Ein Schütteln an seiner Schulter riss den jungen Mann aus dem Schlaf.
»Luca … steh auf.«
Erschrocken öffnete er die Augen und sah in das Gesicht seiner Freundin Willow, die ihn amüsiert musterte.
»Was zum Teufel …«, verwirrt schaute er sich um. Er saß immer noch unter dem Baum auf der Pferdekoppel und es war bereits stockdunkel. »Wie spät ist es?«
Willow schmunzelte. »Fast Mitternacht. Was tust du hier draußen? Ich hab mir Sorgen gemacht. Hast du wieder gegrübelt und bist darüber eingeschlafen?«
Langsam stand Luca auf und rieb sich fröstelnd die Arme. Er war noch nicht richtig bei sich und durch das abrupte Wecken war ihm jetzt kalt. »Nein, ich hab mich über Alan geärgert und dann bin ich wohl eingepennt.«
»Geärgert? Wegen morgen? Wegen des Vorreitens?«
»Er hat es dir schon erzählt, wie ich höre.«
»Ja, das hat er. Zerbrich dir mal nicht den Kopf. Wir machen das alles im Rahmen des Möglichen. Und vielleicht ist es ja auch nicht mehr ganz so heiß nachher. Zur Not gehst du in die Halle, da ist es ja eigentlich erträglich«, sagte Willow und Luca nickte.
Seine Freundin hatte ja recht. Es brachte eh nichts, sich deswegen verrückt zu machen, denn das würde nichts ändern. Er hatte keine andere Wahl, als den Wünschen Lady Bramletts zu entsprechen.
»Und sonst? Alles okay bei dir?«, fragte die junge Frau, als sie nebeneinander über den Hof gingen, »Keine schlechten Träume?«
»Nein … eigentlich nicht. Alles in Ordnung«, log Luca nach einem Moment des Zögerns. Wozu sollte er die Pferde scheu machen und Willow erzählen, dass er tatsächlich vergangene Nacht wieder einmal von Arian geträumt hatte. Es würde nichts ungeschehen machen, nur würde seine Freundin sich unnötige Gedanken machen. Nein, er musste selbst damit klarkommen. Zum Glück hatte Luca es auch weitestgehend geschafft, seinen Kopf frei von dem dunkelhaarigen Mann zu bekommen und so hoffte er, dass er ihn bald ganz vergessen haben würde. Obwohl er sich nicht sicher war, dass er das auch wirklich wollte. Irgendwie wünschte er sich immer noch, Arian doch noch einmal wiederzusehen. Anderseits …
»Gut, ich möchte mir nämlich nicht permanent Sorgen um dich machen«, unterbrach Willow seine Überlegungen.
Sie stiegen die Stufen zum Herrenhaus hinauf und betraten die spärlich erleuchtete Eingangshalle. Eine weitere Treppe brachte sie in den oberen Teil des Gebäudes, wo ihre Zimmer lagen. An der ersten Tür des Gangs blieben sie stehen und Willow drückte Luca einen Kuss auf die Wange. »Gut, dann schlaf schön. Wir sehen uns später.«
»Du auch«, erwiderte der Jugendliche und während die junge Frau in dem Raum verschwand, ging er weiter den Flur hinunter, bis zum letzten Zimmer. Luca betrat dieses und ließ sich sofort seufzend auf sein Bett fallen, wo er nur wenige Augenblicke später in einen tiefen und unruhigen Schlaf fiel.
Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Als sein Wecker losplärrte, stand Luca murrend auf und verschwand erst mal unter der Dusche. Dazu war er vor dem Einschlafen zu kaputt gewesen. Anschließend frühstückte der Jugendliche mit Willow und Alan, wobei dieser es sich nicht nehmen ließ, ihn, Luca, noch einmal eindringlich an seine Pflichten gegenüber Lady Bramlett zu erinnern, bevor er sich mit seiner Freundin auf den Weg zum Stall machte, um die ersten Pferde zu bewegen. Sie hatten sich genaue Pläne gemacht, wann welches Tier trainiert werden sollte, damit auch keins zu kurz kam. Noch war es angenehm kühl, aber das würde in zwei, drei Stunden vorbei sein. Also hielten die beiden sich ran, um ihr Programm durchzuziehen.
Als die letzten beiden Jungpferde geritten und anschließend auf die Wiese gebracht worden waren, strich sich Luca durch die verschwitzten Haare. »So, das wäre geschafft. Jetzt haben wir etwas Ruhe, um uns auf den Nachmittag vorzubereiten.«
»Am besten relaxt du ein wenig. Die beiden Pferde von Lady Amelia hole ich gleich rein in den Stall.«
Der junge Mann nickte. »Okay, dann verzieh ich mich mal ‘ne Stunde oder zwei und leg mich noch etwas hin. Ich bin irgendwie wie gerädert. Die Hitze bringt mich noch um.«
»Mach das. Ist ja noch Zeit genug, bevor die gnädige Frau hier auftaucht.«
»Hmm, ja. Wegen mir bräuchte sie gar nicht zu kommen. Bis nachher«, brummte Luca und machte sich auf den Weg zum Herrenhaus.
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»Hab ich wirklich zugesagt? Kann ich mich nicht krankmelden?« Viktor murrte und schüttelte den Kopf, als Sebastian ihm ein Hemd hinhielt.
»Nein. Das könnt Ihr nicht. Hier geht es nicht um eine Studentenparty. Ihr habt der Lady fest zugesagt. Hier, nehmt das. Hell und nicht zu schwer.« Der Butler reichte seinem Herrn ein silbrig-weißes Seidenhemd.
»Es ist jämmerlich heiß draußen und viel zu sonnig.« Der Vampir warf sein altes Oberteil über die Sessellehne und zog sich um. Grummelig krempelte er die Ärmel bis zu den Ellenbogen hoch.
»Vielleicht brecht Ihr zur Abwechslung aus der Etikette aus und tragt Eure Segelhosen?«
»Welche Erleichterung sollte das bringen? Ich suche doch nur nach einem Vorwand.«
Sebastian nickte und musste grinsen. Manchmal war sein Herr störrisch wie ein Kind.
»Na los, lassen wir sie nicht warten.« Mit einer leichten dunkelgrauen Weste, die mit der schwarzen Jeans und den Turnschuhen harmonierte, drehte sich der Vampir einmal spöttisch vor seinem Butler, der zustimmend brummte. Er griff nach der Sonnenbrille und dem Fedora seines Herrn, nachdem dieser schon abgerauscht war, als müsste er sich selbst in Bewegung halten, weil er sonst nur auf dem Sofa landen und nichts tun würde. Die letzten drei Tage und die Umbauarbeiten in Graf Viktors Nachtclub waren für den Adligen anstrengend genug gewesen.
»Puh, oh Gott«, keuchte der Vampir, als er die Haustür öffnete und die Luft zum Schneiden dick und heiß wie eine Wand vor ihm stand.
»Wir nehmen den BMW. Bei diesen Temperaturen ist ein Wagen ohne Klimaanlage ja geradezu Selbstmord.«
Sebastian nickte und eilte davon, um nach zwei Minuten vor dem Haus zu hupen. Viktor zog die Tür hinter sich ins Schloss und sprang elegant die wenigen Stufen hinunter, bevor er hinten in der anthrazitfarbenen Limousine einstieg und erleichtert seufzte. Die Air Condition hatte ihren Dienst bereits begonnen.
»Was hatte Lady Bramlett gesagt? Ein Gestüt in Reading?« Sebastian lenkte den Wagen durch den dichten Londoner Verkehr nach Belgravia und sah über den Rückspiegel zu seinem Herrn.
»Ja, warum?«
»Ich weiß nicht. Irgendwas klingelt da bei mir, kann mich aber nicht erinnern. Was soll’s. Vermutlich stand mal was in der Zeitung ...«
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»Mein lieber Graf Viktor, ich freue mich, Sie zu sehen.« Lady Amelia Bramlett erhob sich aus ihrem eleganten Sessel, als ihr Butler den Gast in den Salon führte. Sebastian war draußen beim Wagen stehengeblieben, denn es war geplant, nach einer kurzen Begrüßung sogleich zum Gestüt weiterzufahren.
»Aber Mylady, Sie hatten mich doch eingeladen«, zwinkerte der junge Adlige der Dame zu und reichte ihr die Hand für einen angedeuteten Handkuss. »Wollen wir dann gleich aufbrechen? Mein Butler wartet beim Auto und lässt die Klimaanlage laufen.«
»Natürlich, lassen Sie uns keine Zeit verlieren und diesen herrlichen Sommertag gebührend verleben. Meine Pferde werden Ihnen gefallen, Graf. Nur das beste Blut.«
Lady Bramlett strich sich lächelnd über ihr luftiges hellblaues Kleid und ließ sich von ihrem Diener in ein passendes, leichtes Jäckchen helfen, bevor sie ihren Sommerhut und eine winzige Handtasche ergriff.
»Ich hoffe, Ihr Butler ist ein umsichtiger Fahrer?«
Viktors Lippen zuckten leicht. Diese Frau hatte eine impertinente Art zu fragen an sich und wertete grundsätzlich jeden niedriger, der nicht in ihrer Gesellschaftsschicht geboren worden war. Dabei vergaß sie gern, dass ihre Stellung angeheiratet war und ihre eigene Herkunft kaum für die britische Upper Class reichte, geschweige denn für den Adelsstand. Es stimmte, Geld verdarb die Menschen und ließ sie ihre Wurzeln vergessen.
Nach außen hin jedoch lächelte der Graf und nickte. »Aber ja, Mylady. Ich würde Sebastian mein Leben anvertrauen, bedingungslos.«
»Sie sind sehr großzügig.«
»Mitnichten, Lady Amelia. Ich bin im Gegenteil sogar sehr streng mit meinen Angestellten und dulde keine Schlampereien. Doch wer sich meinen Respekt verdient hat, dem zolle ich selbigen in vollem Umfang. Sebastian ist die Art von Butler, die es heute gar nicht mehr gibt«, der Vampir musterte den livrierten Diener der Lady und lächelte leicht.
»Fleißig?«
»Verschwiegen. Loyal. Bereit, die schlimmsten Geheimnisse seiner Arbeitgeber zu bewahren, anstatt damit zu einer Boulevardzeitung zu laufen, sollte man ihn entlassen. Ich weiß, wie Dienstboten heute ticken, Mylady. Kündigt man ihnen, selbst wenn es ihr Verschulden ist, zögern sie nicht, ihre früheren Herren mit Mist zu bewerfen, solange nur die Bezahlung stimmt. Sebastian hingegen weiß, wem seine Loyalität gehört und dass er sich meiner bedingungslos gewiss sein kann.«
Lady Bramlett sah Viktor einen Moment lang schweigend an. Dieser Mann war wirklich ein Unikum. Sie kannte niemanden aus der besseren Gesellschaft, der so über seinen Butler sprechen würde. Diener waren wie Möbelstücke in einem Haus, sie waren austauschbar und das tat man auch, wenn man mit einem von ihnen nicht zufrieden war. Graf Draganesti hingegen sprach von diesem Sebastian wie von seinem engsten Freund, jemanden, den er unter keinen Umständen im Stich lassen würde, egal was auch geschehen sollte. Sie wusste nicht, ob sie den Adligen für seine Treue bewundern oder bemitleiden sollte. Was sie jedoch wusste war, dass sie seine Meinung über Bedienstete nicht teilte. Sie waren zum Arbeiten da, um den Angehörigen der feinen Gesellschaft das Leben zu erleichtern und nicht, um Freundschaften mit ihnen zu schließen.
»Wollen wir dann?«, unterbrach Viktor den Moment des Schweigens und hielt ihr seinen Arm hin.
»Nichts lieber als das«, strahlte sie ihn an. Sollte er doch eine komische Einstellung haben. Er war noch immer der göttlichste Mann, den sie kannte.
Den sommerlichen Temperaturen zum Trotz waren mehr Autos auf der M4 in Richtung Reading unterwegs gewesen als üblich, weswegen Sebastian den eleganten BMW erst nach mehr als eineinhalb Stunden auf dem von Bäumen beschatteten Parkplatz vor ihrem Ziel, dem hübschen Privatstall, der Lady Amelias Pferde versorgte, abstellte.
Den beiden Herrschaften im Fond des Wagens war die Fahrtzeit kaum aufgefallen, da sie sich angeregt über den Reitsport ausgetauscht hatten. Sebastian jedoch hatte sehen können, wie sehr es seinem Herrn missfallen hatte, dass Lady Bramlett es guthieß, Pferde bis zum Äußersten zu schinden und dann einfach zu erschießen, wenn sie keine Leistung mehr erbringen konnten.
Sie war eine furchtbare Person und der Butler rechnete jeden Tag damit, dass Viktor ihr den Laufpass gab und die Freundschaft aufkündigte. Überhaupt gab sich der Adlige nur mit der Lady ab, um ein wenig Abwechslung von seiner Langeweile zu haben.
»Mein Herr, wir haben das Ziel erreicht«, mischte Sebastian sich bescheiden in die Unterhaltung ein, die gerade von Pferden zu Lady Amelias Hundezucht geschwenkt war. Die Dame war sehr stolz auf ihr Hobby und rühmte sich damit, die genetisch besten englischen und französischen Bulldoggen zu züchten, die man in ganz Großbritannien finden konnte.
Graf Viktor, der ja bereits seit seiner Kindheit ein ausgeprägtes Unbehagen Hunden gegenüber verspürte, interessierte sich kein bisschen dafür, doch er war zu sehr ein Gentleman, um sich dies anmerken zu lassen.
Vom Butler über ihre Ankunft aufmerksam gemacht, blickten beide Adlige aus dem Fenster und Viktor lächelte. Die Anlage hatte etwas Malerisches und sehr Gemütliches und die Bäume versprachen Schatten und Erfrischung.
Sebastian stieg aus und öffnete der Dame die Tür, während der Graf auf der anderen Seite den Wagen verließ und sich seinen Hut und die Sonnenbrille aufsetzte. Reading war, weil es weit außerhalb des dicht bebauten Stadtgebietes von London lag, etwas weniger drückend, doch die Temperaturen hatten sich nicht verändert. Es ging nur ein bisschen mehr Wind, den der Vampir willkommen über seine Haut streichen ließ. Der Effekt der klimatisierten Limousine verflog in der Sommerwärme sehr schnell wieder.
»Ein schöner Flecken Erde, Lady Bramlett«, rief der Graf ihr über das Auto hinweg zu und die Dame strahlte, als wäre es ihr Besitz und er hätte sie höchstpersönlich gelobt.
»Ja, Mr. Summerson hat viel aus der Anlage gemacht.«
Keiner von beiden merkte, dass Sebastian leicht zuckte und die Augenbrauen kraus zog. Wie schon bei der Erwähnung des Gestüts klingelte auch jetzt etwas in seinem Gedächtnis, doch er konnte es beim besten Willen nicht zuordnen.
»Kommst du, Sebastian?«, rief Viktor, der schon einige Schritte voran in Richtung Tor gegangen war, ihm zu. Der Butler nickte und verschloss den Wagen, bevor er seinem Herrn und dessen Begleitung eilig nachlief.