Todmüde hatte Luca sich im Wohnzimmer des Herrenhauses auf das breite Sofa gelegt. Die vergangene Nacht hatte ihn mit verschiedenen Alpträumen gequält und ihn immer wieder hochschrecken lassen. Sein rechtes Auge zuckte schon seit einer Stunde fast ununterbrochen; ein Phänomen, das immer dann auftrat, wenn er zu wenig Schlaf bekommen oder zu viel Stress gehabt hatte. Diesmal war es eine Kombination aus beidem. Gähnend drehte der junge Mann sich auf die Seite, nachdem er den Wecker seines Handys gestellt hatte, zog sich, da die Übermüdung ihn frösteln ließ, eine leichte Wolldecke über den Körper und war fast augenblicklich eingeschlafen.
Während Luca ins Land der Träume abdriftete, hatte Willow die beiden Vollblüter von Lady Bramlett von der Wiese geholt und im kühlen Stallgebäude an eigens dafür angebrachten Vorrichtungen angebunden. Die junge Frau ließ die weiche Bürste über das Fell des schwarzen Hengstes Midnightdancer gleiten und befreite es von etwas losem Staub, bevor sie die Hufe des Tieres auskratzte und sich dann dem zweiten Pferd, einem Grauschimmelwallach namens Silver Spirit, widmete. Willow hatte gerade den letzten Huf des Tieres gesäubert, als Motorengeräusche ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie schaute auf, aber da sie nichts Genaueres erkennen konnte, wandte sie sich wieder den Pferden zu; bis kurz darauf das Quietschen des eisernen Eingangstores erneut die Aufmerksamkeit der jungen Frau einforderte.
»Das sollte schon vor Wochen geölt werden«, murrte Willow genervt. Außerdem sollte es auch verschlossen sein, damit nicht irgendwelche Fremden einfach auf das Grundstück marschieren konnten. Dafür gab es schließlich eine Gegensprechanlage, wo Besucher sich ankündigen konnten. Aber anscheinend hatte jemand das Tor nicht richtig hinter sich zugezogen, sonst wäre Alan jetzt auf dem Weg, um die Gäste hineinzulassen. Seufzend verließ Willow den Stall ...
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Viktor hatte sich, nachdem er sich von Lady Amelia hatte führen lassen, neugierig umgesehen und ihr Geprahle, als wäre es ihr Anwesen, dabei geflissentlich überhört. Er war zu höflich, um sich anmerken zu lassen, wie unangemessen er es fand. Jedoch stimmte er ihr insgeheim zu, dass die Anlage in wunderbarem Zustand war.
Der Duft von Heu und der milde, aromatische Geruch von Pferden war bereits auf dem Parkplatz wahrzunehmen und das war nicht nur seiner guten Nase geschuldet. Die Wärme verbreitete diesen angenehm natürlichen und ländlichen Duft wie ein Föhn und irgendwo roch es sogar nach gemähtem Gras.
Die beiden Transsylvanier folgten der Dame auf das Anwesen, wo sie weitersprach und Viktor höfliche Reaktionen zeigte, während er sich umsah. Auf der gegenüberliegenden Seite des weitläufigen, mit hellem, feinem Kies ausgelegten Hofes, befanden sich ein großes und drei kleinere Backsteingebäude mit dunkelgrünen Rundbogen-Holztüren. Der Unsterbliche vermutete, dass es sich hier um die Pferdeställe handelte. Rechts von ihnen stand ein riesiges Gebäude, das wie eine der Reithallen aussah, die man auch heute noch auf alten Anwesen fand, zu denen das Gestüt ja nun einmal gehörte. Natürlich konnte es sich ebenso gut um eine Scheune handeln. Auf die Entfernung und ohne einen Blick in das Innere, war das nicht festzustellen. Aber es war auch nicht wichtig. Viktor ließ den Blick weiter schweifen. In der Mitte des Hofes stand eine elegante Bank unter einer riesigen uralten Eiche und ein Stück davon entfernt erhob sich linker Hand ein imposantes Herrenhaus, das zum Teil mit Efeu bewachsen war, umgeben von Bäumen und gesäumt von einzelnen bunten, gepflegten Blumenrabatten. Das hier war eine Idylle wie aus dem Bilderbuch. Viktor ließ den Blick noch etwas weiter schweifen und er streifte dabei Sebastian. Es fiel dem Unsterblichen auf, dass sein Leibdiener einen grüblerischen Ausdruck im Gesicht hatte, als würde er sich über irgendetwas den Kopf zerbrechen.
»Hast du etwas?«, raunte der Graf seinem Butler zu, doch der kam nicht dazu, seine Gedanken mit seinem Herrn zu teilen, da dessen Aufmerksamkeit erforderlich wurde, als eine junge Frau aus einem der kleineren Gebäude gegenüber trat und von Lady Bramlett zu ihnen gewunken wurde.
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Langsam überquerte Willow den Hof, wo die drei Besucher in der Nähe des Eingangs standen – zwei Männer und eine Frau. Letztere schien dem einen der beiden etwas über das Anwesen zu erzählen, denn sie deutete auf verschiedene Stellen und der schlanke dunkelhaarige Mann neben ihr ließ den Blick wandern und nickte immer wieder. Der dritte im Bunde hielt sich etwas im Hintergrund, ganz so, als gehöre er nicht wirklich dazu.
»Fuck«, fluchte die Rothaarige leise, als sie Lady Amelia Bramlett erkannte, »was will die schon hier?«
Während Willow weiter auf die kleine Gruppe zuging, nahm sie ihr Handy aus der Hosentasche und rief Luca an.
Der schreckte aus seinem Schlaf hoch und fiel fast vom Sofa, als sein Telefon klingelte.
»Verdammt, Willow, was …?«
Die Stimme seiner Freundin war leise, aber was sie sagte, sorgte dafür, dass er augenblicklich hellwach war.
»Red nicht. Steh auf! Lady Bramlett ist hier.«
»Wie bitte?« Luca schob sich einen Kaugummi in den Mund und schaute auf die Uhr über dem Kamin gegenüber. »Sie ist zu früh.«
»Ich weiß, aber das ist jetzt nicht mehr zu ändern. Sag Alan Bescheid und dann sieh zu, dass du deinen Hintern hierher schiebst. Wehe, du lässt mich mit der affektierten Ziege alleine.«
Bevor Luca antworten konnte, legte Willow auf.
Das Mobiltelefon wieder zurück in die Hosentasche schiebend, beschleunigte sie ihre Schritte und blieb schließlich vor der kleinen Gruppe stehen.
»Miss Bennett, richtig?«
»Guten Tag, Lady Bramlett. Und ja, Bennett ist korrekt. Sie müssen entschuldigen, Mr. Summerson ist sofort für Sie und Ihre Gäste da«, Willow setzte ihr schönstes Lächeln auf und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr sie diese Frau verabscheute.
»Das ist nett von Ihnen. Ich bin hier, um meinem Begleiter, Graf Draganesti, meine Pferde zu zeigen und hatte mich bei Mr. Summerson angekündigt. Er wird es doch nicht vergessen haben?«
»Aber nein. Er hatte nur noch ein paar Sachen zu erledigen und da Sie ein wenig zu früh sind ...«
Amelia Bramlett musterte die junge Frau abfällig, bevor sie antwortete. »Nun, die paar Minuten werden wohl niemanden umbringen. Und außerdem … Ah, da ist ja der gute Mr. Summerson.« Sie wandte sich von Willow ab und Alan zu, der, ein wenig gehetzt aussehend, die Treppe des Herrenhauses heruntersprang und auf die Besucher zueilte.
»Lady Bramlett, ich freue mich, Sie endlich wieder einmal hier begrüßen zu können. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Die Hitze ist ja unerträglich.«
Den Kopf kaum merklich schüttelnd, sah Willow zu, wie Alan vor der Frau katzbuckelte und reflexartig ballten sich die Hände der jungen Hexe zu Fäusten. Als sie Blicke auf sich spürte, sah sie auf und in das Gesicht des Grafen, der sie schmunzelnd musterte. Der andere Mann, der sich weiter dezent im Hintergrund hielt, schaute sie ebenfalls an, allerdings etwas verstohlen, und um dessen Mundwinkel zuckte es verräterisch.
»Es freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Miss Bennett. Ich bin Viktor Draganesti und das ist mein Butler, Sebastian.«
»Die Freude ist ganz meinerseits, Graf.«
Sie wurden abrupt unterbrochen, denn Amelia Bramlett, die nun ihrerseits Alan mit Viktor bekannt machen wollte, schob Willow wie ein lästiges Insekt einfach zur Seite.
Die junge Frau biss sich auf die Zunge, um nicht etwas Unverschämtes zu sagen und beobachtete schweigend das Theater, das die Adlige abzog.
Geduldig wartete Willow, bis die Begrüßungszeremonie über die Bühne war, bevor sie sich an ihren Arbeitgeber wandte: »Soll ich Luca holen gehen?«
»Ja, das könntest du in der Tat machen«, erwiderte Alan lächelnd, »wir wollen die Herrschaften ja nicht unnötig warten lassen.«
»Gut, dann werde ich mich mal ...«
Schnelle Schritte auf dem Kiesweg des Anwesens ließen die junge Frau innehalten ...
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Der Butler und Graf Viktor hatten gleichermaßen den Kopf herumgewandt, als ein hochgewachsener Mann mittleren Alters aus dem herrschaftlichen Wohnhaus geeilt war und sich geradezu überschwänglich den Besuchern und besonders der Dame widmete.
Dem Adligen fiel zu seiner Belustigung auf, dass die junge rothaarige Frau kaum ihren Unmut über Lady Bramlett verbergen konnte. Auch Sebastian bemerkte es und ein sonderbares Gefühl der Verbundenheit wallte in dem Butler auf. Es war erfreulich zu sehen, dass er nicht der Einzige war, der innerlich so sehr mit den Augen rollte, das ihm beinahe davon schwindelig wurde.
Doch als die junge Frau, Miss Bennett, den Namen ihres Kollegen nannte, zuckte Sebastian erneut zusammen und wollte sich unbemerkt an seinen Herrn richten. Dem Butler war soeben wieder eingefallen, woher ihm das ‚Gestüt Reading‘ und der Name Summerson so bekannt vorgekommen waren, doch auch der Graf hatte bei der Erwähnung des Namens einen Moment lang gestutzt und die Augenbrauen unter seiner Sonnenbrille kraus gezogen.
Sein Rücken wurde steif und er stieß ein leises, undefinierbares Geräusch aus, als ein schlanker junger Mann mit hellblonden Haaren eilig über den Kiesweg gelaufen kam. Viktor machte unwillkürlich einen halben Schritt zurück und stieß dabei fast gegen Sebastian.
»Drac«, fluchte der Adlige nur für diesen hörbar und riss sich augenblicklich wieder zusammen. Die anderen Personen rund um Lady Bramlett hatten seinen kurzen Fluchtreflex nicht bemerkt, nur Sebastian legte ihm leicht die Hand auf den Rücken.
»Verzeiht, Herr. Es fiel mir gerade wieder ein. Der Junge hatte mir nach dem Vorfall im Park doch seine Karte gegeben. Es tut mir leid«, flüsterte der Butler, doch Viktor schüttelte nur leicht den Kopf.
»Es ist nicht deine Schuld.«
Währenddessen steuerte der Jugendliche Lady Bramlett an, um sie zu begrüßen, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen. Sein Blick war ungläubig auf Viktor gerichtet, was nicht nur Willow auffiel.
»Was ist los, Luca? Kennst du Graf Draganesti?« Alans Stimme holte seinen Neffen aus seiner Erstarrung.
»Graf … Draganesti?«, wiederholte er so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte, dann straffte er die Schultern und fuhr lauter und mit fester Stimme fort, »Ich denke nicht, dass wir uns kennen. Jedenfalls kann ich mich nicht erinnern.« Mit diesen Worten wandte er den Blick von Viktor ab und machte einen Schritt auf Lady Bramlett zu, um sie mit einem angedeuteten Handkuss zu begrüßen.
»Nun, das hätte mich auch gewundert, oder verkehren Sie in Adelskreisen, Luca? Ich darf Sie doch so nennen?«, warf diese ein und musterte den blonden Jugendlichen abschätzend.
»Ganz wie Sie möchten und nein, für gewöhnlich nicht. Außer man nötigt mich dazu, wie es mein Onkel ab und an tut. Ich persönlich zähle keine Adligen zu meinen Freunden«, erwiderte der und schenkte Amelia das schönste, falsche Lächeln, das er aufzubringen imstande war, bevor er sich von ihr abwandte und sein Blick wieder den Viktors suchte.
Der Graf hatte seine vor der Welt geschulte Fassade wieder aufgelegt und ließ sich nicht anmerken, wie sehr es ihn aufwühlte, Luca so plötzlich und unvorbereitet wiederzusehen. Nur seine Körperhaltung war ein wenig steifer als sonst.
Was hatte er, Viktor, sich nur dabei gedacht, sich nicht vorab über das Gestüt zu informieren? Es war heutzutage ein Leichtes, so etwas zu googeln und dann hätte er genug erfahren, um einen Besuch hier abzusagen. Er hatte sich vorgenommen, den Jungen nicht wiederzusehen, um dessen eigener Sicherheit Willen. Ganz abgesehen davon, dass er, Viktor, jetzt wie ein verlogener Betrüger dastand, der aufgeflogen war.
Es fuhr ihm sonderbar durch den Magen, den Jugendlichen sagen zu hören, dass dieser sich nicht daran erinnerte, ihn, Graf Draganesti, schon einmal getroffen zu haben. Viktor konnte in Lucas Gesicht ganz deutlich ablesen, dass er ihn erkannt hatte, trotz der Sonnenbrille und dem leichten Hut, die beide seine lichtempfindlichen Augen vor zu viel Sonneneinstrahlung schützen sollten. Doch der Junge hatte recht. Er kannte den Grafen nicht, er kannte nur den Musiker.
In dieser Sekunde hätte der Adlige gern hundert Jahre seines Lebens gegeben, um wirklich nur ein armer Musikstudent zu sein und nicht der, der er war. Lady Bramletts aufgeblasenes Gehabe fiel ihm mit einem Mal unglaublich auf die Nerven. Doch seine Lippen zuckten leicht, als er das falsche Lächeln im Gesicht des Jungen sah. Er machte sich kaum die Mühe, seine Abneigung zu verbergen.
Als sich Luca wieder ihm, Viktor, zuwandte, konnte dieser in dessen blauen Augen sehen, dass er nicht erpicht darauf war, in irgendeiner Weise mit ihm zu reden. Das feine Gesicht des Jugendlichen war verkniffen und das Lächeln wirkte angestrengt, als er die Hand des Grafen ergriff, die dieser ihm zur Begrüßung hinhielt.
Als ihre Finger sich berührten, lief etwas, das sich wie ein Stromschlag anfühlte, durch den Körper des jungen Mannes, sodass dieser heftig erschauderte. Doch er riss sich zusammen.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Graf Draganesti.«
Viktor spürte, wie Luca unter der Berührung erbebte. Ein Gefühl, das den Vampir milde erregte und ihn mit einer fast kindlichen Aufregung erfüllte. Sanft und von den anderen ganz unbemerkt strich er mit dem Daumen über den Handrücken des Jungen, bevor er dessen Finger wieder losließ.
»Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Luca. Wenn Sie erlauben ...«
Luca zog die Hand wieder zurück und obwohl seine eisblauen Augen Viktor zu durchbohren schienen, lächelte er süßlich. »Aber natürlich, Graf.«
Alan, der so mit Lady Amelia beschäftigt gewesen war, dass er diese kleine Szene zwischen seinem Neffen und dem Adligen nicht bemerkt hatte, wandte sich an den Jugendlichen und Willow.
»Sind denn die Pferde für die Vorstellung bereits vorbereitet oder braucht ihr noch einen Moment, dann würde ich Lady Bramlett und Graf Draganesti noch eine Erfrischung anbieten?«
»Wir müssten die beiden nur noch auf den Platz bringen, aber ich schlage vor, besser in der Reithalle zu bleiben. Es ist kühler und liegt nicht direkt in der Mittagshitze«, antwortete Willow und Luca nickte. Wenn er die Tiere schon vorführen sollte, dann nicht, wenn die Sonne im Zenit stand. Diese Tortur würde er sich und besonders den sensiblen Pferden nicht zumuten.
»Gut, dann … was sagen Sie, Mylady?« Alan wandte sich herum.
»Mir ist es ganz gleich, solange meine Tiere nur gut zur Geltung kommen und die Halle hell genug ist. Aber, Mr. Summerson, gegen eine kleine Erfrischung hätte ich auch nichts einzuwenden, wenn es keine zu großen Umstände macht.«
»Aber nein, Mylady.«
»Mein Butler wird Ihnen behilflich sein, Sir«, wandte sich Viktor an Alan, der dem hochgewachsenen Sebastian, der freundlich nickte, dankbar zulächelte.
»Gut, dann bringt ihr beiden die Herrschaften in die Halle und ich organisiere sogleich ein paar kühle Getränke.« Der Gestütsbesitzer machte eine Handbewegung, die die beiden jungen Leute antreiben sollte und machte sich dann mit Graf Viktors Butler auf den Weg zum Herrenhaus.