Sebastian verstaute den Auslösechip für den BMW in seiner Jackentasche, nachdem er dem Parkboy den Autoschlüssel übergeben hatte, und wandte sich zu dem Grafen um. Dieser stand auf der hübschen Kiesauffahrt vor dem Herrenhaus und ließ für einen Moment den Duft des Gartens auf sich wirken.
»Es scheinen bereits zahlreiche Gäste eingetroffen zu sein, mein Herr.«
»In der Tat, ich kann die Anwesenheit vieler Menschen und ihrer zu dick aufgetragenen Düfte riechen«, murmelte Viktor leise und nahm die Sonnenbrille ab.
Er wandte den Blick um und konnte durch die in vollem Laub stehenden Bäume einen blütenweißen Pavillon an der südlichen Seite des L-förmigen Gebäudes erkennen. Von dort drang ein köstlicher Duft nach Holzkohle und Grillgut zu ihm. Aus dem hübsch mit Lichterketten geschmückten Hauseingang, dessen weiße Doppeltüren geöffnet waren, roch es süß, nach Zuckerwerk, farbenfrohen Cocktails und Gebäck.
Der Vampir spürte, wie ein feines Ziehen in seinem Magen ihn förmlich ins Haus zog. Er konnte Süßigkeiten kaum widerstehen und seine Kehle war so trocken, dass sie regelrecht nach einem Drink schrie.
»Lass’ uns hineingehen und uns betrinken«, kicherte Viktor für einen Moment, hatte sich aber gleich wieder im Griff. Sebastian schmunzelte.
»Es wäre mir eine Freude, doch wie wollt Ihr nach Hause kommen, wenn ich betrunken bin?«
Der Adlige zog die Braue hoch und warf seinem Butler einen nonchalanten Blick zu. »Ich bestelle ein Taxi. Das würde ich zu gern sehen. Es muss Jahrzehnte her sein, dass du zuletzt so richtig voll warst. Ich vermisse dieses Gefühl zuweilen.«
»Ich sehe keine Veranlassung dafür, außer Ihr wollt mein alkoholschwangeres Blut verwenden, um Euch selbst zu berauschen.« Sebastian lächelte noch immer leicht.
Er wusste, dass es einem Vampir auf herkömmlichem Wege nicht möglich war, die volle Wirkung von geistigen Getränken zu erleben. Der Körper eines Unsterblichen heilte zu schnell.
»Nein. Ich trinke nicht von Teufeln«, gluckste Viktor und musste lachen, als er in das Gesicht seines Butlers sah. Sie beide wussten, dass das nicht stimmte und in der Vergangenheit häufig geschehen war.
Doch bevor Sebastian etwas Freches erwidern konnte, unterbrach sie die Stimme der Gastgeberin, die, gekleidet in ein feuriges Abendkleid, das an eine Flamenco-Tänzerin erinnerte, durch die Türen trat und auf sie zukam. Sie hatte ein strahlendes Lächeln im Gesicht, als sie ihre Hände gen Viktor ausstreckte. Sebastian bedachte sie lediglich mit einem schnellen Blick, der nur deutlich machte, dass sie seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte.
»Mein Graf, warum stehen Sie hier draußen? Kommen Sie herein, bitte. Ich freue mich, dass Sie es geschafft haben.«
»Ich habe noch einen Moment den herrlichen Duft Ihres Gartens genossen, Mylady«, entgegnete der Adlige, ergriff die Hand der Dame und versetzte ihr einen feinen Kuss.
»Oh, nun gut. Kommen Sie, ich denke, Sie werden einige bekannte Gesichter unter den Gästen vorfinden und sich sicher köstlich amüsieren.«
»Daran habe ich keinen Zweifel.« Viktor folgte Lady Amelia, doch nicht ohne Sebastian einen Blick zuzuwerfen, der ihm schmunzelnd folgte. Sicher hatte sein Herr nur wenig Lust darauf, den ganzen Abend über die englische Politik, Steuererhöhungen für Reiche, Luxussportarten oder die Wehwehchen der feinen Gesellschaft zu reden, doch er war diplomatisch so versiert, dass er selbst dann noch Interesse ausstrahlen konnte, wenn er innerlich bereits schlief.
Sebastian war froh, dass er das nicht brauchte. Wenn es ihm zu eintönig wurde, würde er sich einfach nützlich machen und dem Personal zur Hand gehen.
Im Haus setzte sich die elegante Dekoration aus winzigen Lichtern und Blumenarrangements weiter fort und es war nicht annähernd so heiß, wie der Vampir befürchtet hatte. Offenbar hatte Lady Amelia in eine Klimaanlage investiert, die verhinderte, dass es noch mehr nach Menschen roch als unbedingt nötig. Bei vielen der wohlbeleibten Herren, die sich unter den Gästen tummelten, war schon das Aftershave kaum zu ertragen.
»Bedauerlich, dass man Zurückhaltung nicht kaufen kann«, murmelte Viktor so leise, dass es nur sein Butler hören konnte. Dieser verstand, was sein Herr meinte, denn selbst er, der nicht über die Nase eines Blutsaugers verfügte, vermied es, tiefe Atemzüge zu nehmen.
Lady Bramlett geleitete den Grafen zu einer Gruppe respektabel und autoritär wirkender Gentlemen, die Viktor alle entweder aus dem Wirtschaftsteil der Zeitung oder der Politik kannte. Die meisten waren Neureiche, die durch kluge Investitionen oder eine Firmengründung ihr Vermögen erlangt hatten, andere waren Erblords aus altem Adel, denen ihre Titel und Stellungen im englischen Oberhaus des Parlaments von den Vätern hinterlassen worden waren. Und ausnahmslos alle bildeten sich unglaublich etwas darauf ein, was ihre blasierten Gesichter nur zu deutlich machten.
»Meine Herren«, wandte sich Lady Amelia an sie und deutete dann auf ihren Begleiter, »darf ich vorstellen? Graf Viktor Draganesti. Ich hatte Ihnen von ihm berichtet.«
»Ah, der berühmte Konzertpianist«, ein patent aussehender Herr mit einem gepflegten Schnauzer musterte den Adligen von oben bis unten, bevor er leicht nickte und ihm die Hand reichte. »Ich habe gehört, Sie sollen ein wahrer Meister am Flügel sein. Ich muss gestehen, ich hätte gedacht, Sie sind ... älter. Franklin Goodmorrow, sehr erfreut.«
»Das geschieht häufiger«, lächelte Viktor und ergriff die dargebotenen Finger.
»Pianist? Ich hörte, er besitzt einen Nachtclub mit zweifelhaftem Ruf?!« Ein anderer Mann, der ziemlich kurz geraten und dick war und in seinem hellbraunen Anzug wie eine kleine Leberwurst aussah, musterte ihn weniger höflich. Er machte den Eindruck, sich zwischen all den Männern, die ihn um mindestens einen Kopf überragten, unwohl zu fühlen. Wie ein kleiner Hund, der kläffte, um größere zu vertreiben.
»Zweifelhaft war er, bevor ich ihn kaufte«, entgegnete der Graf in einem höflichen Tonfall, während er den Gentleman einen Augenblick scharf ansah und dann lächelte. »Inzwischen ist es ein gepflegtes Etablissement. Ich lade Sie herzlich ein, sich selbst davon zu überzeugen, wenn Sie möchten.«
»Und wer ist das?«, schnarrte der Mann zurück, ohne auf die Worte einzugehen, »Ist es für einen Konzertpianisten und Nachtclubbesitzer nötig, einen Bodyguard dabei zu haben?« Die kleine Leberwurst, der der Schweiß auf der Stirn stand, sah an dem Adligen vorbei auf den Mann, der hinter Viktor stand und wie immer schwieg.
»Dies ist Sebastian Romanescu, mein Butler. Und ja, zeitweilig auch mein Leibwächter. Ich bin reich, mein Herr, Sie werden verstehen, dass ich mich schützen muss.« Der höfliche Ton in der Stimme des Adligen war kalt wie Eis. Dieser impertinente kleine Zwerg ging ihm auf die Nerven. Er hielt Viktor für einen überkandidelten Mafioso von zweifelhaftem Ruf? Dann würde dieser ihn auch so behandeln!
»Na, meine Herren«, lachte Lady Bramlett dazwischen und unterbrach die Blicke, die die beiden Männer einander zuwarfen, während die anderen Gentlemen um sie herum nur zusahen. Leise schnaufend wandte Viktor der Dame sein Gesicht zu.
»Meine Kehle ist von der Wärme ganz ausgetrocknet. Ist es recht, wenn ich mich rasch an der Bar erfrische?«
»Aber ja, kommen Sie, ich zeige Ihnen alles.«
»Meine Herren«, mit einer leichten Verneigung wandte sich der Graf von den Männern ab und folgte Lady Bramlett durch die Personengrüppchen, die sich bereits mit Champagnergläsern in der Hand zusammengefunden hatten.
»Verzeihen Sie Mr. Kramps Verhalten. Er reagiert immer so, wenn er auf Leute trifft, die … hm, mehr sind als er, sowohl talent- als auch größen- und vermögenstechnisch. Er ist wohl ziemlich komplexbeladen«, Lady Amelia kicherte leise.
Viktor seufzte leise. Solche Leute waren ihm noch die liebsten. Die andere dafür verantwortlich machten, dass es in ihrem Leben nicht so lief, wie sie das wollten und jeden beneideten, der etwas vorweisen konnte, ohne dabei zu sehen, dass hinter jedem großen Talent und jeder großen Errungenschaft oft jahrelange Arbeit steckte.
An der Bar, die an einer Seite des Salons neben den Türen aufgebaut worden war, die in den Garten und zu dem Pavillon führten, verabschiedete sich Lady Bramlett von dem Adligen.
»Laufen Sie mir nicht weg, ich bin bald wieder für Sie da. Ich begrüße nur schnell einige Neuankömmlinge.« Mit einem letzten Lächeln verschwand sie und Viktor ließ sich von dem Kellner Limonade für sich und Sebastian geben.
»Kaum zehn Minuten hier und schon musste ich meine Ehre verteidigen«, gluckste der Graf, trank sein Glas in wenigen Zügen leer und ließ sich gleich nachschenken.
»Gut, dass man das heute nicht mehr mit Degen und Pistole macht.«
»Da sagst du was.« Viktor ließ den Blick über die Gäste wandern und genoss den feinen Luftzug, der durch die Türen hereinkam, als er plötzlich zusammenzuckte und das Glas abstellte.
»Verdammt, das hat mir gerade noch gefehlt«, murmelte er.
_
Luca und Willow blieben in der Eingangshalle des Herrenhauses neben Alan, der den beiden vorausgeeilt war, stehen und der Blonde ließ den Blick schweifen. Geschmack hatte diese unmögliche Frau, das musste man ihr lassen.
»Hübsch hat sie es hier«, flüsterte Willow und der Jugendliche konnte die Unsicherheit in ihrer Stimme hören. Die Rothaarige wirkte im Ganzen leicht eingeschüchtert und sehr angespannt. Sie krallte ihre Nägel in den Arm ihres Freundes, was diesen nach Luft schnappen ließ, aber da er das Zittern der jungen Frau überdeutlich spüren konnte, sagte er nichts. Er wusste, dass Willow sich zwischen Menschen, wie sie hier verkehrten, nicht wirklich wohlfühlte. Luca war, von seinem Onkel und auch seinen Eltern, seit Jahren immer wieder auf solche Partys der Reichen und Schönen mitgeschleppt worden und auch wenn er nichts davon hielt, so verunsicherte diese Gesellschaftsschicht ihn nicht. Willow war jedoch nur Luca zuliebe mit zu Lady Bramletts Ball gekommen – eine seltene Ausnahme. Und auch wenn die Rothaarige auf dem Gestüt mit Oberschicht und Adel zu tun hatte, so war das hier doch eine ganz andere Sache. In Reading war sie zu Hause und das gab ihr Sicherheit.
»Ja, das hat sie«, erwiderte Luca ebenso leise und legte eine Hand auf die seiner Freundin, »entspann dich. Niemand frisst dich hier. Der muss nämlich erst an mir vorbei.«
Willow kicherte und straffte die Schultern. »Du hast ja recht. Die sind auch nix Besseres.«
»Nein, im Gegenteil, auch wenn das viele von ihnen denken. Stell sie dir einfach nackt vor.«
»Ewwww, lieber nicht.«
»Mr. Summerson. Schön, Sie hier auf meinem Anwesen begrüßen zu dürfen«, die Stimme Lady Bramletts bohrte sich unangenehm in Lucas Ohr, als diese auf ihre Gäste zugeeilt kam, um sie zu begrüßen.
»Die Freude ist ganz meinerseits.« Alan, der vollendete Gentleman, ergriff die ausgestreckte Hand der Adligen und hauchte einen Kuss darauf.
»Wie ich sehe, haben Sie Ihre Angestellten fein herausgeputzt.« Sie hielt nun auch Luca ihre Finger entgegen, der diese widerwillig ergriff.
»Mein Neffe ist mitnichten mein Angestellter, Mylady, sondern mein gleichberechtigter Geschäftspartner«, erwiderte der Gestütsbesitzer stolz, dem es langsam auf die Nerven fiel, dass Amelia Bramlett Luca behandelte, als sei er einer von Alans Stallburschen.
»Wie dem auch sei«, entgegnete die Adlige knapp und musterte Willow kurz, bevor sie sich wieder an den Gestütsbesitzer wandte: »Darf ich Sie ein wenig herumführen, Mr. Summerson? Ich bin sicher, die jungen Leute können sich auch alleine vergnügen.«
Der Angesprochene zögerte einen Moment und warf Luca einen fragenden Blick zu, der seinem Onkel kaum merklich zunickte.
»Es wäre mir ein Vergnügen.« Alan bot Lady Amelia seinen Arm an und rauschte mit ihr davon.
»Gott, wie ich diese Frau verabscheue. Sie soll an ihrem Hochmut ersticken«, knurrte Luca und sah den beiden kopfschüttelnd hinterher.
»Ach, lass sie doch. Ob du dich nun aufregst oder nicht, die ändert sich nicht«, sagte Willow schulterzuckend, »sie ist keinen weiteren Gedanken wert. Lass uns das Beste aus dem Abend machen und uns amüsieren.«
»Amüsieren«, brummte der Jugendliche und ließ den Blick über ein paar ältere Männer schweifen, die ganz in ihrer Nähe standen und Zigarren pafften, während sie Willow und ihn abschätzend musterten. Ein leises Seufzen entfuhr dem Blonden. Ja, das hier würde garantiert amüsant werden.
»Willst du das Jackett anlassen oder soll ich es zur Garderobe bringen?«
»Hm? Was?«
Willow hatte sich vom Arm ihres Freundes gelöst und sah zu ihm auf. »Na, dein Jackett. Willst du es anlassen? Obwohl es eine Klimaanlage zu geben scheint, ist es doch ziemlich stickig hier.«
»Die auch viel bringt, wenn alle Türen offen stehen«, erwiderte der Jugendliche mit einem sarkastischen Unterton in der Stimme, während er seine Anzugjacke auszog. »Wahrscheinlich hast du recht. Die Weste tut es auch. Schließlich ist Hochsommer. Wo kann man die Sachen denn lassen?« Luca ließ den Blick erneut wandern.
»Da hinten, denke ich. Ich hab gesehen, wie Leute durch eine Tür verschwunden und ohne Jacke wieder rausgekommen sind. Gib mir deine. Ich geh mal schauen.«
»Wer weiß, was die da getan haben.« Der Blonde grinste frech und zwinkerte Willow zu.
Die lachte und knuffte ihn auf den Arm. »Blödmann. Gib schon her.« Sie griff nach dem Jackett.
»Moment, ich …«, Luca nahm sein Handy und die Geldbörse aus den Taschen. Er verstaute das Mobiltelefon in der Weste und reichte seiner Freundin das Portemonnaie. »Kannst du vielleicht …?«
»Klar, ich pack‘s in meine Handtasche.« Willow nahm Geldbörse und Jackett an sich. »Warte hier, okay?«