Zurück zum Berghotel? Das kommt nicht in Frage. Früher oder später säßen wir dort in der Falle. Was bleibt? Runter vom Bastei-Massiv! Abstieg durch den Griesgrund in das Elbtal? Nein, ebenfalls keine Option! Es bleiben die Schwedenlöcher, die uns zurück in den Amselgrund führen. Stufe um Stufe und ohne Eile.
Hier unten, zwischen den Felsen, herrscht die Stille. All der Lärm von Triebwerken, Rotoren und verdichteter Luft rollt über die Klamm hinweg, ohne sie selbst zu füllen. Das erlaubt uns, immer wieder innezuhalten, um die Ohren zu spitzen.
So erreichen wir den Abschnitt, in dem die Schwedenlöcher am schmalsten und die Felswände am Höchsten sind. Angenehme Kühle. Von den moosbedeckten Felsen tropft Wasser, welches sich unter den hochgelegten Betonplatten des Weges sammelt und in unsere Marschrichtung abfließt.
Bei mir machen sie allmählich die Strapazen des Tages bemerkbar. Meine Füße sind angeschwollen. Die Beine fühlen sich an, als wären sie auf Blei. Mit der Konzentration ist es nicht mehr weit her. Kaum verwunderlich, als ich mit Tamara zusammenstoße, als sie unvermittelt stehen bleibt. Nicht, dass das unangenehm wäre, aber …
Gehetzt dreht sie sich zu mir um und legt den Finger auf die Lippen. Sofort bin ich hellwach. Gefahr!
Ich lausche. Drehe langsam den Kopf. Ein ferner Lärmteppich. Sehr schwach. Sehr weit weg. Irgendwo hinter mir tröpfelt Wasser. Leises Säuseln. Sind das Stimmen? Verhaltenes Lachen. Ganz kurz nur. Kein Zweifel! Uns kommen Leute entgegen!
Ausweichen können wir nicht. Und zurück? Dann gilt es, leise zu sein und einen großen Abstand zu wahren. Schwierig! Tamara hat eine andere Idee! Sie zeigt nach unten.
Ich brauche einige Sekunden, um zu verstehen. Die Betonplatten, auf denen wir stehen, liegen auf schweren Stahlträgern aufgelegt schätzungsweise einen halben Meter über dem natürlichen Boden der Klamm. Der Zwischenraum füllt sich vor allem während der Schneeschmelze und nach heftigen Regengüssen mit Wasser und Sediment. Im gegenwärtigen, sehr heißen Sommer ist davon nicht viel übrig. Zwischen einem armselig kleinen Rinnsal und abgestorbenem Holz sprießen allerlei Farne und Gräser auf dem versumpft sandigen Boden.
Der Abstand zwischen dem Gehsteig und den Felsen ist recht gering. Zum Glück muss ich nur den Bauch einziehen, um mich da hindurch zu quetschen. Bei Tamara sieht es freilich anders aus, doch schafft sie es ebenfalls.
Da knien wir zu zweit mit eingezogenen Köpfen im knöcheltiefen Matsch und harren der Dinge, die da kommen. Und die lassen nicht lange auf sich warten! Wir hören Schritte auf den Betonplatten. Angestrengtes Schnaufen und Keuchen. Metallenes Klappern und Schaben von Ausrüstung gegen Fels und Stein. Tamara und ich sehen uns an. Sind mucksmäuschenstill. Wagen nicht einmal mehr zu atmen.
Die Schritte kommen näher und näher. Jemand flüstert. Klingt fremd. Ausländisch. Ein anderer antwortet. Mehrere lachen unterdrückt. Allesamt atmen sie schwer. Ja, die Schwedenlöcher verlangen ihren Tribut von jedem!
Sie poltern über uns hinweg. Fünf Soldaten, wie es scheint. Dreck rieselt von oben auf uns herab. Ich ziehe das T-Shirt über Mund und Nase, um die Atemwege zu schützen. Ein herzliches Niesen wäre gerade unangebracht.
Dann sind sie vorbei. Die Geräusche entfernen sich. Verstummen schließlich ganz. Wir warten noch eine kleine Ewigkeit, ehe wir es wagen, uns zu bewegen.
Die Luft ist rein. Wir klettern zurück auf die Betonelemente. Die Schuhe haben sich mit Wasser vollgesogen und quietschen bei jedem Schritt, die dreckverkrustete Hose schlackert nass und schwer um die Waden. Mit unseren ersten Schritten legen wir eine deutliche Spur auf den Weg.
Wir setzen unseren Abstieg in den Amselgrund fort. Schritt um Schritt. Schweigend. Stufe um Stufe. Ohne Eile.
Der Amselgrund. Einmal mehr! Auch hier hat sich seit meinem letzten Besuch nichts verändert. Gar nichts! Weder der kleine Bach, noch die dicht bewaldeten Berghänge. Die vereinzelten moosbewachsenen Felsbrocken. Oder der sandsteingepflasterte Weg. Diese Vertrautheit verleiht mir ein Gefühl von Sicherheit. Etwas, das ich außerordentlich wertschätze und genieße.
Ohne nachzudenken schlage ich den Weg nach Rathen ein. Tamara folgt mir ohne Widerspruch.
Wortlos marschieren wir nebeneinander. Gedanklich habe ich auf Durchzug gestellt. Will über nichts und niemanden nachdenken. Meine verdreckten nassen Klamotten setzen die Messlatte für dieses Vorhaben ziemlich hoch. So konzentriere ich mich auf das gleichmäßige Quietschen der durchweichten Schuhe.
Quietsch. Quietsch! Quietsch. Quietsch!
Bevor sich der kleine Bach zum Amselsee erweitert, biegt ein unbefestigter Fahrweg nach links in den Höllgrund ab. Letzten Endes wird er uns bis nach Hohnstein führen. Vor wenigen Stunden noch habe ich diesen Fußmarsch verworfen. Und nun? Beschreite ich ihn trotz aller Bedenken! Wie die Zeiten sich ändern!
Unversehens drängt mich Tamara ins Unterholz. Der Körperkontakt erzeugt einen Kurzschluss im Hirn.
"Jetzt? Hier?"
Kurze Panik. Oh, Geist des großen Caesar, das habe ich doch nicht laut gesagt? Offensichtlich nicht, denn Tamara reagiert nicht darauf. Sondern linst gebannt durch das Buschwerk nach vorn. Ich Glückspilz!
Am von mir erwarteten Abzweig in den Höllgrund steht ein Jeep. Ein UAZ. Bewährte russische Konstruktion aus den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts. Das Emblem der nordkoreanischen Volksarmee prangt auf der Fahrertür.
Drei Soldaten haben eine Gruppe Bergsteiger umstellt. Filzen deren Ausrüstung. Sie haben richtig Spaß daran!
Erneut rempelt mich Tamara an. Eine Aufforderung, ihr zu folgen! In Ordnung. Der Waldboden dämpft unsere Schritte. Wir sind beinahe lautlos. Erreichen den Jeep. Noch drei, vier Schritte. Über Sandsteinpflaster.
Quietsch. Quietsch!
Ist nicht wahr!? Ich stehe kurz davor, meine Schuhe hinzurichten.
Ein Nordkoreaner hört die Geräusche und dreht sich um. Ich mache einen riesigen Ausfallschritt nach vorn. Quietsch! Haue dem Soldaten den Kunststoff-Schaft meines Sturmgewehres um die Ohren. Er klappt wie eine Marionette zusammen, deren Fäden durchschnitten wurden.
Sein ihm am nächsten stehender Kamerad reagiert. Nur, um in die Mündung von Tamaras Waffe zu blicken. Ganz schnell folge ich ihrem Beispiel und bedrohe den Dritten im Bunde mit dem gefährlichen Ende meines Schießprügels. Beide Soldaten sind schlau genug, keine Dummheiten zu machen. Ohne Schwierigkeiten lassen sie sich entwaffnen. Nachdem ihre Hände mit allgegenwärtigen Plastikfesseln fixiert wurden, setzen wir sie an den Straßengraben.
Die Bergsteiger, vier Männer und eine Frau, glotzen uns an, als wären wir von einem anderen Stern. Meine Frage nach dem Woher können oder wollen sie nicht beantworten. Ich gebe ihnen den Rat, vom Bastei-Massiv und dem Elbtal fernzubleiben. Das scheinen sie zu verstehen. Gut. Mit einiger Hektik sammeln sie ihr verstreutes Zeug zusammen.
Derweil begutachte ich den Geländewagen. Der UAZ-469 ist ein Veteran vergangener Zeiten. Vier Türen. Kein Verdeck. Der Überrollbügel hinter den Vordersitzen besitzt eine Vorrichtung zur Aufnahme einer schweren Waffe. Zweifellos besteht der UAZ keinen Vergleich zum Dongfeng, doch auch er ist in der Lage, uns schneller zum Ziel zu bringen. Es wäre töricht, diese Chance zu vergeben!
Wir wollen die Kletterheinis mitnehmen. Doch sie lehnen ab. Einer nach dem anderen verschwinden sie über einen unscheinbaren Kletterpfad in Richtung der Honigsteine. Ich bin mir sicher, dass wir sie früher oder später in Hohnstein wiedersehen werden.