Nachdem Willow und Sebastian sich mit den Pferden ein paar Meter entfernt hatten, stand Viktor auf und machte sich auf den Weg über den Hof, hinüber zu dem Gebäude, in dem Luca verschwunden war. Der Unsterbliche öffnete die massive Holztür und schlüpfte in das Halbdunkel der Stallgasse. Lautlos bewegte er sich ein Stück den Gang entlang, blieb dann stehen und lauschte, bevor er Lucas Stimme folgte.
Der hatte, nachdem das Knarzen der Stalltüre seine Aufmerksamkeit eingefordert hatte, um die Ecke gelinst, aber nichts gesehen und sich wieder seiner Arbeit zugewandt. Der Junge rieb sich durch das Gesicht. Wieso knarrte diese blöde Tür, wenn niemand in den Stall gekommen war?
»Ich werde wohl verrückt«, brummte er und fuhr fort damit, Sattel- und Putzzeug der Pferde wegzuräumen. Dabei kreisten seine Gedanken weiter ununterbrochen um Viktor und hin und wieder seufzte Luca schwer.
Als alle Sachen wieder an ihrem Platz waren, schnappte der junge Mann sich einen Besen und kehrte den Dreck zusammen, den das Striegeln der Pferde und Säubern der Hufe hinterlassen hatte. Luca wollte nicht wieder nach draußen, zurück zu ihm, aber der Jugendliche wusste, dass er keine Wahl hatte und das Ganze nur herauszögerte. Am liebsten hätte er sich in einem Mausloch verkrochen.
Andererseits brannten ihm einige Fragen unter den Nägeln, die er Viktor gerne gestellt hätte und das konnte er nicht von hier aus. Er würde noch einen Moment hierbleiben und sich dann seinem Schicksal ergeben.
»So ein verdammter Mist. Ich hasse dich ...«, fluchte der Jugendliche leise, stellte den Besen weg und lehnte sich gegen eine der halbhohen Boxentüren.
»Ist das wirklich so? Hass ist ein starkes Wort.«
Wie elektrisiert fuhr Luca herum und starrte in das Halbdunkel des Stalls, aus dem sich Viktor nun auf ihn zu bewegte. Vor dem Jungen blieb der Vampir stehen und sah ihm in die blauen Augen.
»Ja, das ist so. Ich hasse dich. Du … du bist ein Arschloch. Hast mich belogen, gefickt und dann bist du einfach abgehauen. Du Mistkerl«, rotzte er Viktor trotzig entgegen und hielt dessen Blick stand, »wahrscheinlich bist du auch noch stolz darauf, Arian.«
Der Vampir seufzte. »Nein, das bin ich nicht, aber ich hatte meine Gründe. Ich habe dich verletzt und das tut mir leid, aber darum musst du nicht ausfallend werden.«
Der Jugendliche hob den Kopf noch ein Stück höher und stolz sah er sein Gegenüber an. »Du hast mir gar nichts zu sagen, Graf Draganesti. Weißt du eigentlich, wie ich mich gefühlt habe? Und wie es mir jetzt gerade geht? Nein? Wie könntest du auch! Für dich ist das anscheinend alles ein Spiel und ich war ein netter Zeitvertreib.«
Viktor strich dem wütenden jungen Mann eine Strähne seiner blonden Haare aus dem Gesicht. »Denkst du das wirklich? Dass es für mich nur ein Spiel war? Du warst natürlich in dem Moment ein netter Zeitvertreib, aber nicht nur. Ich ...«
Doch Luca hatte genug gehört. Er schob den Adligen von sich weg und wollte den Stall verlassen, aber der Vampir hielt ihn fest und presste ihn gegen die Tür. Die dunklen Augen des Unsterblichen funkelten gefährlich. »Ich sagte, ich hatte meine Gründe. Du hast keine Ahnung, was hier auf dem Spiel steht«, knurrte er ganz nah an Lucas Mund.
»Ach ja? Was denn zum Beispiel? Dass du in der Achtung dieser oberflächlichen Bramlett-Ziege sinkst? Oder wirst du aus deinen ach so heiligen Adelskreisen ausgeschlossen, wenn die erfahren, dass du einen Kerl gebumst hast, hmm?«
»Wenn du das meinst … Du hast ja keine Ahnung.«
»Jaaaa, das sagtest du bereits. Leg mal ne neue Platte auf. Es wird langwei...«, knurrte Luca, doch Viktors Lippen auf seinen ließen ihn verstummen.
Ein Kribbeln, gleich dem leichter elektrischer Stromstöße, jagte durch den Körper des Jungen und er konnte ein wohliges Seufzen nicht unterdrücken. Ja, er hatte ihn vermisst und ein Kuss dieses Mannes war das, was er sich jeden Tag aufs Neue gewünscht hatte. Das und noch viel mehr.
Als der Vampir die Verbindung löste, sah Luca ihn an und fragte dann leise: »Warum tust du das? Warum suchst du meine Nähe? Warum verdammt noch mal küsst du mich?«
»Vielleicht, weil ich genauso oft an dich habe denken müssen, wie du an mich?! Weil mich eine ebenso große Sehnsucht gequält hat, wie ich sie bei dir spüren kann?! Und bevor du mir vorhältst, dass ich mich ja hätte melden können, sage ich es noch einmal: Nein, das konnte ich nicht, weil ich meine Gründe hatte. Ich wollte dich schützen, nicht mich.«
»Mich schützen? Wovor? Mich braucht niemand zu beschützen.«
»Doch, Luca, glaub‘ mir. Allerdings kann ich dir im Moment nicht mehr sagen. Vertrau mir einfach.«
»Vertrauen? Dir?« Der Jugendliche atmete tief ein. »Keine Ahnung, ob ich das so einfach kann.« Luca lehnte sich an Viktor und sog dessen Duft tief in sich auf. Gott, wie hatte der Jugendliche sich die ganze Zeit genau nach solch einem Augenblick gesehnt. Und es war Luca gerade auch egal, wenn das hier und jetzt noch weiterführen würde. Er wollte so viel von dem Moment auskosten, wie möglich. Schließlich wusste er nicht, ob sie sich so schnell wiedersehen würden, denn Luca glaubte nicht, dass dies hier etwas an der Gesamtsituation ändern würde. Wenn Viktor sagte, er habe Gründe, dann waren diese ja nicht einfach verschwunden, nur weil das Schicksal sie wieder zusammengeführt hatte. Es wäre also wohl gescheiter, sich auf nichts einzulassen, aber dieser Mann war für Luca wie eine Droge und er konnte nichts gegen diese Sucht nach dem Adligen tun.
So standen sie eine Weile da, schweigend, und die Finger des Vampirs glitten sanft über den Rücken des Jungen. Der seufzte leise. Er wusste, er würde Viktor nicht widerstehen können und so trat er einen Schritt zurück, ergriff die Hand des Adligen und zog ihn hinter sich her.
»Komm mit. Ich habe keine Ahnung, wann ich noch mal die Gelegenheit habe und ich brauche etwas, an das ich mich erinnern kann«, schnurrte der Blonde und Viktor folgte ihm schmunzelnd.
Keiner der beiden nahm die Gestalt wahr, die durch den Hinterausgang des Stalles diesen betreten hatte und nun wie gebannt auf die Szene vor sich starrte.
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Die junge Frau spürte die Wärme in ihren Wangen, als sie mit Midnightdancer voranging und die Schritte des Butlers hinter sich hören konnte, der ihr mit Silver Spirit schweigend folgte.
Seit Monaten hatte sie keinen Mann mehr getroffen, der diese Reaktion bei ihr hervorgerufen hatte. Vielmehr war sie der Überzeugung gewesen, dass sie nach ihren Erfahrungen in der Vergangenheit niemals wieder Interesse an einem empfinden würde. Die meisten Männer stießen sie ab, deren oft unbeherrschtes Verhalten machte ihr Angst, auch wenn sie es nicht gerne zugab, und Willow mied sie, wann immer sie konnte.
Verstohlen linste sie über Midnights Rücken zu Sebastian und schmunzelte leicht. Er trug einen sehr gepflegten Stoppelbart, ungewöhnlich für den Butler eines feinen Herrn, und seine Dieneruniform saß so perfekt, als wäre sie ihm auf den Leib geschneidert worden. Der schwarze Stoff und das seidene Weiß des Hemdes ließen den Mann elegant und schlank wirken, was mit seiner Körpergröße harmonierte.
Willow wandte den Blick wieder nach vorn und schimpfte sich innerlich aus. Sie fiel auf das gute Aussehen eines wohlerzogenen Dieners herein. Es war doch klar, dass er tadellose Manieren hatte, das war sein Beruf. Das musste noch gar nichts heißen, er konnte trotzdem ein Arschloch sein.
Sie passierten den von Bäumen umringten Roundpen und von da offenbarte sich der Blick auf den mit feinem Sand bedeckten Reitplatz, der sowohl für die Dressurarbeit als auch gelegentliches Springtraining genutzt wurde. Der Duft von Heu und gemähtem Gras wurde vom feinen Wind über die Anlage geweht und Bienen summten über leuchtend gelbe Blumen, die vereinzelt auf Rasenflächen am Wegesrand wuchsen. Der Sommer zeigte sich an diesem Ort von seiner schönsten Seite.
Willow biss auf ihrer Lippe herum. Natürlich wusste sie, dass sie auch durch die Ställe hätte gehen können, die immerhin zwei Eingänge hatten, doch sie hatte diesen Gedanken rigoros verdrängt. Wenn sie den weiteren Weg ging, konnte sie etwas mehr Zeit mit dem hübschen Butler haben, auch wenn sie noch nicht wusste, was sie von ihren kindischen Überlegungen halten sollte.
»Es ist wirklich sehr schön hier«, riss Sebastian sie aus ihren Grübeleien. Er hatte das Gesicht gen Sonne erhoben. Da er hohe Temperaturen besser vertrug als sein Herr, konnte er die Vorzüge eines warmen Sommertages mehr würdigen.
»Ja. Von hier aus gelangt man zur Galoppbahn, dort hinten zwischen den Bäumen«, die junge Frau zeigte gen Norden, »und noch weiter hinten, im Wald, liegt ein kleiner See. Ohne den wäre es hier an so heißen Tagen oft nicht auszuhalten, weder für die Tiere noch für uns.«
Der Butler sah sich um. »Und wo müssen diese Pferde hier hin?«
»Am Springplatz vorbei auf die Wiese. Sie haben für heute genug gearbeitet.«
»Lady Bramlett hat ein sehr forderndes Wesen, sie will alles und am besten sofort.«
Willow schnaubte. »Das ist unverantwortlich. Jeder Pferdebesitzer weiß, dass die Tiere solche extremen Temperaturen nicht gut vertragen und diese … Person lässt sie trotzdem in der Mittagshitze vorreiten. Aber ich sollte nicht schlecht über unsere Kunden reden. Es ist nur meine Meinung.«
»Das klingt, als hätten Sie mit Mylady bereits Erfahrung?«, Sebastian lächelte.
»Sie offenbar auch.«
Die beiden lachten für eine Weile, während sie weiter dem Weg folgten und schließlich an einem Gatter ankamen, hinter dem sich eine saftige grüne Wiese erstreckte. Auch hier summte es und das Zirpen von Heuschrecken und Grillen war zu hören.
»So, Jungs«, Willow reichte Sebastian Midnights Führstrick und öffnete das Tor, »jetzt könnt ihr Feierabend machen.« Der Butler führte beide Tiere auf die weitläufige Rasenfläche und wollte sie schon loslassen, als die junge Frau zischte.
»Agh, Mist, wie konnte ich das übersehen? Sie tragen noch die Bandagen. Die muss ich abwickeln. Könnten Sie sie noch einen Moment halten?«
»Natürlich, das tue ich gern«, entgegnete Sebastian und Willow hockte sich hin, um die Stützen an den Beinen der Pferde zu entfernen.
»Die Halfter auch?«
»Nein, die bleiben bei den beiden drauf, weil daran ja der Fliegenschutz für die Augen angebracht ist. Und Midnight lässt sich manchmal etwas schwer einfangen, da ist es leichter, wenn er ein Halfter trägt.« Die Rothaarige erhob sich wieder und legte sich die Bandagen über den Arm. »Ich werde die rasch in den Stall bringen. Wenn Sie möchten, dort hinten steht eine Bank, setzen Sie sich einen Moment ...«, sie hob den Blick und sah Sebastian ins Gesicht, der sie anlächelte und nickte. Willow spürte, dass sie rot wurde und war froh, dass man es wegen der Hitze nicht erkennen konnte, da ihre Wangen vermutlich ohnehin gerötet waren.
Während der Butler auf die durch Bäume beschattete Bank zuging, eilte die junge Frau den Weg entlang zum Stall. Verstohlen drehte sie sich zwischendurch noch einmal herum und grinste.
Warum waren die persönlichen Diener ihrer anderen Einsteller und Gäste nicht solche Augenweiden? Bei all der harten Arbeit auf dem Hof war es eine willkommene Abwechslung, hin und wieder einen schönen Menschen zu Gesicht zu bekommen.
‚Lass‘ diese Gedanken!‘, schimpfte Willow sich erneut selbst. Vermutlich würde sie diesen Mann ohnehin nicht wiedersehen. Sein Herr, der rumänische Graf, war kein Einsteller des Gestüts, sondern nur ein Gast. Wie hoch war da die Wahrscheinlichkeit, dass Lady Bramlett ihn ein zweites Mal für eine Vorführung mitbrachte?
Seufzend zog die junge Frau die hintere Tür des Stalles auf, betrat das kühle Gebäude und genoss für eine Sekunde die staubige Kälte, bevor sie die Bandagen an ihren üblichen Platz legte. Sie stutzte, als sie glaubte, leise Stimmen zu hören.
Luca war doch allein in den Stall gegangen, um Klar Schiff zu machen. Sie machte ein paar Schritte und linste um die Ecke einer Box, bevor sie leise nach Luft schnappte.
Graf Draganesti hatte nicht draußen gewartet, sondern war dem Jungen offensichtlich gefolgt. Willow hatte von Anfang an das Gefühl gehabt, dass da irgendetwas im Busch war zwischen dem Transsylvanier und ihrem besten Freund, doch damit hätte sie nicht gerechnet.
Sie presste die Hand auf den Mund, als sie dabei zusah, wie die beiden sich küssten und spürte, wie eine kribblige Wärme in ihr hochstieg, als Luca die Hand des Grafen nahm und ihn in Richtung des Heulagers zog.