Der folgende Schritt ist klar definiert. Evakuierung! Wir haben genügend fahrbare Untersätze, um alle unsere Leute in Sicherheit zu bringen. Sowohl jene aus Rathen als auch die aus dem Bastei-Berghotel. Klare Ansage: Jeder hat 30 Minuten Zeit, um sich mit leichtem Gepäck auf dem Parkplatz einzufinden. Ruhe ist zu bewahren! Keine lauten Geräusche und sonstige Versuche, auf sich aufmerksam zu machen. Wer zu spät kommt, bleibt zurück. Wer aus der Reihe tanzt, bleibt zurück.
Tamara, Ulf und ich beladen den VW T5-Transporter mit unserer Beute und fahren zum Sammelpunkt. Dort blockieren wir die Straße. Niemand soll auf die Idee kommen, auf eigene Faust sein Glück zu suchen und dadurch die gesamte Gruppe zu gefährden.
Der festgesetzte Nordkoreaner wird zu seinen beiden Kameraden in den Skoda Fabia II Kombi gezwängt. Sehr zum Missfallen des Fahrzeugbesitzers. Um ihn auf andere Gedanken zu bringen, schicke ich ihn aus, um unsere Leute zu informieren, die nach wie vor nahe der Schwedenlöcher versteckt im Wald ausharren.
Nach und nach treffen alle ein. Insgesamt 71 Seelen. Darunter genügend Autobesitzer, um allen einen Sitzplatz zu verschaffen. Zufrieden lehne ich an der Seitenwand des Lieferwagens und beobachte, wie sich allmählich ein Konvoi bildet. Zahlreiche PKW. Einige wenige Vans. Ein Kleinbus. Alles in allem um die anderthalb Dutzend Fahrzeuge. Ausgezeichnet!
Gedankenverloren krame ich in der Kartentasche herum. Ich hatte sie mir umgehängt, ohne ihren Inhalt genauer zu kontrollieren. Mit einiger Neugier fördere ich eine Handvoll Dokumente zutage. Betrachte sie genauer. Die fernöstlichen Schriftzeichen kann ich nicht interpretieren. Ich kann nicht einmal sagen, ob sie koreanischen oder chinesischen Ursprunges sind. Wahrscheinlich handelt es sich um Einsatzbefehle dieses Kommandos.
"Möööp!"
Welcher Wahnsinnige hupt hier? Ich glaube es ja nicht!
Der arenarote Porsche 987 kurvt vom Parkplatz, konsequent Menschen und Maschinen aus dem Weg hupend.
"Möööp!"
Mit den Papieren in den Händen stehe ich auf der Straße und versuche die grenzenlose Dummheit von Menschen zu begreifen. Der 987 drängelt sich auf die Gegenfahrbahn. Sein Motor röhrt und bringt den Wagen auf Touren. Kommt direkt auf mich zu!
"Möööp!"
Im letzten Augenblick steigt der Fahrer in die Eisen und stoppt die Höllenmaschine. Viel hat nicht gefehlt! Ich spüre unbestimmten Phantomschmerz in den Schienbeinen.
"Möööp Möööp!"
Mit steigendem Puls mustere ich die Insassen. Er sitzt am Steuer. Anzugträger. Ziemlich überzeugt von sich und seinem Können. Ein Banker vielleicht. Oder Anwalt. Nicht mehr ganz taufrisch. Vermutlich gefärbte Haare. Scheint es ja nötig zu haben! Sie plustert sich auf dem Beifahrersitz auf. Frau Gattin. Ganz klar. Die massive Anwendung zahlloser Produkte der Schönheitsindustrie täuscht nicht darüber hinweg, dass die besten Zeiten bereits hinter ihr liegen. Seit langem!
Wieder und wieder heult der Motor der Potenzschleuder auf. Herrje! Will er mich damit beeindrucken? Umso verblüffter bin ich, als mich der Porsche buchstäblich anspringt. Ich lasse die Dokumente fallen und springe dem 987 auf die Kofferraumhaube. Volle Punktzahl in der Haltungsnote! Das Fahrzeug stoppt!
Was mir denn einfalle? Ich solle aus dem Weg gehen! Sofort! Wovon träumt der Typ sonst? Frau Gattin zetert vom Beifahrersitz aus und bestärkt ihren Mann in seinen Handlungen. Blöde Kuh!
"Möööp!"
Offensichtlich haben die Beiden nicht den Ernst der Lage erfasst. Oder sie blenden ihn aus. In dieser Situation ist das nicht hilfreich. Mir reicht es! Ziehe meinen Meinungsverstärker. Jene Pistole, die ich dem Offizier abgenommen und in den Hosenbund gesteckt habe.
Hände. Weg. Von. Der. Hupe!
"Möööp!"
Ich lege mit dem Daumen den Sicherungshebel auf der linken Seite der Waffe um, ziele grob in Richtung Straßengraben und drücke ab.
Klick.
Ja nee, is' klar! Die Offiziere spazieren mit ungeladenen Waffen in den Krieg. Ich ziehe den Schlitten zurück und lasse ihn wieder nach vorne schnellen. Dadurch wird eine Patrone aus dem Magazin in die Patronenkammer befördert und der Hahn gespannt. Nun ist sie feuerbereit.
Ich gehe zwei, drei Schritte zurück und richte die Pistole auf den rechten Frontscheinwerfer des Porsche 987.
Peng!
Das durchsichtige Plexiglas zerspringt in hunderte Teile. Frau Gattin befindet sich in Schockstarre. Ihr Ehemann steigt aus. Starrt ungläubig auf den Schaden und verspricht mir die Hölle auf Erden. Anklage wegen Bedrohung. Beschädigung fremden Eigentumes. Unerlaubten Waffenbesitzes. Das wird teuer!
Er ist also Anwalt. Der zweite Schuss zerschlägt den anderen Scheinwerfer. Frau Anwalt erwacht aus ihrer Lethargie und keift in einer Art und Weise los, die selbst ihren Mann in den Schatten stellt.
Wenn es nicht so traurig wäre, würde ich lachen. Ich trete zur Seite. Hoffnung beim Anwalt. Er klemmt sich hinter das Steuer.
Peng! Peng!
Mit zwei wohl gezielten Schüssen lasse ich die Luft aus dem linken Vorder- sowie Hinterreifen. Das gute Stück fährt nirgendwo mehr hin! Und jetzt ist Schluss mit dem Spaß! Raus aus dem Wagen. Sucht euch selbst einen Weg aus dem Schlamassel!
Damit bricht der Anwalt emotional zusammen. Gibt seinen Widerstand auf. Stellt den Motor ab. Steckt die Schlüssel ein. Steigt aus und bedeutet seiner Frau, es ihm gleichzutun. Sich weiter ereifernd leistet sie Folge, nimmt ihr pinkfarbenes Rollköfferchen entgegen und trippelt auf ihren eleganten High Heels ihrem Mann hinterher. Der Fahrer des Kleinbusses erbarmt sich ihrer und nimmt sie auf. Das fortwährende Zetern der Frau verstummt nach einem kräftigen "Hait ezad die Goschn!" Schau einer an, die Bayern wissen, wie es geht!
Die Verhältnisse wurden geklärt. Alles verläuft wieder in normalen Bahnen. Nur noch einige wenige Minuten, bis sich der Konvoi vollständig formiert hat und wir diesen Ort verlassen können.
Mit schwerem Seufzer klaube ich die auf der Fahrbahn verstreuten Dokumente auf. Einsatzbefehle, Aufstellungslisten, Hotel- und Restaurant-Empfehlungen, aktuelle Börsenkurse. Was auch immer sie bedeuten mögen. Ich weiß es nicht.
Was ist das? Ich hebe eine Landkarte auf. Falte sie auseinander. Sie zeigt die Geländetopographie. Berge und Täler. Felsstrukturen. Bebauung, Wälder und Gewässer. Zusätzliche handschriftliche Bemerkungen und Markierungen.
Ich breite die Karte auf der Motorraumhaube des Porsche 987 aus. Verschaffe mir einen Überblick. Mühelos identifiziere ich die Elbschleife um den Lilienstein. Demnach sind wir - hier. Mit dem Finger tippe auf die entsprechende Stelle der Karte. Sogar die Parkplätze sind eingezeichnet. Sehr detailreich! Das Bastei-Berghotel mit sämtlichen Nebengebäuden und Aussichtspunkten wurden sorgfältig eingekreist. Zahlreiche Ziffern und mir unbekannte Schriftzeichen stehen daneben. Es wäre schon sehr interessant zu erfahren, was dort vermerkt wurde.
Einer Eingebung folgend zeichne ich die Zufahrtsstraße in entgegen gesetzter Richtung nach. Bis zu einer weiteren Markierung.
Sie gefällt mir nicht. Und vor allem anderen: was bedeutet sie? Wurde die Straße an dieser Stelle unpassierbar gemacht? Gesperrt? Gesprengt? Ich winke Tamara zu mir und zeige ihr meinen Fund. Beide kommen wir zu dem Schluss, dass sich an jenem Punkt die verbliebene Soldatengruppe mit ihrem gepanzerten Fahrzeug festgesetzt hat. Sie blockiert die Zufahrt zum Basteimassiv und schützt den Kommandoposten vor unliebsamen Besuch.
Eine Straßensperre. Davon müssen wir ausgehen. Wie reagieren wir auf diese unglückliche Fügung des Schicksals? Umfahren lässt sich diese Sperre nicht. Querfeldein schon gar nicht. Das gibt die Mehrzahl unserer Fahrzeuge nicht her. Zu Fuß laufen? Möglich, jedoch langwierig und risikobehaftet. Bleibt die gewaltsame Variante. Angriff. Gegen verschanzte militärische Kräfte. Den Panzerwagen dürfen wir in dieser Rechnung nicht vergessen. Die zerfetzen uns doch!
Tamara nimmt es gelassen. Wir sind ebenfalls gut gerüstet. Haben sogar ein Maschinengewehr! Das Überraschungsmoment ist auf unserer Seite.
Ja, aber!
Nichts da! Ich hätte doch die Leute aus Rathen bis hierher gebracht. Gemeinsam haben wir die Bastei zurückerobert! Eine wichtige Kommandozentrale ausgeschaltet. Mit praktisch nichts. Warum also sollen wir an einer Straßenblockade scheitern?
Die haben einen Panzerwagen!
Ja. Aber nicht so richtig! Es sei vielmehr das fernöstliche Gegenstück zum amerikanischen HMMWV. Na Klasse, als ob das es besser macht!
Tamara sieht keine wesentlichen Probleme. Schnelles und entschlossenes Vorgehen sei der Schlüssel zum Erfolg. Redet die Überraschung groß und Risiken klein. Präzisiert Details.
Ich wanke in meiner Überzeugung. Sie könnte Recht haben. Vielleicht müssen wir etwas wagen, um Erfolg zu haben. Wir sind soweit gekommen, dass wir diese letzte Hürde meistern. Müssen!
Packen wir es an!
Gemeinsam packen wir das QYJ 88-Maschinengewehr aus seiner Transportkiste. Diese Dinger funktionieren doch alle gleich. Ich klappe das Zweibein aus, stelle die Waffe auf die Straße und nehme sie in Augenschein. Gasdrucklader. Der Gasblock liegt unter dem Lauf. Charakteristisch ist der nach rechts versetzte Tragegriff am Laufgehäuse. Eine Munitionsbox lässt sich an der linken Seite ansetzen. Der 100 Patronen umfassende Zerfallsgurt wird bei geöffnetem Verschlussdeckel eingefädelt. Klapp, Deckel zu. Den Spannschieber auf der rechten Seite des Gehäuses kräftig zurückziehen und loslassen.
Feuerbereit!
Ich lege mich hinter die Waffe. Presse den Kolben fest gegen die Schulter. Ziele auf einen Papierkorb am Straßenrand. Etwa 30 Meter entfernt. Betätige den Abzug. Das Ziel wird von zahlreichen Geschossen getroffen und in seine Bestandteile zerlegt.
Holla, die Waldfee!
Wir stellen das Maschinengewehr in den Laderaum des VW T5 und sprechen das weitere Vorgehen ab. Jeder muss seine Rolle kennen. Zweifel können wir nicht gebrauchen. Unsere eigene Existenz hängt von entschlossenem und konsequentem Handeln ab. Ich hoffe inständig, dass das jeder verstanden hat!