein, zwei großen Schritten um die Ecke und damit aus meinem Sichtfeld.
Keinen Augenblick später knallen Schüsse. In unmittelbarer Nähe. Überraschend! Scharf und laut. Ich erstarre. Der Soldat taucht wieder auf. Kann sich kaum auf den Beinen halten. Torkelt einen, zwei Schritte auf mich zu. Stürzt zu Boden. Rollt herum und bleibt auf dem Rücken liegen. Ich schaue mit einiger Bestürzung zu. Die beschusshemmende Weste konnte die Bewegungsenergie der Geschosse nicht absorbieren. Dreimal ist sie durchschlagen worden. Die Wunden in seiner Brust sind nicht groß, doch ausreichend, um den Mann lebensgefährlich zu verletzen.
Das Gesicht des jungen Soldaten wirkt zusehends wächsern. Seine auf mich gerichteten Augen verlieren den Glanz der Lebenden. Sein Atem geht rasselnd. Spuckt Blut. Er stirbt. Und weiß es. Streckt mir seine Hand entgegen. Ohne nachzudenken gehe ich neben ihm auf die Knie und nehme sie. Er drückt sie so fest er noch kann. Kaum hörbar flüstert er wiederholt ein Wort; ähnlich "Muhzin". Ein Zittern geht durch seinen Körper, ein letzter Händedruck.
Ich lege die erschlaffte Hand auf die Brust des Soldaten und verharre einige Sekunden neben ihm. Völliges Gefühlschaos!
Als ich aufstehe und die Ausrüstung aufnehme, kenne ich den Plan. Und bin gewillt, ihn umzusetzen.
Ich lege mir das Koppel mit den daran befestigten Ausrüstungsgegenständen um den Hals und nehme das Sturmgewehr auf. Halte inne. Betrachte es. Dieses Gewehr verleiht mir Macht. Mut. Selbstvertrauen. Klingt komisch? Ist aber so. Es mag Leute geben, die dies nicht verstehen können oder wollen, doch bin ich jetzt und hier froh, eine Waffe in den Händen zu halten, mit der ich mich verteidigen kann.
Ihr Urahn, der modernisierte Automat Kalaschnikow AKM begleitete mich während meiner Armeezeit. Daher bin ich mit der Funktionsweise des Gasdruckladers vertraut, obgleich der Sohnemann offensichtliche Unterschiede aufweist. So zum Beispiel sein kleineres Kaliber. Das neuartige Kastenmagazin mit doppelter Munitionskapazität. Der überarbeitete Feuerwahl- und Sicherungshebel. Und die Möglichkeit, kurze Feuerstöße abgeben zu können.
Waffenkontrolle. In den Systemkasten ist die Bezeichnung QBZ-03 eingestanzt. Das nicht mehr ganz volle Magazin ist eingerastet. Eine Patrone befindet sich in der Kammer. Der Feuerwahlhebel steht auf "Feuerstoß". Das Sturmgewehr ist schussbereit. Ich trage es in einer Art und Weise vor dem Körper, die mich befähigt, die Waffe schnell anzulegen und abzufeuern. Einschlägige Filme haben ausführlich gezeigt, wie es geht.
So gerüstet stapfe ich in westliche Richtung. Dem Amselgrund entgegen. An normalen Tagen pilgern Hunderte Touristen diesen asphaltierten Weg entlang. Zum Amselsee. Der Freilichtbühne Rathen, den Schwedenlöchern und dem Amselfall. Auf das Basteimassiv. Heute jedoch ist keine weitere Menschenseele unterwegs.
Der erste Schritt. Ein zweiter. Dritter, vierter, fünfter. Irgendwo hinter mir fallen Schüsse. Einmal mehr erschreckend nahe! Sie lassen mich herumwirbeln. Mit der Waffe im Anschlag. Suche gehetzt nach einer Bedrohung. Nichts. Die Knallerei gilt nicht mir, soviel ist sicher. Den Schützen vermute ich auf der Grünbachstraße. Etwa auf Höhe des kleinen Lebensmittel-Ladens. Für meinen Geschmack viel zu nahe! Die Gefahr, eine verpasst zu bekommen, ist enorm!
Das Gewicht meines Gepäcks treibt den Schweiß aus allen Poren. Stoisch setze ich einen Fuß vor den anderen und bemühe mich um gleichmäßige Marschgeschwindigkeit. Ich muss innerlich zur Ruhe kommen. Zumindest soweit, um klare Gedanken fassen und meine nächsten Handlungen planen zu können. Gelegentliche Schüsse, einige näher, die meisten weiter entfernt, sowie anhaltendes Triebwerksgrollen vorbeifliegender Flugzeuge und Hubschrauber erzeugen eine Geräuschkulisse, die nicht gerade das Ihre dazu beiträgt.
Als die asphaltierte Straße in einen sandsteingepflasterten Waldweg übergeht, perlt mir der Schweiß über das Gesicht. Jedoch fühle ich mich gut in Form und keineswegs außer Atem. Das lässt hoffen. Die dunklen Schatten der Bäume strahlt eine gewisse Geborgenheit aus. Dämpfen die Geräusche. Beruhigt die Seele.
Wenige Schritte weiter, am Kassenhäuschen der Felsenbühne Rathen, mache ich eine Pause. Lege Gewehr und Koppel auf eine Holzbank. Setze den Rucksack ab und nehme einen ordentlichen Schluck aus der Wasserflasche. Bemerke Bewegungen im Unterholz. Hinter der großen Werbetafel in einigen Metern Entfernungen und am Kassenbau selbst. Männer und Frauen. Einige Kinder. Ein Dutzend Personen, vielleicht ein paar mehr. Sie alle konnten ebenfalls hierher flüchten.
Ich setze mich auf die Bank. Während ich vorgebe, die am Koppel befestigten Ausrüstungsgegenstände näher zu untersuchen, beobachte ich die Menschen und höre ihnen zu.
Keiner von ihnen hat die Lage erfasst. Wilde Spekulationen machen die Runde. Nicht, dass ich besser informiert wäre! Dennoch berichte ich von meinen eigenen Beobachtungen. Von den Flugzeugen. Den Hubschraubern, den Soldaten. Den Vorkommnissen auf der Fähre. Von dem Chinesen und wie er von seinen eigenen Kameraden getötet wurde. So schließe ich mit meiner eigenen Folgerung.
Invasion.