Kapitel 5
Wie ein Roboter setzte sich Ana in Bewegung. Sie rannte auf die Gruppe zu und schubste irgendein Elternteil auf die Seite. Als sie ihre Tochter auf dem Boden liegen sah, wurde es ihr kälter, falls es überhaupt möglich war. Nala lag mit dem Rücken auf dem Boden und schnappte verzweifelt nach Luft. „Ruft einen Krankenwagen!“, schrie Ana. Tränen rollten ihr die Wangen herunter. „Süße, ich bin da. Alles wird gut.“ Ana strich Nala beruhigend über die Haare. Dabei zitterte aber ihre Hand gewaltig. „Bringt die Kinder hier weg!“, hörte sie eine Frau sagen. Einer der Väter rief einen Krankenwagen. „Gehen Sie auf Seite, ich bin ein Arzt. Ein Mann kniete sich neben Ana. „Gehen Sie bitte ein Stück zurück.“ Sie nahm den Mann gar nicht richtig war. Alles an was Ana denken konnte, war ihre Tochter. „Gehen Sie bitte auf Seite, ich bin Kinderarzt und kann Ihrer Tochter nur helfen, wenn Sie mir Platz machen.“ Ana nickte wie benommen und sah auf. Als sich ihre Blicke begegneten, blieb Ana die Luft weg. Auch er sah verwirrt aus. „Bitte, hilf ihr“, sagte Ana verzweifelt. Dean nickte und sah sich Nala genauer an. „Sie erleidet einen anaphylaktischen Schock. Ist sie gegen irgendetwas allergisch?“ „Nein. Das ist noch nie passiert.“ Anas Stimme zitterte. „Wespenstich. Ihr Immunsystem reagiert zu Schwach. Wo bleibt der Krankenwagen?!“ Kurz darauf ertönten die Sirenen. „Ana? Was ist hier los?“ Während Nala ins Krangenwagen gebracht wurde, hielt Ana Dean am Arm fest. „Sie ist mein ein und alles. Bitte rette sie.“ „Ihr wird nichts passieren, das verspreche ich.“ Er stieg ebenfalls in den Krankenwagen. Dann wurde alles zu viel für Ana. Nalas Zustand. Dean. Dean! Während der Krankenwagen davon fuhr, wurde es schwarz um Ana. Das letzte was sie hörte, war ihr Name. Als sie wieder zu sich kam, saß sie in Teos Range Rover. „Wo ist Nala?“, fragte Ana panisch. „Im Krankenhaus. Wir fahren jetzt auch dorthin.“ „Beeil dich Teo!“ Kurz darauf hielt Teo vor dem Krankenhaus an. Ana wartete nicht einmal bis der Wangen anhielt. Sie sprang raus und rannte zur Rezeption. „Nala Davids. Ich bin ihre Mutter, wo ist sie?“ Die Frau an der Rezeption tippte etwas in ihr PC ein. Alles kam ihr wie in Zeitlupe vor. „Raum 158.“ Ohne ein weiteres Wort, rannte Ana los. Bevor sie die Tür erreichen konnte, ging diese auf und Dean trat raus. Er trug einen weißen Kittel und ein Stethoskop um seinen Hals. Was für ein seltsamer Anblick. „Wo ist Nala?“ „Ihr geht es gut. Ihr Zustand ist stabil.“ Erleichtert atmete sie tief aus. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie die Luft angehalten hatte. „Kann ich zu ihr?“ „Im Moment schläft sie. Geh aber ruhig rein. Danach müssen wir aber über ihre Allergie reden.“ Ana nickte und ging ins Zimmer. Nala schlief tief und fest und ihr Atem ging wieder normal. Sie hing an einem Tropf und neben ihr war ein Monitor, das ihre Herzsequenz und ihr Puls zeigte. „Spätzchen.“ Ana setzte sich auf die Bettkante und strich Nala sanft über die Stirn und runter an die Schläfe. „Du hast mir eine Heidenangst eingejagt.“ Auf ihrem Arm sah Ana einen Wespenstich. Ana stand auf, damit Dean ihr sagen konnte, was mit Nala war. Sie trat raus und sah ihn an der gegenüberliegenden Wand stehen. Er sah sich irgendwelche Notizen an. Als er sie hörte, sah er auf. „Was ist mit meiner Tochter passiert?“, fragte Ana. Dean trat auf sie zu. „Komm setz dich erst mal.“ Er reichte ihr eine Wasserflasche. Woher er die Flasche hatte, wusste sie nicht. War aber auch nicht wichtig. Sie setzte sich hin und trank ein Schluck. „Also, Nala hatte einen anaphylaktischen Schock.“ „Was heißt das?“ „Sie hat eine starke allergische Reaktion auf ein Wespenstich gezeigt. Durch den Stich ist ihr Blutdruck gesunken und ihr Kehlkopf angeschwollen. Deshalb hat sie auch nach Luft geschnappt. Normalerweise ist das bei Kindern nicht häufig. Wenn man nicht rechtzeitig erste Hilfe leistet, kann das tödlich enden. In der Medizin gibt es verschiedene Schweregrade des anaphylaktischen Schocks. Nalas war im zweiten Grad.“ „Was? Nala hätte sterben können?“ „Ist sie aber nicht. Wusstest du, dass sie eine Allergie hat?“ Ana schüttelte ihren Kopf. „Oh Gott, ich bin eine schreckliche Mutter! Ich weiß nicht einmal, dass meine Tochter eine Allergie hat.“ Ana schlug die Hände vor ihr Gesicht. Ihr ging der Anblick nicht mehr aus dem Kopf. Wie Nala auf dem Boden gelegen hatte. Verzweifelt nach Luft schnappend. „Hey, schau mich an.“ Dean zog Anas Hände von ihrem Gesicht. „Wurde Nala schon einmal gestochen?“ Ana musste nicht einmal lange überlegen. „Nein.“ „Dann konntest du unmöglich wissen, dass sie eine starke Allergie hat.“ „Du wusstest es aber sofort.“ „Ich habe auch Medizin studiert. Außerdem bin ich auch gegen Wespenstiche allergisch.“ Ana wollte etwas erwidern, aber da rief Teo schon ihren Namen. Ana sprang auf und rannte auf Teo zu. Sofort umarmte er sie. „Was ist denn passiert? Wie geht es Nala?“ „Wespenstich, Schock…anaphylaktisch…“ „Ana, ich verstehe kein Wort.“ Teo sah Dean fragend an. Dieser wiederum sah Ana verwirrt an, sagte aber nichts. Stattdessen wandte er sich an Teo. „Sie hatte einen anaphylaktischen Schock und das hat zu Atemnot geführt. Sie ist jetzt aber stabil. Zur Sicherheit, sollte sie aber über Nacht hier bleiben.“ „Ich bleibe bei ihr.“ Ana sah Dean an. „Natürlich. Ich sage der Schwester, dass sie dir ein Klappbett bringen soll.“ „Danke.“ Dean nickte und ließ Teo und Ana alleine. „Wann seid ihr denn zum du übergegangen? Du siezt doch die Leute extrem lange.“ Ana ignorierte ihn und sah Dean nach. „Großer Gott, ich bin erledigt.“ Seufzend ließ sie sich auf eins der Stühle fallen. „Was mach ich jetzt?“ Da ihre Sorge um Nala etwas gesunken war, konnte sie jetzt erst realisieren, dass Dean hier war. „Hey, du hast doch gehört, was Dr. Lewis gesagt hat. Nala geht es gut.“ „Mir aber nicht. Ich glaub, ich übergebe mich gleich.“ Teo kniete sich vor sie und runzelte vor Sorge die Stirn. „Was ist los?“ „Der Mann, Dean…Ich kenne ihn.“ „Das ist mir auch aufgefallen.“ „Scheiße, was macht er hier? Er darf nicht hier sein!“ „Ana, was zum Teufel ist los. Woher kennst du diesen Mann?“ Ana sah Teo in die Augen. „Ich kenne ihn, weil er Nalas Vater ist.“ Stille. Absolute Stille. Teo blinzelte ein paar Mal. „Weiß er das?“ „Gott, nein! Das darf er auch nicht!“ „Warum denn nicht?“ „Das ist eine extrem lange Geschichte, an die ich nicht denken will.“ Ana fuhr sich mit den Händen durch die Haare. „Ich bin erledigt. Aber was macht er hier? Er wollte nach Europa, verdammt nochmal!“ Teo sah Ana schweigend an. Er suchte nach den passenden Worten. „Ich glaube, das ist nicht der richte Ort, für so ein Gespräch.“ Sie massierte sich die Schläfen. „Du hast recht. Bleibst du bei Nala, ich muss mich frisch machen.“ Sie stand auf. „Sicher.“ Sie drückte kurz seinen Unterarm, lächelte schwach und ging in die Damentoilette. Dort spritzte sie sich Wasser ins Gesicht. Ihre Mascara war völlig verlaufen. Sie sah aus wie ein Panda. Mit Tüchern entfernte sie die verschmierte Mascara. Ihre braunen Locken band sie zu einem unordentlichen Knoten. Anschließend ging sie raus. Zu ihrer Überraschung stand Ronny neben Teo und redete mit ihm. Als sie Ana bemerkte, kam sie auf sie zu und umarmte ihre Freundin. „Teo hat mir erzählt was passiert ist. Ein Glück, dass ein Arzt anwesend war.“ Ana nickte bloß. Sie hatte keine Kraft mehr. Ronny führte Ana zu einem der Stühle, danach wandte sie sich an Teo. „Geh bitte in Anas Wohnung und hol ihr bequeme Klamotten. Und für Nala ihre Pyjamas.“ „Geht klar. Gibst du mir die Schlüssel?“ Er sah Ana an. Sie nickte und kramte in ihrer Tasche. Dann reichte sie ihm die Schlüssel und er lief los. Ana stand auf. „Ich gehe zu Nala.“ „Okay. Ich bin hier, falls du was brauchst.“ Ana lächelte schwach. „Brauchst du nicht. Danke, dass du gekommen bist, aber ich schätze Liah wird nicht ruhig daheim sitzen wollen, wenn du hier bist.“ „Tommy ist doch bei ihr.“ „Das weiß ich, aber ich komm schon klar.“ Ronny gab schließlich nach. „Du rufst aber sofort an, wenn du etwas brauchst.“ „Mach ich.“ Ronny umarmte ihre Freundin noch einmal, nahm ihre Tasche und ging. Ana betrat leise Nalas Zimmer und setzte sich in eines der Sessel. Ana wusste nicht wie spät es war, als Teo ins Zimmer kam und ihr die Klamotten brachte. Auch ihn schickte Ana nachhause. Als es draußen dunkel wurde, kam eine Schwester rein, kontrollierte die Werte auf dem Monitor und den Tropf, wünschte Ana eine gute Nacht und verschwand wieder. Ana nahm ihr Telefon aus ihrer Tasche und sah auf die Uhr. Einundzwanzig Uhr dreißig. Auf ihrem Display lächelte Nala in die Kamera. Das Foto war zwei Wochen alt. Sie waren an diesem Tag im Garvan Woodland Gardens gewesen. Sie hatten den Garten, die Kapelle und den Wasserfall besucht. Es war ein schöner Tag gewesen. Nicht zu heiß und nicht zu kühl. Ana stand auf und hauchte Nala ein Kuss auf die Stirn. Merkwürdig, ihre Stirn war sehr heiß. Fieber, sie hatte Fieber. Ana rannte raus und rief nach einer Schwester. Aber nirgends war eine zu finden. Sie versuchte nicht zu hyperventilieren. In dem Moment kam Dean um die Ecke. Als er ihren panischen Gesichtsausdruck sah, rannte er los. Er trug aber keinen Arztkittel mehr. Er hatte wohl Feierabend. „Was ist los?“, fragte er, während er an ihr vorbei ging. Sie folgte ihm zurück ins Zimmer. „Sie hat Fieber“, antwortete Ana und sah zu, wie Dean eine Hand auf ihre Stirn legte. Im selben Moment kam eine Schwester rein. „Pupillenleuchte“, sagte er zu der Schwester, ohne aufzusehen. Sie reichte ihm eins. „Pupillen reagieren normal. Stethoskop.“ Er nahm es entgegen und horchte nach ihrem Herzschlag. Dann sah er auf das Monitor. „Alles in Ordnung.“ Zum Schluss nahm er den Fieberthermometer. „Neununddreißig Grad.“ Er sah die Schwester an. „Geben Sie ihr Ben-u-Ron und kontrollieren Sie nach einer halben Stunde noch einmal ihr Fieber.“ „In Ordnung, Dr. Lewis.“ Die Schwester nahm ihre Sachen entgegen und verließ das Zimmer. „Geht es ihr gut?“ „Ja, das ist nur eine Nachwirkung.“ Erleichtert atmete sie durch und ließ sich auf den Sessel fallen. Gleichzeitig kam die Schwester und gab Nala die Medizin. Nachdem die Schwester das Zimmer verlassen hatte, sagte Dean: „Du brauchst jetzt Kaffee und ich auch. Komm wir gehen in die Kantine.“ „Nein, ich lasse Nala nicht alleine.“ „Sie ist in guten Händen und du siehst aus, als hättest du gleich einen Nervenzusammenbruch.“ Da lag er nicht einmal falsch. Schließlich stand sie auf und nahm ihre Tasche. Sie hatte sich umgezogen. Inzwischen trug sie eine hellblaue Stoffhose und ein weißes T-Shirt. Gemeinsam mit Dean verließ sie das Zimmer und lief zu den Aufzügen. Während sie liefen entstand eine peinliche Stille. Was tat sie nur? Sie war gerade dabei, mit Nalas Vater, dem Mann, der sie einfach zurückgelassen hatte, Kaffee zu trinken. Aber sie musste mit ihm reden. Vor allem wegen ihrer neuen Identität. Er kannte sie ja als Claire Daniels. Verzweifelt überlegte sie, was sie sagen könnte. Sie betraten die Kantine. Ana setzte sich an einen freien Tisch und Dean ging Kaffee holen. Sie fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. Was sollte sie nur tun? Er war ja nicht einmal zu besuch. Er lebte ab jetzt in Hot Springs. Und ausgerechnet er war Nalas Arzt. Was würde wohl passieren, wenn er herausfände, dass Nala seine Tochter war? Daran wollte sie nicht einmal denken. „Ich hoffe, du trinkst deinen immer noch mit viel Milch und Zucker.“ Dean stellte Anas Kaffee vor ihr ab. Es überraschte sie, dass er immer noch wusste, wie sie ihren Kaffee trank. „Ja. Danke.“ Sie legte die Hände um den Becher und starrte ihren Kaffee an. Sie holte tief Luft und sah ihm in die Augen. „Claire Daniels existiert hier nicht.“ Dean nickte. „Das ist mir auch aufgefallen. Zumindest, als dein Mann dich Ana genannt hat.“ Ana runzelte die Stirn. „Mein Mann?“, wiederholte sie perplex. „Ich meine Nalas Vater, Matteo.“ Ana verschluckte sich an ihrem Kaffee. „Matteo?“ „Ich nehme an, dass er der Vater ist.“ Ana schüttelte den Kopf. Verübeln konnte sie es ihm nicht. Immerhin war Matteo der Erste gewesen, der hier aufgetaucht war. Außerdem war er mit Nala beim Vater-Kind-Tag gewesen. „Matteo ist weder mein Ehemann, noch ist er Nalas Vater“, sagte sie und nahm einen Schluck von ihrem Kaffee. „Das erklärt auch, warum ihr nicht denselben Nachnamen habt.“ Ana bemerkte, wie Dean auf ihre rechte Hand sah. „Willst du mir nicht erzählen, warum du eine neue Identität angenommen hast?“, fragte Dean nach einer Weile. „Ich brauchte einen Neuanfang.“ Mehr wollte sie nicht sagen. „Und du? Was verschlägt dich hier her?“, fragte sie ihn. „Ich brauchte etwas Ruhiges. Als John und Peggy dann mich zum Patenonkel ernannt haben, bin ich hier hergezogen.“ „Verstehe.“ „Wirklich?“ Er zog eine Braue in die Höhe. So wie früher. „Okay, nein. Du wolltest doch immer Abenteuer erleben.“ „Im laufe der Zeit hat sich das geändert.“ „Das sehe ich. Ich hätte nie gedacht, dass du Medizin studieren würdest.“ Dies entsprach auch der Wahrheit. Er hatte immer den Drang gehabt, neues zu Erleben und Entdecken. Dean hatte schon immer etwas verwegenes an sich gehabt. In den letzten Jahren hatte sich das auch kaum geändert. Er trug seine Haare nun kürzer, aber immer noch modern. Sie waren an der Seite etwas kürzer geschnitten. Das Einzige, was er abgenommen hatte, war sein Ohrring. Das wahr auch nicht weiter schlimm, sie hatte das Teil gehasst. „Wenn mir das jemand vor fünf Jahren gesagt hätte, hätte ich es auch nicht geglaubt“, gab er lächelnd zu. Anas Bauch fing an zu kribbeln. Oh nein, nicht noch einmal. Sie wollte nicht noch einmal ihr Herz an denselben Mann verlieren. Und wenn er weiterhin so lächelte, würde dies sicherlich geschehen. Sie stand so schnell auf, dass die wenigen Leute in der Kantine sie ansahen. Ana sah sie entschuldigend an. Dann wandte sie sich an Dean. „Ich geh jetzt wieder zu Nala. Gute Nacht.“ So schnell wie sie aufgestanden war, verschwand sie auch aus der Kantine. Sie spürte noch Deans Blicke hinter ihr. Vor den Aufzügen blieb sie kurz stehen. Sie wusste immer noch nicht, ob Dean ihr Geheimnis bewahren würde. „Shit!“, murmelte sie und drückte dann auf den Knopf.