„Jack!“ Mila war aufgesprungen. Sie hatte ihn nur einmal so erlebt. Jack verabscheute Wut und Hass. Vor allem Gewalt. „Wieso hast du das getan?“, fragte sie Coilin wütend. „Obwohl Jack auf der Erde lebt, war sein Leben auch kein Zuckerschlecken. Ich dachte, du würdest inzwischen anders über uns denken. Da habe ich mich wohl geirrt.“ „Mila…“ „Jacks Mutter ist bei seiner Geburt gestorben und sie wollte nicht schwanger werden.“ Damit ließ Mila Coilin und Flanna stehen und lief ebenfalls aus dem Raum. Kurz darauf tauchte Flanna neben ihr auf. „Darf ich mit ihm reden?“ Mila sah sie an. „Du kannst es versuchen aber mach dir keine allzu viele Hoffnungen. In diesem Zustand will er nicht einmal mich sehen.“ Mila ging in ihr zugeteiltes Zimmer.
Flanna trat auf das Balkon, wo Jack stand. Er lehnte sich an die Brüstung und sah zum Nachthimmel. Mit seinen Händen, die er zu Fäusten geballt hatte, stützte er sich ab. Die Nordlichter waren aufgewacht. Sie stellte sich neben ihn und sah ebenfalls die Nordlichter an. „Als Kind habe ich mir immer gewünscht, die Nordlichter zu sehen“, murmelte sie. „Geh.“ Flanna hatte noch nie so eine Kälte in Jacks Stimme gehört. Sie hätte nicht mal im Traum daran geglaubt, dass Jack mit so einer Kälte sprechen könnte. „Was wenn nicht?“, fragte sie. „Verschwinde Flanna!“ „Ich würde dir ja meine Jacke geben aber ich schätze, die ist zu klein für dich“, sie spielte auf die Nacht an, an dem sie beide gesprochen hatten und er ihr seine Jacke gegeben hatte. Er drehte den Kopf zu ihr und sah sie an. Flanna sah stur geradeaus. „Was willst du?“ „Keine Ahnung. Ich habe Mila gefragt, ob ich zu dir kann, anstelle von ihr und sie hat mir bloß viel Glück gewünscht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich will nicht reden, also geh bitte.“ „Ich bin eigentlich keine Person, die trösten oder sowas kann. Am meisten hasse ich Mitleid. Aber ich bin eine gute Zuhörerin.“ Nun sah sie ihn an und Jack erkannte die Aufrichtigkeit in ihren Augen. „Warum bist du so?“ „Was meinst du?“ Er schüttelte den Kopf. Statt zu antworten sagte er: „Es tut mir leid.“ „Okay ich bin verwirrt. Was tut dir denn leid?“ „Das ich ausgerastet bin. So will ich nicht sein.“ „Das bist du auch nicht. Du bist der positivste, steht’s gut gelaunte Mensch, dem ich je begegnet bin.“ „Und was ist wenn ich so werde?“ „Wieso solltest du?“ „Liegt in der Familie.“ „Daran glaube ich nicht.“ „Ich habe gesehen, wie du mich angeschaut hast, als ich Coilin angebrüllt habe. Ich war kurz davor, ihm eine rein zuhauen.“ „Ich hätte nichts dagegen gehabt. Und was meinst du, mit angeschaut habe?“ „So, als würdest du mich nicht kennen.“ „Jack, es ist nicht schlimm wütend zu werden. Das ist menschlich. Außerdem bin ich dauerhaft wütend“, sagte sie achselzuckend. „Nein, das stimmt nicht. Du bist verletzt und willst dich schützen. Du hast Mauern um dich gebaut. Du vertraust nicht gleich jedem. Du hinterfragst.“ Wann hatte er sie so gut kennengelernt? Flanna war sprachlos. „Aber wenn ich wütend werde, habe ich Angst, die Kontrolle zu verlieren und den Menschen weh zu tun.“ „Aber Jack, das macht dich doch zu so einem guten Menschen.“ „So einen Ausraster hatte ich schon einmal. Damals hat es Mila mitbekommen. Sie hatte denselben Blick wie du. Ich habe ihr Angst gemacht. Ich!“ „Ich habe keine Angst vor dir. Um ehrlich zu sein, fand ich es interessant, wie du Coilin angebrüllt hast.“ „Hör doch auf. Ich habe die Kontrolle verloren.“ Sie legte eine Hand auf seinen Unterarm. „Willst du mir nicht sagen, wieso du so sehr Angst davor hast, wütend zu werden?“ Jack wusste nicht wieso, aber er wollte es ihr erzählen und sie bat ihm an, ihm zuzuhören. Jack drehte sich um und ließ sich auf den Boden sinken. Mit dem Rücken lehnte er sich an die Brüstung. Flanna setzte sich neben ihn. „Mein Vater wollte unbedingt ein Kind und hat dann mit Gewalt meine Mutter geschwängert.“ Das hatte Mila bereits erwähnt. Flanna sagte nichts. Stattdessen hakte sie sich bei ihm unter und hielt seine Hand. Ihren Kopf lehnte sie an seine Schulter. „Meine Mutter ist dann bei meiner Geburt gestorben. Als Kind war mein Vater immer wieder wütend und hat mir die Schuld am Tod meiner Mutter gegeben. Was ja auch stimmt. Er hat mich an seinen schlechten Tagen geschlagen oder völlig ignoriert. Wie es ihm eben gepasst hat.“ Er machte eine kurze Pause. „An manchen Nächten konnte ich vor Schmerzen nicht schlafen. Da war ich vielleicht vier oder fünf.“ Erneut machte er eine Pause. Flanna schloss die Augen, um die Tränen zu unterdrücken. „Dann ist mein Onkel aufgetaucht. Also der Bruder von meiner Mutter. Er hat sich um mich gesorgt. Mir ein wenig Liebe geschenkt, die ich von meinem Vater nie bekam. Das Einzige was ich von meinem Vater bekam, waren die neuesten Klamotten. Da er ein angesehener Geschäftsmann ist. Nach außen hin war er der perfekte Vater. Wie auch immer. Onkel Bobby ist mit mir die Spielplätze besucht, mir an meinem Geburtstag eine Torte gebacken, was miserabel geschmeckt hat, aber ich habe es trotzdem gegessen. Aber mein Onkel ist nur zwei Jahre geblieben. Dann musste er zurück zum Militär. Er hatte mir versprochen, wieder zu kommen aber dann ist er während einem Einsatz gestorben. Er ist in die Luft geflogen. Mein Kindheitsheld war auf einmal nicht mehr da. Nach einigen Monaten habe ich dann Mila kennengelernt.“ Eine Träne hatte sich aus Flannas Augenwinkel gelöst. „Sie war im Park und hat zwei Jungs angeschrien, weil sie ein anderes Mädchen gehänselt haben. Wie ein kleiner Ninja ist sie auf sie losgegangen. Einer von den Jungs hat sie aber geschubst und sie ist hingefallen. Sie hatte sich schlimm das Knie verletzt. Aber sie hat nicht geweint. Als die Jungs das bemerkt haben sind sie abgehauen. Ich bin so schnell wie möglich zu ihr hingerannt und ihr geholfen. Danach hat sie beschlossen, dass ich ihr bester Freund für immer bin. Sie hat mich zu ihr eingeladen und wir haben fast jede freie Minute zusammen verbracht. Wir wurden wie eine Familie. Aber dann an meinem sechszehnten Geburtstag habe ich erfahren, dass mein Vater meine Mutter zu einer Schwangerschaft gezwungen hat und das sie mich ausgetragen hat, obwohl ihr Leben dadurch in Gefahr war. Der Arzt hätte ihr das Risiko erklärt, was passieren könnte, wenn sie mich auf die Welt bringt. Mein Vater aber wollte davon nichts wissen. Ich habe mir ein Küchenmesser geschnappt und bin auf mein Vater zu gelaufen. Ich habe von ihm verlangt, mir die Wahrheit zu sagen. Er hat es nicht abgestritten.“ Er holte erneut Luft. „Hätte Mila nicht meinen Namen geschrien. Hätte ich meinen Vater entweder sehr schlimm verletzt oder ihn sogar getötet. Aber Milas Blick. Es hat mich fertig gemacht und ich habe mir geschworen, nie wieder die Kontrolle zu verlieren. Bis heute.“ Flanna schwieg und drückte bloß seine Hand. Sie wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht. „Ich glaube nicht daran, dass du so werden kannst. Dafür bist du zu nett und ich meine wirklich zu nett.“ Jack lachte leise und sie sah auf. Flanna begegnete seinem Blick. „Ich weiß nicht, ob das jetzt ein Kompliment war, oder eine Art Beleidigung.“ Flanna grinste. „Ein Kompliment.“ „Dann, danke.“ „Sollen wir rein gehen, mein Arsch friert mir hier ein“, sagte Flanna und stand auf. Lachend stand auch Jack auf. Zu ihrer Überraschung, ließ er ihre Hand nicht los. Vor ihrem Zimmer wünschte er ihr eine gute Nacht und schlenderte in sein Zimmer. Flanna sah ihm noch nach und schloss dann die Tür. Was war los mit ihr?