Allmählich lichten sich unsere Reihen. Die ersten Menschen verkrümeln sich. Einige kommen zu uns. Bedanken sich für alles. Und verschwinden. Auch der Hotelangestellte mit dem Skoda Fabia II empfiehlt sich. Er möchte heim. Nach Radeberg. Zumindest will er es versuchen. Um seine Frau wiederzusehen. Erst vor einigen Monaten hatten sie geheiratet. Ich kann es ihm nicht verdenken. Zwei weitere Leute schließen sich ihm an. Steigen in den Kombi. Fahren vom Platz. Und sind weg.
Dafür sehe ich neue Gesichter. Einwohner vermutlich. Vielleicht auch einige Urlauber. Sie tauschen sich miteinander aus. Stellen Vermutungen an. Schmieden Pläne. Versuchen mit ihren Handys Kontakt zur Außenwelt aufzunehmen. Stehen ratlos herum und wissen nicht weiter.
Einige fragen uns, was zu tun sei. Als ob wir das wissen! Doch sie haben Recht. Das Ganze ist noch nicht ausgestanden. Wir müssen unsere nächsten Schritte planen.
Just in diesem Augenblick rückt die Ordnungsmacht an. Pünktlich wie die Deutsche Bahn. Mit Blaulicht und Martinshorn. Ein weißblauer Streifenwagen der Bundespolizei und ein weißgrüner Mannschaftswagen der Bundeszollverwaltung. Sechs Helden im Staatsdienst. Uniformen spannen sich über Wohlstandsbäuche. Ich fühle mich gleich viel sicherer.
Sie reden mit einigen Leuten. Gestikulieren. Schauen in unsere Richtung. Bahnen sich ihren Weg über den Marktplatz in unsere Richtung. Ulf entschwindet nach rechts aus dem unmittelbaren Blickfeld. Tamara huscht zum Dongfeng. Ich bleibe allein zurück. Mit Beef Jerky in der Linken und der Wasserflasche in der Rechten.
Jetzt wird es spannend.
Der Wortführer, ein beleibter Mittvierziger mit vier blauen Sternen auf den Schulterklappen, bleibt wenige Schritte vor mir stehen. Mit weisungsgewohnter Stimme möchte er wissen, was dieser Auflauf an Menschen und Fahrzeugen zu bedeuten habe. Bevor ich antworten kann, erspäht er das Sturmgewehr neben mir im Gras liegen. Sofort schaltet er einen Gang hoch. Zieht sein Reizstoff-Sprühgerät vom Gürtel. In Anbetracht der herrschenden Umstände habe ich alle Mühe, die Fassung nicht zu verlieren.
Irgend etwas verlangt er von mir. Doch ich verstehe ihn aufgrund seiner sich überschlagenden Stimme nicht. Um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, halte ich meine Hände sichtbar über der Gürtellinie und vermeide hektische Bewegungen. Ruhig und respektvoll bitte ich den Beamten, sich doch zu beruhigen und sein Spielzeug wegzustecken. So richtig kommt es nicht bei ihm an.
Kommunikationsprobleme sind in derartigen Situation nicht förderlich. Deshalb weise ich mit einer Kopfbewegung nach rechts. Der Polizist bleibt begriffsstutzig und fuchtelt mit dem Sprühgerät vor meiner Nase herum.
"Herbert!"
Ein Kollege hat mehr Erfolg. Polizist Herbert schaut in die angegebene Richtung. Mir ist bewusst, dass dort Ulf um die Hauswand lugt. Mit der AKS-74U im Anschlag.
Ich kann hören, wie es in Herberts Oberstübchen arbeitet. Bevor er der beginnenden Panik nachgibt, lässt ihn ein Geräusch in die andere Richtung blicken. Erkennt im dunklen Schatten des Baumes den Panzerwagen. In der Dachluke steht Tamara. Soeben hat sie das Maschinengewehr auf der Drehringlafette ausgerichtet. Herbert blickt direkt in dessen Mündung. Zu allem Überfluss erscheint der Lieferwagenfahrer mit umgehängter AKS-74U im Rücken der Beamten, ohne die Situation korrekt einschätzen zu können.
Nun sind die Verhältnisse geklärt!
Mit ehrlicher Neugier frage ich nach ihrem Woher und Wohin. Stationiert sind sie im Zittauer Raum. Großschönau. Seifhennersdorf. Dort seien sämtliche Kommunikationsmittel ausgefallen. Internet. Funk. Telefon. Sie erhielten den Auftrag, Kontakt mit der Polizeidirektion Oberes Elbtal in Pirna aufzunehmen. Und das weitere Vorgehen mit der vorgesetzten Dienststelle abstimmen.
Nun schildere ich die bisherigen Ereignisse des Tages, bemüht, nichts auszulassen. Die Polizisten zweifeln. Schlagen einen Drogenschnelltest vor. Erst der Anblick unserer Gefangenen lässt sie aus allen Wolken fallen und die Tragweite des Geschehenen erfassen.
Für dieses Szenario existieren keine Pläne. Die Beamten sind ratlos. Sie sind wahrlich nicht die hellsten Leuchten am Baum. Beinahe tun sie mir leid! Also unterbreite ich ihnen Vorschläge. Sollen die Gefangenen übernehmen. Zu ihren Dienststellen zurückkehren. Und alarmieren, wer und was zu alarmieren ist.
Einer der Zollbeamten bleibt nachdenklich. Ihm hat es die Geschichte mit dem Kommandoposten angetan. Er will die Geräte. Mit wachsendem Eifer berichtet er von historisch belegten Beispielen des Mitlesens der gegnerischen Kommunikation. Im Ersten Weltkrieg bargen die Russen von einem gestrandeten deutschen Kreuzer das Signalbuch, mit dessen Hilfe der deutsche Marinefunk dechiffriert und mitgelesen werden konnte. Später, im Zweiten Weltkrieg, brachen die Alliierten in zahlreiche deutsche Schlüsselverfahren ein und erhielten dadurch große Vorteile durch abgehörte Informationen.
Vielleicht tragen die Geräte aus dem ausgehobenen Kommandoposten dazu bei, solch einen Erfolg zu wiederholen? Das wäre richtig starker Tobak! Schnapp' dir die Technik, Tiger! Der Weg auf die Bastei ist ausgeschildert. Das ganze technische Zeug befindet sich auf dem östlichen Aussichtsplateau. Am Panorama-Restaurant vorbei und dann rechts. Es ist nicht zu verfehlen!
Ja, wenn es denn so einfach wäre. Die Beamten wollen Begleitschutz. Das ist ihnen nicht zu verübeln. Doch bekommen sie nicht den Dongfeng! Soll damit etwa ein vielleicht strategisch wichtiges Unternehmen begraben werden, bevor es anfängt?
Ich bin zwiegespalten. Letzten Endes aber werde ich es mir nie verzeihen können, eine Chance verpasst zu haben, diesen militärischen Konflikt zu unseren Gunsten zu beeinflussen! Also gut. Wir sind dabei!
Nicht benötigte Waffen und Ausrüstung lagern wir in einem Raum auf der Burg ein. Ulf beaufsichtigt sie, damit sie keine Beine bekommen. Tamara übernimmt das Steuer des CSK-131. Ich das dachlafettierte QJC-88.
Rückzug? Zur Hölle!
Unser Dongfeng fährt voran. Zwei Streifenhörnchen folgen uns in ihrem grün-weißen Party-Bus. Mit Blaulicht! Bevor ich mich darüber aufrege, mache ich mir klar, dass ich nicht in dieser fahrenden Zielscheibe sitzen muss.
Wir fahren denselben Weg zurück, den wir gekommen sind. Durch das Polenztal. Über den Hockstein. Durch Rathewalde. An der SteinReich-Erlebniswelt links ab auf die Basteistraße. Vorbei an der gesprengten Straßensperre. Dem Besucherparkplatz. Dem arenaroten Porsche 987 auf seinen beiden platten Reifen. Bis auf den Innenhof des Bastei-Hotels.
Alles ist so, wie wir es zurückgelassen haben.
Völlig verzückt beginnen die beiden Beamten, das Material der Nordkoreaner abzubauen und in ihrem VW-Transporter zu verstauen. Dabei gehen sie nicht zimperlich vor. Zerschneiden Kabel. Biegen sich Antennen und Sensorik zurecht, wie sie es gerade brauchen. Fehlt nur noch, dass sie die Prozessoren und Speicherkarten aus den Geräten reißen und dabei den Regentanz aufführen.
Tamara und ich schauen zu und behalten dabei die Umgebung im Auge. Niemand stört uns! Kurz bevor die Polizisten die letzte Ladung zu ihrem Transporter schleppen, liegt von Neuem das Dröhnen leistungsstarker Triebwerke in der Luft. Die zweite Welle rückt an. Hubschrauber. Transportflugzeuge. Überlegenheitsjäger.
Es ist Zeit!
Unsere beiden Streifenhörnchen zittern vor Ekstase, als sie in ihr Gefährt steigen und schneller vom Platz rollen, als wir folgen können. Natürlich. Wir haben unsere Schuldigkeit getan. Bedeutung hat nur noch, die Beute in Sicherheit zu bringen und sich den Erfolg an die Brust zu heften.
Unser Dongfeng jedoch ist potenter, als das fahrbare Disko-Licht. Auf Höhe des Besucher-Parkplatzes schließen wir auf, nur um Augenblicke später den VW-Transporter in einer Wolke aus Flammen, Rauch und Trümmerteilen vergehen zu sehen.
Tamara steigt in die Eisen. Schlitternd kommt der CSK-131 zum Stehen.
"Dort drüben!"
Nahezu gleichzeitig entdecke ich ihn rechts vor uns. In niedriger Höhe. Wie ein überdimensionales Insekt über der Freifläche des Parkplatzes schwebend. Ein Hubschrauber! Seine Rotoren peitschen die unmittelbare Botanik. Mi-8. Vielleicht eine seiner Weiterentwicklungen. Transportversion. Die seitlichen Ausleger für zusätzliche Waffenstationen fehlen.
Mir schwillt der Kamm! Zweifellos; die beiden Polizisten waren Idioten. Deswegen putzt man sie aber noch lange nicht mit einem Großkaliber vom Buffet!
Ich stoße die Dachluke auf. Greife das schwere QJC-88-Maschinengewehr an den Handgriffen. Ein schlankes, geradezu elegantes Gerät. Mit Zielfernrohr. Die auf dem Drehring montierte Waffe lässt sich schnell und unkompliziert ausrichten. Drücke mit beiden Daumen den Schmetterlingsabzug.
Das Maschinengewehr beginnt ihren Gesang.
Ein Teil der Munition ist mit einem Leuchtsatz versehen. Das erleichtert das Zielen erheblich. Schon erfasst die Salve den Hubschrauber. Löcher werden in seinen Rumpf gestanzt. Teile der Triebwerksverkleidung abgerissen. Funkenschlag. Rauchentwicklung. Flammen! Der kräftige Klang der Wellenturbinen verändert sich zu einem ungesunden Husten.
Langsam schwenkt der Hubschrauber zu mir herum. Ich kann den Piloten hinter der Cockpitverglasung erkennen. Halte voll drauf! Die Geschosse prallen an der Panzerung ab und gellen nach allen Seiten davon.
An der rechten Seite des Cockpits blitzt es auf. Ein Geräusch, als werfe jemand Pflastersteine gegen eine Metallplatte. Gänzlich unbewaffnet ist dieser Transporter also nicht! Etwas in mir möchte sich in das Innere des Panzerwagens zurückziehen. Doch zwinge ich mich, den Beschuss aufrecht zu erhalten.
Der Hubschrauber verliert seine Stabilität. Beginnt, in der Luft zu schlingern. Schwankt immer stärker hin und her. Kippt schließlich seitwärts ab. Die Rotorblätter fressen sich in Buschwerk. Berühren den Boden. Brechen mit lautem Knall. Ein riesiges Bruchstück fetzt durch die Luft. Knallt in den Wald, nur wenige Meter von meinem Standort entfernt. Geht durch Baumstämme, wie ein heißes Messer durch Butter.
Der schwere Rumpf prallt auf den Boden. Verschwindet in einer Wolke aus Staub, Trümmern und dichtem schwarzen Qualm. Vereinzelt schlagen Flammenzungen aus dem Chaos.
Atemberaubende Stille.
Ich lasse das leergeschossene Maschinengewehr los und gehe auf Tauchstation.
Tamara, die wohl hinter dem Armaturenbrett Schutz gesucht hat, betrachtet zusammen mit mir die geborstene, jedoch nicht zerbrochene Windschutzscheibe. Ein Hoch auf das hochwertige fernöstliche Panzerglas!
Und jetzt nichts wie weg hier!
Jedoch mag der Motor nicht anspringen. Tamara versucht es wieder und wieder und wieder. Endlich kommt Leben in die Bude. Das Getriebe kracht und der Dongfeng setzt sich taumelnd und röchelnd in Bewegung. Scheinbar hat er mehr abbekommen, als nur eine lädierte Frontscheibe?
Weit kommen wir nicht. Der Wagen zieht stark zur Seite. Tamara kann es nicht ausgleichen und setzt ihn in den Straßengraben. Ein letztes Aufbäumen und der Motor stirbt.
Ich nehme mein Sturmgewehr und steige aus. Meine Begleiterin folgt meinem Beispiel. Ein Blick nach Westen. Über dem Parkplatz wabert träge eine große Rauchwolke und verdeckt den Absturzort des Hubschraubers. Auf der Straße kokeln die Reste des Polizei-Mannschaftswagens vor sich hin.
Unserem fahrbaren Untersatz wurde die verstärkte Motorraumverkleidung aufgerissen, zerfetzt und verbogen. Die Eingeweide liegen bloß. Kühlwasser, Hydraulikflüssigkeit und Motorenöl sammelt sich in Lachen unter der geschundenen Karosserie. Der CSK-131 hat es hinter sich.
Ohne weiteren Aufhebens brechen wir auf und entfernen uns flinken Fußes nach Osten.