Unser Konvoi setzt sich in Bewegung.
Die Spitze bildet der VW-Transporter. Ihm folgt der Skoda Fabia II mit den drei Nordkoreanern als Gefangenenkutsche und schließlich, mit einigem Abstand und in langer Kolonne, alle anderen Autos mit unseren Zivilisten.
Mehrere hundert Meter vor der von uns vermuteten Straßenblockade stoppen wir. Machen uns bereit. Wenden den T5. Öffnen die Hecktüren. Arretieren sie. So kann ich mit dem Maschinengewehr in Fahrtrichtung feuern. Hinter mir postieren sich Tamara und Ulf. Mit ihren AKS-74U. Feuerunterstützung!
Rückwärts fahrend geht es weiter. Unsere Geschwindigkeit ist moderat. So halten wir den Lautstärkepegel niedrig. Konzentriert beobachten wir die Umgebung.
Eine Linkskurve. Gerade Strecke. Rechtskurve.
Da!
Ein gewaltiges Ding mitten auf der Straße. Der Geländewagen! In der offenen Dachluke ein Soldat. Mit dem Rücken zu uns. Links und rechts der Straße weitere Soldaten. Sie bauen an einer Stellung. Schützenlöcher sind bereits ausgehoben. Gerade sind sie dabei, Brustwehren aus Baumstämmen und Erdaushub zu errichten.
Der Transporter rollt aus. Kimme. Korn. Ich habe mein Ziel voll im Visier.
Und es ward Licht!
Das Mündungsfeuer blendet. Doch nicht genug, um das Ziel zu verfehlen. Der Soldat sackt in der Dachluke zusammen. Rührt sich nicht mehr. Zielwechsel. Mehrere Feuerstöße nach rechts. Auch Ulf und Tamara feuern ihre Waffen ab. Ohrenbetäubend!
Sekunden später stellen wir den Beschuss ein. Donnernde Stille!
Bewegung am Straßenrand. Keine 40 Meter entfernt. Ein Soldat erhebt sich. Steht einfach so da. Ich richte das Maschinengewehr neu aus. Der Finger liegt am Abzug. Der Mann hebt langsam die Hände über den Kopf. So recht traue ich der Sache nicht! Doch seinem Beispiel folgt ein zweiter. Und ein dritter. Dessen Blut getränkter linker Arm hängt schlaff herunter. Ein vierter Soldat stützt seinen verwundeten Kameraden. Sie geben auf!
Ulf und Tamara springen aus dem Transporter. Schwärmen aus. Ich gebe ihnen Feuerschutz. Beobachte genau die Soldaten. Die denken jedoch an keine Schweinereien. Ergeben sich in ihr Schicksal. Unter scharfer Bewachung gestatten wir ihnen die Versorgung der Verwundeten unter scharfer Bewachung. Währenddessen inspiziere ich die Straßensperre.
Drei Soldaten liegen in den Straßengräben. Ihren Uniformen nach zu urteilen Chinesen. Tot. Jeder einzelne wurde mehrfach getroffen. Ihrem Kameraden in dem Geländewagen erging es ebenso. Eine Überlebenschance hatte er nicht.
Die militärische Ausrüstung ist nicht von schlechten Eltern. Bei dem Geländewagen handelt es sich um einen Dongfeng CSK-131. So ist es zumindest auf der Typenplakette vermerkt. Voll bepackt mit Waffen, Munition und Ausrüstung. Besonders beeindruckt mich das schwere dachmontierte Maschinengewehr auf Drehring-Lafette. Wir können uns glücklich schätzen, dass dieses Monster nicht gegen uns losgelassen wurde!
Mit vereinten Kräften räumen wir den VW T5-Lieferwagen aus. Er nimmt nun unsere Gefangenen auf. Auch die drei Koreaner aus dem Skoda Fabia II. Der Hotelangestellte kann seine Freude darüber nicht genug zum Ausdruck bringen. Ich gönne es ihm. Und kletterte in den Dongfeng hinter das schwere Maschinengewehr. QIC-88 steht auf dem Systemkasten. Noch nie davon gehört!
Ein letztes Mal geht mein Blick zurück zum Konvoi. Alle Leute sind wieder in ihre Autos gestiegen und warten auf die Weiterfahrt. So soll es sein. Ich klopfe auf das gepanzerte Dach des Geländefahrzeugs. Tamara hinter dem Steuer des Ungetüms gibt Gas und wir rollen los. Der Freiheit entgegen.
Die Fahrt währt nicht lange. Unseren nächsten Halt legen wir an der Tankstelle an der Einmündung der Bastei- in die Hohnsteiner Straße ein. Wir müssen uns entscheiden, welchen Weg wir einschlagen. Nach Pirna im Westen? Oder in die entgegengesetzte Richtung, nach Hohnstein?
Diskussion.
Pirna. Eine um die 40.000 Einwohner zählende Stadt an der Elbe. Das westliche Tor zur Sächsischen Schweiz. Von Schloss Sonnenstein, auf den starken Grundmauern einer alten Festung erbaut, lässt sich Stadt und Elbtal nach Westen hervorragend einsehen. Eine strategisch bedeutsame Position. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es noch nicht durch die Chinesen besetzt wurde. Wir würden vom Regen in die Traufe kommen.
Östlich von uns liegt Hohnstein. Ein kleines, verträumtes Städtchen mit vielleicht 3.300 Einwohnern und einer eindrucksvollen Burg über dem tiefen Polenztal. Außer Natur pur gibt es hier nichts. Auch wenn Hohnstein mit absoluter Sicherheit nicht am Arsch der Welt liegt, so kann man ihn von dort aus sehr gut sehen.
Wir wollen in Sicherheit! So schnell wie möglich. Deshalb ist die Entscheidung klar. Nach Osten! Die anderen stimmen mir zu.
Gerade will ich das Zeichen zur Abfahrt geben, als ich aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung wahrnehme. Ich richte das schwere Maschinengewehr auf dem Drehring aus.
"Halt! Wer da?"
Hinter den Fenstern des kleinen Tankstellengebäudes werden Menschen sichtbar. Zwei. Vier. Fünf. Der Tankstellenbetreiber sowie einige Köche und Bedienungen der angrenzenden SteinReich-Erlebniswelt, wie es sich herausstellt. Also sie uns haben kommen sehen, sind sie auf Tauchstation gegangen. Kein Wunder! Als mitteleuropäische Familienkutsche geht unser Dongfeng nicht durch!
Wir hören deren Geschichte. Vom fehlendem Handy-Empfang. Gestörtem Internet. Zahlreichen Überflügen von Flugzeugen und Hubschraubern. Bis in die Mittagsstunden hinein! Seltsamen Geräuschen. Ähnlich Explosionen. Und Schüssen, vor allem in den vergangenen Minuten. Auch berichten sie von fehlendem Verkehr. Seit Stunden kam kein einziges Auto die Straße entlang!
Dies bestärkt mich in der Richtigkeit der Entscheidung, nach Hohnstein zu fahren. Wir nehmen die fünf Leute auf, fahren an, biegen nach rechts auf die Hohnsteiner Straße in östliche Richtung ein und geben Gas.
Ich schaue nach vorn. Hier ist die Welt in Ordnung. Der Himmel ist blau und die Felder goldgelb. Sommerliche Wärme. Der Fahrtwind kühlt. Gleichmäßig brummen die Motoren. Nichts sonst stört die friedliche Ruhe. Wundervolle Augenblicke des Friedens!
Wir tauchen hinab in das schattendunkle Tal der Polenz und schrauben uns auf der anderen Seite wieder empor. Fahren in das verträumte Hohnstein ein. Die Häuser sonnen sich in der frühen Nachmittagssonne. Kein Mensch weit und breit.
Auf dem kleinen Marktplatz endet unsere Fahrt im Konvoi. Während Tamara unseren Dongfeng im Baumschatten an der Torzufahrt zur Burg parkt, zwängen sich all die anderen Fahrzeuge auf den sonnenbeschienen Platz. Die Motoren verstummen. Menschen steigen aus. Klatschen in die Hände, jubeln und fallen sich gegenseitig in die Arme.
Jawohl. Wir haben es geschafft!
Geschafft. Ich spüre, wie eine schwere Last von mir abfällt. All die Verantwortung für jene Leute dort vorn. Sorgen um mein eigenes Wohl. Zweifel, die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben. Und wahrscheinlich noch viel mehr aus dem Unterbewusstsein hochgespülter Kram. Es tut gut, tief und frei durchatmen zu können!
Nun erst verspüre ich Hunger und Durst. Entschlossen verlasse ich den Panzerwagen, setze mich mit Tamara und Ulf unter den Baum und teile, was ich habe. Selbst gemachtes Beef Jerky und Wasser.