Der Abend war über London hereingebrochen, als die letzten Klänge im Konzertsaal der Royal Albert Hall verklungen waren und die Besucher des Musikabends sich langsam und geordnet zurückzogen.
Hinter der Bühne herrschte jedoch noch immer aufgeregtes Schnattern und Stimmengewirr.
Das Benefizkonzert der Studenten des King’s College war ein voller Erfolg gewesen und die Musiker, die vor dem vollen Haus von annähernd fünftausend Sitzplätzen gespielt hatten, waren noch immer aufgekratzt und hochgepusht durch das Adrenalin in ihren Adern. Für die meisten von ihnen war dies der erste große Auftritt vor einem so großen Publikum gewesen.
Kaum einer achtete auf den jungen Mann im Hintergrund, der seine eigene kleine Garderobe hatte, deren Tür offenstand und der an einer Tasse Tee nippte.
Graf Viktor Draganesti war von den Veranstaltern gebeten worden, als Gast an dem Konzert teilzunehmen. Als ein in London bekannter Pianist hatte man geglaubt, allein sein Name würde reichen, um Besucher anzulocken.
Und offenbar war dies gelungen.
Der Adlige seufzte. Er konnte die Aufregung der Studenten nicht teilen. Für ihn war es nichts Neues, nichts Erregendes mehr, vor Publikum aufzutreten. Er hatte es bereits so oft getan, dass es ebenso einerlei geworden war wie alles andere in seinem Leben. Er war schon viel zu lange auf dieser Welt, um noch von irgendetwas überrascht zu werden.
Denn der Graf war ein Vampir, geboren im Rumänien des Jahres 1408. Seit mehr als sechshundert Jahren wiederholte sich alles in seinem Leben und nichts verschaffte ihm noch wirkliche Abwechslung.
»Wollt Ihr dann aufbrechen, mein Herr?« Die sanfte und tiefe Stimme von Graf Viktors Butler Sebastian, der ihm wie ein Schatten folgte, drang in die Gedanken des jungen Mannes, dessen Gesicht sein wahres Alter nicht zu verraten vermochte, und dieser stellte die Teetasse ab.
»Ich denke. Es hat keinen Sinn, noch weiter zu bleiben. Das Konzert ist gelaufen.«
Der Diener hielt seinem Herrn den leichten Mantel hin, denn obwohl es Sommer war, waren die Abende kühl, wie immer in England.
»Wartet einen Augenblick, ich werde den Wagen holen, mein Herr«, Sebastian neigte leicht den Kopf und während er das Konzerthaus verließ, packte Viktor die wenigen Dinge zusammen, die er dabei hatte, wie seinen Anzug, und verstaute sie in einer Tasche.
Seine feinen Ohren lauschten auf die Geräusche, die ihn umgaben - das Scharren der letzten Besucher in der Halle, das leichte Streichen eines Besens in einem der Backstage-Gänge, das noch immer aufgeregte Gerede der jungen Leute. Er schmunzelte.
Beinahe neidete er ihnen ihre Unbeschwertheit und ihre reine Freude über die Leistung des heutigen Abends. Für viele von ihnen war dies der Höhepunkt ihres bisherigen Lebens gewesen.
Viktor zwang sich, keine Regung zu zeigen, als er Schritte an der Tür zu seiner Garderobe hörte. Sich wie ein Sterblicher zu benehmen, war ihm in den letzten Jahrhunderten ins Blut übergegangen. Die andere Seite in ihm kannte nur sein Butler, der ebenso wie der Adlige die Last der Ewigkeit auf seinen Schultern trug, wenn auch auf andere Art und Weise.
Erst als ein leises Klopfen am Türrahmen ertönte, setzte der Graf einen überraschten Gesichtsausdruck auf und drehte sich herum.
»Ja bitte?«
Vor ihm stand ein Student, ein Geiger, mit dem Viktor auf dem Konzert ein Duett, Beethovens ‚Violinromanze No. 2’, gespielt hatte. Sie hatten einige Male zusammen geprobt vor dem Auftritt. Der Bursche hatte eine große Klappe, die er nur dann schloss, wenn er auf der Bühne stand und sich vor Nervosität in die Hosen machte. Der Adlige respektierte ihn als Musiker, aber privat hielt er ihn allenfalls für eine schnelle Mahlzeit zwischendurch.
»Kann ich etwas für dich tun, Rick?«
Der junge Mann hatte den Grafen während der Proben gebeten, ihn ganz formlos anzureden und beim Vornamen zu nennen. Viktor hatte diese Freundlichkeit jedoch nicht erwidert. Er mochte es nicht, wenn jeder ihn anredete, wie es ihm gerade passte.
»Ja ... also ... ich dachte vielleicht ... also, ich veranstalte morgen zur Feier des gelungenen Konzerts eine Party bei mir zuhause und ich wollte Sie gern dazu einladen, Graf. Wenn Sie nichts anderes vorhaben, natürlich.«
»Eine Party?«
Rick nickte und zog eine Karte aus der Hosentasche. Viktor konnte den Geruch von Aftershave daran wahrnehmen und fragte sich beiläufig, was dieses Zeug auf der Hose zu suchen hatte.
»Hier ist die Adresse. Sagen Sie einfach, ich hätte Sie eingeladen, sollte ich Ihnen nicht selbst die Tür aufmachen. Ich, wir alle hier, würden uns freuen, wenn Sie kommen. Ohne Sie wären nie so viele Leute ins Konzert gegangen.«
Der Adlige nahm das kleine Stück Pappe und nickte. »Danke. Aber ich habe wenig beigetragen ...«
Der junge Mann lächelte nur, hob die Hand und machte kehrt, um zu seinen Freunden und Kommilitonen zurückzukehren, die sich ebenfalls fertigmachten, um die Royal Albert Hall in die Nacht zu verlassen.
Sebastian tauchte wieder an der Tür auf und nahm die Tasche, die den Konzertanzug des Vampirs enthielt. »Wollen wir dann, mein Herr?«
»Ja. Weg hier. Ich bin hungrig und diese jungen Menschen sehen für mich alle wie Blutwürste aus«, flüsterte der Graf und ging voran, einen wissend grinsenden Butler im Schlepptau mit sich führend.
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»So, eine Party?«, Sebastian schenkte Viktor den Morgentee ein, bevor er sich ebenfalls setzte. Obwohl sie Herr und Diener waren, fand der Graf es albern, allein zu frühstücken, während sein Butler in der Küche aß.
Viktor nickte und schnitt sich ein Brötchen auf. »Ich weiß nicht, was diese jungen Leute denken, wer ich bin, dass ich auf eine Studentenfeier gehe ...«
»Nun, warum solltet Ihr nicht? Äußerlich unterscheidet Ihr Euch nicht von den vielen Langzeitstudenten. Und Ihr seid auch kein Eremit. Es ist Euch nicht verboten, einmal aus der Rolle zu fallen.« Sebastian musste sich ein Grinsen verkneifen, als Viktor knurrte.
»Ich bin ein erwachsener Mann, ein gestandener Geschäftsmann. So etwas ist nichts für mich.«
Doch die Aussicht auf einen weiteren Abend allein, nur mit seinem Klavier, einem Buch oder auch zur Abwechslung mal dem Fernseher stimmte den jungen Adligen nicht gerade euphorisch. Es war erst acht Uhr morgens und er langweilte sich bereits jetzt.
Hier, in South Kensington, einer noblen und ruhigen Gegend Londons, geschah nicht viel, was ihn aus seinem Trott würde reißen können. Ihm stand ebenso wenig der Sinn danach, sich in seinem Nachtclub blicken zu lassen und den halbnackten jungen Leuten beim Zappeln zur Musik zuzusehen.
»Nun gut, vielleicht gebe ich der Sache eine Chance. Es kann auch nicht langweiliger sein als alles andere.«
Sebastian lächelte. »Lieber eine Party mit drei Dutzend betrunkener englischer Studenten als eine Teegesellschaft bei Lady Bramlett, da gebt Ihr mir doch recht, nicht wahr, mein Herr?«
Viktor verschluckte sich an seinem Getränk, weil er prusten musste. »Oh ja. Allemal. Wenn ich mir noch einmal einen Vortrag über ihre schaurige Hundezucht anhören muss, hänge ich mich auf!«
Vor sich hin lästernd beendeten sie das gemeinsame Frühstück, bevor sich der Graf in seine Suite zurückzog, um sich in den Unterlagen zu seinem Nachtclub zu vergraben, während Sebastian seinen Pflichten als Butler nachkam.
»War das wirklich eine so gute Idee? Ich habe keine Lust«, Viktor hielt sich zwei Hemden an die Brust und entschied sich schlussendlich für eines in einem dunklen Violett.
Sebastian, der die aussortierten Kleidungsstücke auf die Bügel zurückhängte, lachte leise. »Etwas, auf das man keine Lust hat, wird oft gut. Das wisst Ihr doch aus Erfahrung.«
»Ich kenne niemanden außer diesen lauten Jugendlichen, die alle betrunken sein werden. Ich habe mit denen gearbeitet. Mehr aber auch nicht.«
»Dann lernt jemanden kennen. Ihr seid jung und seht gut aus. Das sollte doch kein Problem sein.«
»Sechshundert Jahre jung.«
»Das weiß ja niemand.«
»Es wäre leichter, wenn du mitkommen würdest.«
Der Butler hängte die Hemden in den Schrank zurück. »Ich bin nicht eingeladen. Außerdem schreckt es die Leute ab, wenn ein Diener wie ein Leibwächter hinter einem steht.«
»Du zeigst keinen Funken Mitleid mit deinem Herrn, du Schuft.«
Sebastian lachte. »Ihr wart schon damals ein introvertierter Einsiedler, der Bälle gehasst hat. Und doch habt Ihr Euch nie einschüchtern lassen. Es sind nur ein paar Kinder. Es wäre unhöflich, nicht zu erscheinen, das wisst Ihr genau. Auch wenn es nur eine Gartenparty von ein paar Studenten ist. Und jetzt ... hier, kleidet Euch fertig an, damit ich Euch fahren kann.«
Zehn Minuten später saß der Graf im Fond eines 1962er Bentley und der Butler legte die paar Straßen bis zur angegebenen Adresse zurück.
Viktor verfluchte seinen grinsenden Leibdiener, als der ihn abgesetzt hatte und mit einem Winken wieder abgefahren war.
Als würde der Graf einen Schimmer davon haben, wie es auf zwanglosen Partys zuging. Er kannte nur die Gesellschaften der High Society und als er zweiundzwanzig gewesen war, wie die meisten dieser jungen Leute hier, war er ein regierender Fürst über eine der größten Regionen Transsylvaniens. Er kannte Pflichten und er kannte Regeln. Alles jenseits davon verunsicherte ihn.
Die Schultern straffend betrat er den kleinen Vorgarten. Die Musik, die im hinteren Teil zu hören war, war sehr modern und so gar nicht Viktors Geschmack.
Die Haustür stand offen und in dem Gebäude war es warm. Viel mehr Menschen, als er gedacht hatte, drängten sich in der eleganten Villa, es roch nach Parfum, Deodorant, Schweiß und Alkohol. Auch der Hauch von Gegrilltem lag dazwischen und Viktor spürte, dass er das Abendessen ausgelassen hatte.
Unter den natürlichen und künstlichen Geruch der Menschen mischte sich der Duft ihres durch die Wärme aufgeheizten Blutes und der junge Adlige fühlte ein leichtes Kratzen im Hals. Er war alt genug, um den Hunger zu bezwingen. Doch abschalten konnte er den Vampir in sich nicht, niemals.
Niemand achtete groß auf ihn. Einige, die ihn sahen und erkannten, grüßten ihn, doch in dieser Umgebung hier waren sie zuhause, nicht Viktor. Er war die Respektsperson auf der Bühne, die Koryphäe am Konzertflügel, den sie bewunderten, wenn sie sich in seinem Revier aufhielten. Doch hier waren sie in ihrem Element und niemandem stand der Sinn nach Klassik, wenn draußen laut Techno durch die Boxen dröhnte.
Er spürte, wie die Wärme ihn allmählich lähmte und drängte sich durch den vollen Flur, an verschwitzten Studenten vorbei, durch die Hintertür. Auf der Terrasse tanzten die Jugendlichen ausgelassen. Die Bäume waren mit Lampions und Lichterketten behangen, um den Garten zu erhellen. Überall standen Grüppchen herum, auf dem Rasen, dem Weg, der Veranda.
Es waren wirklich weit mehr Leute da, als Viktor erwartet hatte. Und er kannte davon gerade einmal einen Bruchteil von den Konzertproben. Rick, den Gastgeber, hatte er noch gar nicht gesehen.
Tief die kühlere Abendluft einatmend, blieb er abseits stehen und genoss den leichten Wind auf seiner erhitzten Haut. Die Sonne war inzwischen untergegangen und der blutrote Himmel wurde zunehmend blauer, was die Beleuchtung in dem Garten bezaubernd wirken ließ.
Viktor beobachtete die ausgelassenen jungen Menschen, sich insgeheim fragend, wie sich so etwas wohl anfühlen mochte - völlig unbeschwert zu sein - als ihm ein Duft in die Nase stieg, den er kannte und von dem er angenommen hatte, ihn nie wieder zu riechen. Er wandte den Kopf und stutzte, ohne sich etwas anmerken zu lassen.
Leicht nur zuckten seine Mundwinkel, als er den blonden Jugendlichen entdeckte, der ihn anstarrte, als hätte er eine Erscheinung.
»Sieh mal einer an«, flüsterte er.