Zu dritt verlassen wir das Hotelgebäude. Der Lieferwagenfahrer bleibt bei den Geiseln. Er soll für Ruhe sorgen. Und sicherstellen, dass der Nordkoreaner trotz Fesseln keine Dummheiten anstellt.
Wir schlängeln uns durch den Biergarten und gelangen über eine breite Steintreppe auf die verwaiste westliche Aussichtsterrasse. Bei dem Blick über die halbmeterhohe Sandsteinbrüstung auf die im Sonnenschein liegenden Tafelberge des Elbsandsteingebirges geht mir das Herz auf. Vorn links, beinahe durch das Panorama-Restaurant verdeckt, der Lilienstein. Weiter entfernt Pfaffenstein, Quirl sowie Königstein mit seiner Bergfestung. Direkt vor mir, auf der anderen Elbseite, ragt der Rauenstein empor; Großer und Kleiner Bärenstein nach rechts gestaffelt dahinter. Diese Aussicht ist wahrhaft grandios! Immer wieder zieht sie mich in ihren Bann!
Direkt vor meinen Augen knattert ein riesiger Hubschrauber vorbei. Seine Rotorblätter verursachen heftige Turbolenzen und zwingen uns in den Schutz der steinernen Brüstung. Die Wellenturbinen dröhnen ohrenbetäubend!
Erst jetzt erfasse ich den umfangreichen Luftverkehr. Hubschrauber verschiedener Typen folgen in geringer Flughöhe der Elbe nach Westen. Sie scheinen schwer beladen zu sein. Die größeren Exemplare transportieren Fahrzeuge, Geschütze und Frachtcontainer als Schlinglast. Auf höheren Flugflächen verkehren Transportflugzeuge, während sich weit droben Luftüberlegenheitsjäger tummeln, deren Anwesenheit lediglich durch Kondensstreifen verraten wird. Wer auch immer diese Operation ins Leben gerufen hat, hält nichts vom kleckern; sie klotzen!
Nur schwer kann ich mich von diesem Anblick losreißen. Doch wir müssen weiter! Eine Mission erfüllen!
Wir verlassen die Terrasse auf demselben Wege, wie wir sie betreten haben. Halten uns rechts und bewegen lässig uns an der Gebäudewand des Panorama-Restaurants entlang. Vorbei an einem einsamen Softeis-Verkaufsstand und dem Souvenirladen-Laden mit allerlei gläsernem Krimskrams. Der Eingang zum Panorama-Restaurant ist verschlossen. Gut! Weiter. Wir überprüfen sogar die öffentlichen Toiletten. Nichts.
Einige Meter weiter verbreitert sich der schmale Fußweg zur östlichen Aussichtsterrasse. Ein vorsichtiger Blick um die Ecke bestätigt es: sie sind hier! Sechs Uniformierte. Damit beschäftigt, Gerätschaften aufzubauen, zu konfigurieren und in Betrieb zu nehmen. Zwei dieser Herrschaften tragen Pistolen und Gürtelholstern und Schirmmützen.
Einer dieser Offiziere steht auf der Aussichtsplattform und beobachtet mit einem Feldstecher das Elbtal. Sein Kamerad beaufsichtigt die emsig arbeitenden Mannschaftsdienstgrade. Die verlegen Leitungen. Stellen Antennen auf, kalibrieren Sensoren. Arbeiten an Computern und komplizierten Gerätschaften.
Es ist kaum zu glauben! An normalen Tagen würden Touristen Schnitzel mit Pommes in sich hinein stopfen und sich am atemberaubenden Ausblick ergötzen. Nun aber basteln sich Nordkoreaner an genau dieser Stelle einen Kommandoposten.
In meinem Oberstübchen rotieren die Gedanken. Was nun? Wir könnten uns klein machen. Still und heimlich alle Leute aus dem Hotel evakuieren. Und darauf hoffen, dass uns die Soldaten nicht auf die Schliche kommen. Riskante Angelegenheit. Prävention wäre eine Alternative. Unter Umständen noch gefährlicher. Jedoch überzeugt mich diese Option. Gründe dafür kann ich nicht greifen. Ist es der Nervenkitzel? Hm. Vielleicht ist dies der Zeitpunkt, die Zähne zu fletschen. Um zuzuschlagen. Und zu zeigen, dass jede Handlung Konsequenzen nach sich zieht. Der Gegner ist in der Überzahl. Natürlich. Militärisch ausgebildet. Selbstverständlich! Überlegene Feuerkraft. Sehr wahrscheinlich. Uns bleibt die Überraschung. Und die ist zickig! Wir müssen behutsam mit ihr umgehen, sonst macht sie der anderen Seite schöne Augen.
Dieser Offizier auf der Aussichtsplattform steht denkbar ungünstig. Ich benötige ein besseres Schussfeld. Pirsche mich näher heran, die Waffe im Anschlag, den Finger am Abzug. Massive Holztische und -bänke sowie ein anderthalb Meter hoher Sandsteinwall geben gute Deckung. Meine Begleiter halten ihre Positionen an der Treppe zum erhöhten Außenbereich des Panorama-Restaurants, jederzeit bereit, das Feuer zu eröffnen.
Schritt für Schritt nähere ich mich der Aussichtsplattform. Bin vorsichtig. Leise. Auf den Offizier fokussiert.
Zehn Schritt. 15 Schritte. 20.
Ein unvermittelter Anruf! Ich fahre herum. Einer der Soldaten schaut mich nicht weniger überrascht an, als ich ihn! Bevor ich ihn als Ziel erfasse, betätige ich den Abzug. Irgend etwas in mir übernimmt die Kontrolle. Lässt mein Bewusstsein lediglich als Beobachter zu. Ich sehe mich eine Zielkorrektur vornehmen. Feuere erneut. Der Mann kippt um.
Rechts von mir knattert ein Feuerstoß. Aus dem Augenwinkel heraus sehe ich einen zweiten Soldaten fallen.
Zielwechsel. Der Offizier auf der Aussichtsplattform hat mich als Bedrohung ausgemacht. Duckt sich hinter das Geländer. Bietet kein Ziel. Ich schieße dennoch. Mit gellendem "Piiiiing!" prallen die Geschosse vom metallenen Zaun ab. Bevor sich meine Gedanken wild klatschend im Kreise zu drehen beginnen, erhebt sich mein Gegner. Die Pistole in der Rechten. Er legt auf mich an. Adrenaliiin! Ich spüre, wie ich den Abzug durchziehe. Einmal. Zweimal. Dreimal! Das Sturmgewehr bebt in meinen Händen. Die Pistole verschwindet. Ebenso der Offizier.
Keine Zeit für Zweifel! Ich schwenke die Waffe herum. Zu dem anderen Offizier. Der kauert hinter einem Stapel Kisten. Mit dem Rücken zu mir. Sein Gürtelholster ist leer. Unmöglich, ihn zu verfehlen. Feuer!
Stille. Bis auf das Klopfen meines Herzens.
Allmählich erlange ich die Kontrolle zurück. Mein Blick schweift über das Schlachtfeld. Über die Toten. Die Waffen. Ausrüstung.
"Jetzt bin ich zum Tod geworden."
Gedankenblitze. War das notwendig? Musste ich diese Menschen wirklich töten? Hätte es vielleicht Alternativen gegeben. Das allseits beliebte "Hände hoch, oder ich schieße!" vielleicht? Ich weiß es nicht. Möchte es auch nicht ergründen. Die Zeiten haben sich geändert. Nun herrscht Krieg! Jede Schwäche des Gegners dient dem eigenen Vorteil. Dem eigenen Überleben. Genau darauf kommt es an. Nur darauf!
Ich nehme Blickkontakt zu meinen beiden Begleitern an der Treppe auf. Hebe den linken Arm. Alles in Ordnung! Sie winken zurück, sichtlich erleichtert.
Gemeinsam sichten wir die Hinterlassenschaften der Nordkoreaner. Ihre komplizierte Ausrüstung beachten wir nicht weiter. Wohl aber ihre Waffen. Die sammeln wir ein. Zwei Pistolen und vier AKS-74U nebst Munition. In einer mit "QYJ 88" beschrifteten hölzernen Transportkiste entdecken wir ein Maschinengewehr. Mehrere Metallbehälter sind mit Patronengurten für diese Monstrosität gefüllt.
In der Kartentasche eines der Offiziere finde ich diverse Papiere. Könnten wichtig sein. Ich nehme sie mit. Ebenso den Feldstecher.