»Verdammt noch mal, Luca, bist du bald fertig? Wir müssen los. Ich will nicht als Letzter auf dieser Party erscheinen.«
Die Stimme seines Freundes bohrte sich unangenehm in Luca Summersons Ohr. Er hatte gehofft, dass er vielleicht doch noch um diesen Abend herumkommen, Derek sich erbarmen und alleine gehen würde. Aber das sah nicht danach aus.
Seufzend knöpfte der junge Mann sein dunkles Hemd zu und zog eine ebenso dunkle Weste darüber. Dann fuhr er sich noch mal mit den Fingern durch die fast schulterlangen, weißblonden Haare und stieg die Treppe hinunter. Als er das Wohnzimmer im Parterre des Hauses betrat, sah sein Mitbewohner, der es sich derweil auf dem Sofa bequem gemacht hatte, auf. Er musterte den Blonden von oben bis unten und zog dann eine Augenbraue hoch.
»Dein Ernst, Luca? Gehen wir auf eine Beerdigung oder auf eine Gartenparty? Hast du auch andere Klamotten als immer nur dieses dunkle Zeug?«
Der Angesprochene verdrehte die Augen und ließ sich auf einen der beiden Sessel fallen: »Was willst du von mir? Ich kann auch gerne zu Hause bleiben. Ich hab eh keinen Bock auf diese dumme Fete und gehe nur dir zuliebe mit. Außerdem ist mir nach wie vor nicht nach hellen, fröhlichen Sachen. Tyler ...«
»... Tyler ist seit über zwei Jahren tot, Luca. Irgendwann solltest du vielleicht mal versuchen, damit abzuschließen. Meinst du nicht?«, fiel Derek ihm ins Wort.
Sein Gegenüber anfunkelnd, stand der Blonde auf.
»Ja, mein Bruder ist seit über zwei Jahren tot, aber wie lange ich um ihn trauere, wann und ob ich bereit bin, ihn loszulassen, das musst du schon mir überlassen.«
Derek senkte den Blick und schwieg. Auch wenn er es nicht nachvollziehen konnte, hatte Luca natürlich recht. Es war seine Sache und niemand hatte das Recht, sich einzumischen.
»Tut mir leid«, murmelte Derek zerknirscht.
»Schon gut. Vergiss es einfach. Lass uns gehen.«
Gemeinsam verließen sie das Haus und machten sich zu Fuß auf den Weg zu der besagten Gartenparty, die von einem Freund Dereks ausgerichtet wurde und nur eine halbe Stunde zu Fuß vom zu Hause der beiden entfernt stattfand.
Während sie nebeneinander den Weg entlang liefen, telefonierte der Dunkelhaarige mit einer Freundin, Luca hingegen hing seinen Gedanken nach. Für ihn war es ein Graus, unter vielen Menschen zu sein. Seit dem Tod seines Bruders hatte er sich sehr zurückgezogen und einen großen Teil seiner freien Zeit alleine zu Hause vor dem Computer verbracht. Ansonsten war er draußen in Reading, eine gute Autostunde von London entfernt, auf dem Gestüt seines Onkels Alan gewesen, und hatte lange Ausritte mit seinem Pferd unternommen.
Das sollte sich allerdings jetzt ändern, das hatte der junge Mann sich fest vorgenommen. Dieses dauernde Absondern von allem und jedem musste aufhören. Sein Onkel hatte ihm schon die Hälfte des Gestüts übertragen, damit Luca etwas Sinnvolles mit seiner Zeit anstellte, wie Alan zu sagen pflegte, und um ihn von seinen trüben Gedanken abzulenken. Dafür war er ihm mittlerweile auch dankbar, obwohl er anfangs nicht begeistert von der Idee gewesen war. Und diese Gartenparty, zu der sein Kumpel ihn gerade schleppte, sollte ein weiterer Schritt in Richtung dieser Veränderung sein - Leute treffen und sich mit ihnen abgeben. Luca hatte sich zwar mit Händen und Füßen gewehrt, dort mit hinzugehen, aber Derek hatte den längeren Atem gehabt und ihn so lange genervt, bis er schließlich eingewilligt hatte.
»Was grübelst du schon wieder?«, die Stimme seines Freundes riss den Blonden aus seinen Gedanken, »Wir sind da.«
Luca hob den Blick. Ja, sie waren da … Das war nicht zu überhören. Laute Musik dröhnte ihnen entgegen, als sie den parkähnlichen Garten des Hauses durch ein kleines, hölzernes Tor betraten. Während Derek sich sofort in das Getümmel auf dem von einer hohen, weißen Mauer umfriedeten Gelände stürzte, blieb Luca erst einmal stehen und sah sich um. Der oder die Gastgeber hatten alles mit unzähligen Ballons, Lampions und Pechfackeln dekoriert. Lichterketten waren zwischen den Bäumen aufgehängt worden. Es gab einen riesigen amerikanischen Grill und auf zwei großen Tischen standen etliche Schüsseln mit Salaten und kleinen Häppchen. Des Weiteren gab es Alkohol in rauen Mengen - von Bier über Sekt und Wein bis zu den härteren Sachen wie Whiskey, Tequila und Wodka. Die Gäste hatten sich quer über den ganzen Garten verteilt, standen in kleinen Gruppen herum, tranken, aßen, rauchten oder unterhielten sich einfach nur. Die meisten aber tummelten sich auf der zur Tanzfläche umfunktionierten Veranda des Hauses. Die Musik kam aus riesigen Lautsprechern, die unter dem Vorsprung des Daches aufgehängt worden waren.
Luca seufzte. Es war voll und es war laut und es war überhaupt nicht Seins.
Da er keinerlei Hunger verspürte, schnappte er sich ein Glas Wein und zog sich auf eine der Bänke am Rande des Gartens zurück. Hier hatte man wenigstens ein bisschen Ruhe. Ein paar Mal kam Derek zu ihm herüber und versuchte, ihn auf die Tanzfläche zu schleifen. Doch Luca ließ sich nicht dazu überreden. Er fühlte sich hier, in seiner selbstgewählten Einsamkeit, recht wohl und hatte nicht vor, diese so schnell aufzugeben.
Als sein Kumpel ihn zum x-ten Mal nervte, knurrte Luca ihn an: »Ich bin mitgekommen und nun lass mich zufrieden. Da sind so viele Menschen, da wirst du wohl Zerstreuung finden - ohne mich.«
Mit einem »Mach doch was du willst, du Spaßbremse« war Derek schließlich abgezogen und Luca hatte wieder seine Ruhe. Er sah aus der Entfernung dem regen Treiben der anderen zu.
Gelegentlich verirrte sich ein Mädel in seine Richtung und versuchte, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder zum Tanzen zu animieren, aber Luca hielt sich bedeckt und reagierte sehr wortkarg und eher abweisend. So saß der 19-Jährige den ganzen Abend auf dieser Bank in der hintersten Ecke des Geländes und sah den anderen Gästen zu, die mit fortschreitender Uhrzeit und steigendem Alkoholpegel immer ausgelassener feierten.
Mittlerweile begann es zu dämmern und der Garten wurde von der untergehenden Sonne in ein orange-rotes Licht getaucht. Fasziniert betrachtete Luca das Spiel der Farben auf dem Rasen, den Bäumen und Büschen, als sein Blick an einem jungen Mann hängen blieb, der ebenfalls etwas abseits des Trubels stand und die anderen Gäste zu beobachten schien.
Der Blonde setzte seine Sonnenbrille ab und musterte den Fremden eine ganze Weile. Trotz seiner Trauer und des sonstigen Desinteresses anderen Menschen gegenüber musste er sich eingestehen, dass dieser Kerl in ihm den Wunsch aufkommen ließ, ihn näher kennenzulernen. Irgendetwas an diesem Mann zog Luca magisch an und er hatte das Gefühl, ihn irgendwoher zu kennen.
Der Blick des Jungen glitt über die schlanke, hochgewachsene Gestalt des Fremden, der ein dunkel-violettes, leicht schimmerndes Seidenhemd, eine schwarze Jeans und Chucks trug. Seine dunklen, glatten Haare reichten mindestens bis zur Mitte des Rückens und waren im Nacken locker zu einem Zopf zusammengebunden. Schmunzelnd beobachtete Luca, wie der leicht auffrischende Wind mit ein paar langen Strähnen des Mannes spielte, als dieser plötzlich den Blick von den anderen Partygästen ab- und ihm zuwandte.
Dunkelbraune Augen fixierten den Jugendlichen und diese schienen weit in sein Innerstes vorzudringen. Luca wurde es abwechselnd heiß und kalt. Ein Kribbeln erfasste seinen ganzen Körper. Der Jugendliche konnte spüren, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg, als er errötete, und verlegen senkte er den Blick.
»Was zum Teufel passiert hier gerade?«, murmelte Luca vor sich hin, während er gegen die Verwirrung in seinem Inneren ankämpfte. Wie konnte ein mysteriöser Unbekannter so eine Wirkung auf ihn haben?
Nach ein paar Minuten sah er wieder auf, aber der Fremde war verschwunden. Ein wenig enttäuscht ließ Luca den Blick schweifen in der Hoffnung, den jungen Mann doch noch irgendwo zu entdecken, aber dieser schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Eine seltsame Unruhe breitete sich in dem blonden Jugendlichen aus, auf die er sich aber keinen wirklichen Reim machen konnte. Seufzend stand er auf und schlenderte langsam durch den Garten.
»Das gibt es doch nicht ... Wo ist der denn hin?«
Mittlerweile war es fast komplett dunkel und dementsprechend schwierig, einzelne Personen voneinander zu unterscheiden, auch wenn das Gelände durch die Lampions, Lichterketten und vereinzelten Pechfackeln recht gut beleuchtet war. Es gab einfach zu viele Büsche und Bäume und dadurch zu viel Schatten und dunkle Ecken.
»Was gibt es nicht? Und wo ist wer hin?« Dereks Stimme ließ Luca zusammenzucken. Er sah seinen Freund an, der wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war und fragend zurückblickte.
»Wenn ich das wüsste«, murmelte Luca, »hier war vorhin ...« Der junge Mann brach ab und strich sich durch seine hellblonden Haare. Was sollte er seinem Kumpel antworten? Luca wusste ja selbst nicht, warum dieser Fremde ihn dermaßen verwirrt hatte. Warum sein ganzer Körper so heftig auf einen völlig unbekannten Mann reagierte.
»Ach, keine Ahnung«, Luca zuckte mit den Schultern. Warum machte er sich überhaupt einen Kopf darüber, wohin der Typ verschwunden war? Hätte er Interesse an ihm, Luca, gehabt, dann wäre er noch da.
Derek strich sich eine schwarze Strähne aus den Augen: »Kommst du dann jetzt endlich mal mit auf die Tanzfläche?«
»Nope, ich geh gleich nach Hause. Ich hab die Nase voll. Das war heute lange genug für mich«, brummte der 19-Jährige und sah an seinem Freund vorbei, »aber erst esse ich noch was.«
»Bleib hier, ich hol dir was, dann brauchst du nicht in das Gewühl da hinten.« Damit ließ Derek seinen Kumpel stehen und verschwand in Richtung Grill. Mit einem Schmunzeln sah Luca ihm nach. Als ob er sich sein Essen nicht selbst holen konnte. Aber zu so einem Service sagte er natürlich auch nicht Nein.
»Das ist aber süß, dass er dich bedient.«
Luca wandte sich in Richtung der Stimme um und sah in die grünen Augen von Alison, die ein paar Schritte entfernt an einem Baum lehnte und ihn spöttisch angrinste. Die Rothaarige war mit Luca zur Schule gegangen. Jahrelang hatte sie versucht, seine Freundin zu werden, nicht begreifend, dass der Blonde nicht auf Frauen stand. Nachdem sie sich unzählige Abfuhren eingefangen und endlich verstanden hatte, was Sache war, hatte sie sich an Derek gehängt und war nun seit einem halben Jahr mit ihm zusammen.
Luca musterte sie abschätzend von oben bis unten. »Na, jedenfalls muss ich nicht mit ihm ins Bett gehen, damit er was für mich tut. Das macht er ganz ohne Gegenleistung.«
»Du ... bist so ein selbstgefälliges Arschloch«, schnaubte Alison ungehalten, stieß sich von dem Baum ab und verschwand ohne ein weiteres Wort in Richtung Tanzfläche. Kopfschüttelnd sah der junge Mann ihr hinterher, wandte sich dabei nach rechts, machte einen Schritt und lief gegen jemanden.
»Oh, sorry. Man sollte beim Laufen wohl besser nach vorne schauen«, murmelte er, drehte den Kopf und sah in die braunen Augen des Fremden.