»Luca, wo bist du?« Die Stimme seiner Freundin riss den Jugendlichen aus seinen Gedanken, denen er mal wieder nachhing.
Seit dem Ball von Amelia Bramlett war fast eine Woche vergangen. Eine Woche, in der Viktor nicht ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte. Nicht, dass Luca es wirklich erwartet gehabt hätte, aber er hatte es sich gewünscht. Leise seufzend stellte er die Mistgabel an die Wand, ging zu dem schweren Eingangstor und rief: »Ich bin hier hinten, im alten Verkaufspferdetrakt.«
Es dauerte nicht lange und Willow kam um die Ecke.
»Was machst du hier?«, fragte sie und musterte ihren Freund neugierig.
»Alan hat mir vorhin erzählt, dass wir wohl ein paar neue Pferde bekommen. Fohlen, genauer gesagt Jährlinge. Und darum mach ich hier alles ordentlich.«
Willow betrat den Stall und sah sich um. In diesem Teil des Gestüts waren schon lange keine Tiere mehr untergebracht worden und so hatten sich Staub und Spinnweben angesammelt, die erst einmal beseitigt werden mussten. Außerdem wurden hier seit Monaten die Schubkarren und sämtliche andere Gerätschaften gelagert. Das alles musste jetzt raus.
»Jährlinge? Weißt du, wem die gehören? Und wo bringen wir das ganze Zeug nun unter?«
»Ja, genau. Englische Vollblüter. Viel mehr weiß ich auch nicht, nur, dass sie einem Geschäftspartner und alten Freund von Alan gehören. Und es sind keine Rennpferde.« Luca zuckte mit den Schultern. »Was den Kram angeht, den müssen wir wohl wieder auf die Stallgebäude aufteilen. So wie das früher auch war.«
Willow nickte. »Gut, dann sollten wir das tun.«
Die junge Frau sammelte ein paar Sachen zusammen und verstaute diese in einer Schubkarre. »Wie geht es dir eigentlich? Hast du was gehört? Du weißt schon ...«
Sich an eine Boxentür lehnend, schüttelte Luca den Kopf. »Nein ... aber ich habe auch nicht wirklich erwartet, dass er es tut. Ich hab dir doch erzählt, dass er mir immer wieder gesagt hat, dass er mich vor irgendwas beschützen will - oder vor irgendwem. Darum war ich mir eigentlich sicher, dass Viktor eh wieder den Schwanz einzieht und habe gar nicht erst zugelassen, dass ich mir falsche Hoffnungen mache. Es soll wohl wirklich nicht sein.« Der Jugendliche zuckte mit den Schultern, schnappte sich einen Besen und kehrte die Wände ab. »Was ist mit dir?«
»Was soll mit mir sein? Ich habe keine Nummer von Sebastian und er auch nicht von mir. Also ist es etwas schwierig«, gab Willow zurück, »ich bring mal eben das Zeug hier weg.«
»Okay, aber man kann zum Beispiel auch hier auf dem Festnetz anrufen, wenn man das will.«
»Ja, man kann so vieles. Aber vielleicht hat er ja keine Zeit gehabt. Ist ja erst ein paar Tage her.« Die junge Frau merkte, dass sie nach Entschuldigungen suchte und dass sie eigentlich gar keine Lust hatte, über das Thema zu reden. Also schnappte sie sich die Schubkarre voll mit Besen, Mistgabeln und Schaufeln und machte, dass sie wieder aus Lucas Reichweite kam, bevor der weiterbohren konnte. Sie wollte einfach nicht darüber reden.
Der junge Mann sah ihr nach und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Was nutzte es, sich den Kopf zu zerbrechen? Es würde nichts ändern. Trotzdem war er froh, dass bald die neuen Pferde kommen würden, denn das hieß, mehr Arbeit und mehr Arbeit ließ weniger Zeit zum Nachdenken.
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»Verflucht noch mal!«, polterte Viktor und warf den Ordner auf den Schreibtisch zurück. Die Angestellten zuckten zusammen und Sebastian schlug die Augen nieder. »Ich frage mich, wofür ich einen Geschäftsführer und Assistenz eingestellt habe, wenn der ganze Papierkram am Ende doch an mir hängenbleibt?! Ist es Ihnen nicht einmal möglich, termingerecht die Rechnungen der Lieferanten zu bezahlen? Rechtfertigen Sie das mit fehlenden Einnahmen? Denn das halte ich für ein Gerücht!«
Der Geschäftsführer des Rapture, Cornelius Butterman, nestelte an seiner Krawatte, bevor er den Kopf hob und versuchte, dem Grafen Draganesti stolz ins Gesicht zu sehen.
»Sir, durch die jüngsten Umbauarbeiten sind ein paar Dinge ins Taumeln geraten. Ich übernehme selbstverständlich die Verantwortung und versichere Ihnen, dass es nicht mehr vorkommen wird.«
»Das rate ich Ihnen auch, Mr. Butterman. Es hat genug Mühe gekostet, diesen Laden von dem miesen Ruf zu befreien, den er einst hatte. Versauen Sie ihn nicht wieder!« Schnaubend ließ Viktor einen letzten Blick über den Geschäftsführer und seine Assistentin wandern, bevor er sich abwandte und das Büro verließ. Sebastian nahm den Mantel seines Herrn, verneigte sich leicht und folgte ihm.
»Rumänischer Lackaffe!«, knurrte Butterman. »Spielt sich auf, hat aber keine Ahnung. Wenn ich mein Vermögen und einen schicken Titel von Daddy hätte und noch dazu einen Nachtclub geerbt, würde ich ihn auch wie mein Sparschwein führen und Leute zusammenscheißen, die mehr von Buchführung verstehen als ich.«
»Sie sollten lieber nicht so reden. Manchmal glaube ich, der Graf hat Ohren wie eine Katze.« Die junge Sekretärin nahm den Ordner, den Viktor auf den Tisch geworfen hatte und wandte sich ab, um an ihren eigenen Platz zurückzukehren.
Der Geschäftsführer schnaubte spuckesprühend und schloss die Aktenschränke wieder.
Währenddessen ging Viktor die Treppe des VIP-Bereichs des Rapture hinunter. Es war noch früh am Nachmittag, der Laden geschlossen. Die Reinigungstruppe war mit Putzen beschäftigt und ein paar Leute brachten die Bar und die Gläser in Ordnung. Ohne die vielen beleuchteten Säulen und Lichteffekte in türkis und lila wirkte der Club beinahe langweilig, die große Tanzfläche wenig einladend, die Sitzecken farblos und das Leder uninteressant. Zum Leben und den Eindruck der wortwörtlichen Entrückung erweckend, erwachte das Rapture erst, wenn alles perfekt war und das Licht sich in den verchromten Oberflächen spiegelte.
Viktor hatte den Club in Soho in den späten Achtzigern gekauft, unter der Verwendung des Namens seines eigenen Vaters. Damals war der Laden ein Sumpf aus Drogen und anderer mieser Machenschaften gewesen. Die Polizei war Stammgast und Menschen mit Überdosis, Stichverletzungen oder Opfer von Nötigung bis hin zu Vergewaltigungen gab es beinahe jede Nacht. Mit strenger Hand und unter Einsatz von viel Geld, harten Verhandlungen und Schikanen von Seiten der Londoner Polizei, die den Schuppen lieber für immer hatte schließen wollen, hatte Viktor das Bild des Nachtclubs neu aufgezogen. Neuer Name, neues Innendesign, neue Regeln. Inzwischen hatte der Graf sich offiziell selbst beerbt und der Laden sich zu einem Szenetreff entwickelt - die Menschen standen Schlange, um hineinzukommen, Türsteher regelten, wer eintreten durfte und wer nicht. Viktor würde nicht zulassen, dass die Arbeit von fast dreißig Jahren von einem Geschäftsführer versaut wurde, der nicht schaffte, Rechnungen pünktlich zu bezahlen. Der Club warf so viel Geld ab, dass er sich völlig selbstständig finanzierte und seinen Angestellten ein überdurchschnittlich gutes Einkommen lieferte. Warum das riskieren?
»Dieser elende ...«, knurrte Viktor, als sie auf der belebten Straße standen und Sebastian ihm den Mantel über die Schultern legte. Es hatte zu regnen begonnen und der Graf spürte die Schwere in seinen Knochen. »Lass’ uns heimfahren. Ich hab mich genug aufgeregt.«
»Ihr macht einen etwas unausgeglichenen Eindruck, mein Herr«, erwiderte Sebastian leise, als er Viktor die Tür zu seinem 7er BMW öffnete und der sich müde auf den Rücksitz gleiten ließ. Der Butler kannte das. Wann immer ein Wolkenbruch sich rührte, wurden Vampire zu schläfrigen Katzen. Sicher würde sein Herr auf der Fahrt nach Kensington einnicken.
»Woran merkst du das nur?«
»Ihr schreit sonst nie die Angestellten an.« Sebastian setzte sich hinter das Steuer und startete den Wagen. Leicht fädelte er sich in den Stadtverkehr ein, während Viktor aus dem Fenster sah. Schüler in Uniformen flanierten über die Straßen, unter Schirmen oder schlicht mit den Taschen über dem Kopf, Händler und Cafébesitzer versuchten, ihre Waren und Tische vor den Regentropfen zu schützen. London pulsierte. Doch der Graf war müde und fühlte sich schwer wie ein Stein. Er gähnte leise und rieb sich über die Augen.
»Das Leben gerade ist so langweilig«, murmelte er.
»Ihr wisst, dass Ihr Ablenkung haben könntet, wenn Ihr wolltet, richtig?«
»Dazu hatte ich alles gesagt«, brummte Viktor. Sebastian konnte ihn mal gernhaben mit seinen kleinen Spitzen, sich bei dem Summerson-Jungen zu melden. Der Graf hatte seine Gründe und diese viel zu oft schon einfach über Bord geworfen für das Abenteuer Luca. »Außerdem könnte er genauso gut ...«, murmelte Viktor, verstummte aber. Er wollte sich nicht wie ein Kind benehmen, dafür war er zu alt. Doch ein Teil von ihm bestand darauf, dass der Jugendliche sich, wenn er doch so großes Interesse an ihm hatte, ebenso hätte melden können. Doch das hatte er nicht. Warum also sollte Viktor sich grämen oder ein schlechtes Gewissen haben?
Er seufzte und schloss die Augen. Sebastian sah durch den Rückspiegel zu ihm. Auch dieses Verhalten kannte er. Sein Herr würde so lange abstreiten, dass ihm etwas an irgendjemanden lag, bis er irgendwann in die Enge getrieben worden war und keine andere Wahl mehr hatte.
»Kümmere du dich lieber um deine Angelegenheiten«, brummte der Graf und der Butler schmunzelte.
»Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen, außer mit einer Dame getanzt zu haben.«
»Sankt Sebastian.«
»Genau«, lachte dieser leise und verfiel in Schweigen, als er bemerkte, dass Viktor bereits weggenickt war. Er brummte unwillig, als sie vor der Villa hielten und Sebastian ihn ansprach.
»Mein Herr, wollt Ihr schon einmal hineingehen, während ich den Wagen in die Garage fahre?«
»Nein«, murmelte Viktor und so stieg er erst aus, als der BMW sicher geparkt war. Sich die Augen reibend und mit den Händen über die Oberarme fahrend, ging er die Kellertreppe ins Haus nach oben und gähnte ungeniert.
»Wir haben uns das denkbar schlechteste Klima ausgesucht, wo man leben kann, ist das zu fassen? Ich fühle mich wie in einen Ameisenhaufen gefallen.«
»Setzt Euch einen Augenblick, ich bereite Euch Euren Snack. Wollt Ihr ein Bad nehmen?«
»Ja. Ja, ich glaube, das werde ich tun. Ich gehe rauf und warte dort.« Sebastian nickte und Viktor stieg die nächste Treppe hoch. Gähnend betrat er seine Suite, legte Mantel und Blazer ab und öffnete seinen Schrank, um sich bequemere Kleidung herauszunehmen.
Als wenig später der Butler mit einem Becher warmen Bluts zu ihm kam, trank Viktor dieses langsam, in kleinen Schlucken. Es linderte die Unruhe in ihm nicht, vertrieb aber etwas die Müdigkeit. Während Sebastian im Badezimmer alles vorbereitete, schälte der Graf sich aus den Kleidern. Fröstelnd durch den Regen lag er schließlich in Unterwäsche auf dem Bett und sah aus dem Fenster. Es war noch hell, doch der Schauer hatte die ohnehin blasse Sonne komplett verschluckt. Viktor liebte England. Doch das Wetter war für jemanden wie ihn eine Qual. Schnaufend erhob er sich wieder und stand auf. Im Badezimmer war es warm, der Graf spürte, wie sich seine Muskeln entspannten. Sebastian legte ein paar Handtücher auf einen Stuhl und schenkte Viktor ein Glas Wein ein, bevor er, sich leicht verneigend, das Zimmer verließ. Die Zeiten, in denen er geblieben war, um seinen Herrn zu waschen und hinterher abzutrocknen, waren lange vorbei. So konnte er die Zeit, die Viktor mit Baden verbrachte, nutzen, um das Essen vorzubereiten.
Der hingegen warf die Unterhose in den Wäschekorb und ließ sich in das fast brühwarme Wasser sinken. Mit geschlossenen Augen und dem Glas in der Hand hing er seinen Gedanken nach. Es war freilich nicht nett, sich nicht bei Luca zu melden, der schon nach dem ersten Mal gedacht hatte, Viktor habe sich nur an seinem Leib erfreuen wollen. Dem war auch so gewesen, doch schäbig war es erst dadurch geworden, dass es ein zweites Mal geschehen war. Warum nur hatte er sich überhaupt dazu hinreißen lassen …? Er hätte Luca bereits fernbleiben sollen, als sie sich im Mai auf dieser Gartenparty begegnet waren. Das hätte Viktor einigen Stress und Grübeleien erspart. London war eine Stadt mit etlichen Millionen Einwohnern und doch musste es immer wieder geschehen, dass der Graf diesem einen davon begegnete. Es war schon fast wie ein Fluch! Sebastian würde es vielleicht Vorsehung nennen, doch so abergläubisch war Viktor inzwischen nicht mehr. Er seufzte. Womöglich wäre es das Beste, endlich die Eier dafür zu haben, den Burschen anzurufen. Und sei es auch nur, um diese merkwürdige Sache zwischen ihnen ein für alle Mal zu beenden, bevor tatsächlich jemand spitz bekam, dass Viktor die Regeln nicht nur beugte, sondern bereits empfindlich angekratzt hatte. Er wollte nicht, dass Luca dasselbe Schicksal blühte wie ihm, nur weil er sich ein paar Mal hatte hinreißen lassen, sich einem Vampir hinzugeben.