»Ja, ich lauf nicht weg. Keine Sorge«, erwiderte Luca und sah Willow nach, als sie sich auf den Weg machte, sein Jackett abzugeben. Eigentlich hätte der Jugendliche das auch selbst getan, aber wenn seine Freundin das unbedingt für ihn machen wollte ...
Kurz darauf verschwand Willows roter Haarschopf in dem besagten Raum am Ende des Ganges und Luca wandte sich ab. Als ein junger Kellner mit einem Tablett voller Getränke an ihm vorbeikam, nahm der Jugendliche sich ein Glas Wein und seufzte. Auf was hatte er sich hier nur eingelassen. Er nippte an der roten Flüssigkeit und ging ein paar Schritte durch die Eingangshalle zu dem angrenzenden Salon. In der Türe blieb er stehen und rümpfte die Nase. Hier waren definitiv zu viele Menschen auf zu engem Raum. Die penetrante Mischung aus Parfum, Zigarrenrauch und sonstigen … Düften ließ Lucas Magen sich zusammenziehen. Luca nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas und schaute sich nach Willow um. Die sollte ihn nicht suchen müssen, wenn sie zurückkam. Aber noch war nichts von seiner Freundin zu sehen. Dafür erblickte Luca seinen Onkel bei einer gemischten Gruppe aus Männern und Frauen und er schien sich köstlich zu amüsieren.
»Na, wenigstens du hast deinen Spaß«, schmunzelte der Jugendliche und lehnte sich leicht mit der Schulter gegen den Türrahmen. Plötzlich stutzte Luca und reckte sich ein wenig, um über die Köpfe einiger Gäste, die sich just in diesem Moment vor seiner Nase platzierten, hinwegsehen zu können.
»Nein, bitte nicht«, raunte der Blonde. Sollte seine schlimmste Befürchtung für diesen Abend wirklich eingetroffen sein? Sollte er tatsächlich auch hier sein? Luca schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er sie wieder öffnete und … nichts. Er hatte eine Minute lang geglaubt, Viktor in der Nähe der Terrassentür bei der dort aufgebauten Bar gesehen zu haben.
»Lieber Himmel, jetzt halluzinierst du schon. Ist es jetzt soweit? Reiß dich mal zusammen«, knurrte Luca sich selbst an.
Das war bestimmt nur Einbildung gewesen. Graf Draganesti konnte sich schließlich nicht in Luft auflösen. Wahrscheinlich hatte der Jugendliche in seinem Wunsch, dass Viktor wirklich hier sein würde, irgendeinen anderen Mann irrtümlich für diesen gehalten. Ja, nur so konnte es sein. Luca atmete tief durch und wandte dem Salon den Rücken zu. Langsam durchquerte er die Eingangshalle wieder und warf einen Blick in den Raum auf der gegenüberliegenden Seite. Der junge Mann schaute sich flüchtig um und ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er eine Fluchtmöglichkeit für sich ausmachte. Ein Stück entfernt, rechts von der Stelle wo er stand, führte eine zweiflüglige Glastür in einen großen Garten. Wie groß, das konnte der Jugendliche zwar nicht erkennen, aber von der Dimension des ganzen Anwesens ausgehend, war er bestimmt weitläufig genug, um diesen ganzen Menschen und Gerüchen zu entfliehen.
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Viktor knurrte leise, als er den vertrauten Duft auffing und nur wenige Augenblicke später konnte er den weißblonden Haarschopf des Jungen an der Tür zum Salon erkennen. Der Adlige hätte damit gerechnet, dass Alan Summerson diese Veranstaltung besuchte, immerhin lobte Lady Bramlett seinen Hof über den grünen Klee, doch dass der Gestütsbesitzer seinen Neffen mitbrachte, der die High Society offenkundig verachtete, war eine Überraschung. Und Viktor wusste noch nicht, ob gut oder schlecht.
»Ich geh‘ hinaus«, presste er durch die Zähne hervor und Sebastian wandte den Kopf um, um herauszufinden, warum sein Herr die Flucht antrat.
»Ah«, brachte der Butler hervor, stellte sein Glas ab und folgte dem Grafen in den blühenden Garten, dessen Bäume in der rötlich-orangefarbenen Abendsonne strahlten wie Gold. »Sollen wir uns dann beim Grillmeister dort hinten etwas zum Dinner holen?«
»Ich danke dir, dass du keinen Laut über mein unreifes Verhalten verlierst, Sebastian«, murmelte Viktor, »Ich verstecke mich vor einem Jungen!«
»Es ist lustig.«
Der Adlige nickte. Ja, für jeden Außenstehenden musste es urkomisch sein, dass ein Mann seines Alters vor einem halben Kind davon lief. Obwohl der Graf aus triftigen Gründen gehandelt hatte, waren ihm diese nun, wo Luca nur einen Steinwurf von ihm entfernt war, unangenehm und nicht schwerwiegend genug. Das war absurd! Es ging alles um die Sicherheit des Jungen, doch er, Viktor, kam sich trotzdem wie ein Arschloch vor, das Luca verführt und dann fallengelassen hatte. Am liebsten hätte er es ganz anders, aber das ging eben nicht.
Unter dem hübschen weißen Pavillon, der mit hunderten von feinen Feenlichtern und Blumenranken geschmückt war, tummelten sich an eleganten kleinen Tischen weitere Gäste der Lady, denen es im Haus zu heiß gewesen war und die sich lieber an den köstlichen Düften des Gartens und des Essens erfreuen wollten. Es wurde sich unterhalten, fröhliches Gelächter war zu hören, dezent untermalt von klassischer Musik und dem zufriedenen Geräusch von Menschen, denen das dargebotene Festmahl schmeckte.
»Wollt Ihr etwas vom Grill, mein Herr? Oder soll ich Euch vom Buffet einen Teller zurechtmachen?«
»Ich will einen Schnaps«, murrte Viktor nur und zupfte sich am Kragen seines Hemdes. Unwirsch öffnete er den Knopf seines leichten Jacketts und zog es aus. »Tust du mir den Gefallen und würdest es drinnen an der Garderobe abgeben? Zum Wagen bringen geht ja leider nicht. Da bist du ja eine Stunde verschwunden.«
Sebastian nahm die Seidenjacke und schmunzelte. Sein Herr übertrieb immer, wenn er sich über irgendetwas ärgerte. »Kann ich Euch denn einen Moment allein lassen?« Die Lippen des Butlers kräuselten sich spöttisch und lächelten schließlich, als der Graf ihm einen ungläubigen Blick zuwarf.
»Du solltest aufhören, dir immer so viele Sorgen um mich zu machen, Sebastian.«
»Das ist mein Beruf«, entgegnete dieser prompt, verneigte sich leicht und machte kehrt, um über den feinen Kiesweg in das Herrenhaus zurückzukehren. Dem Butler war so, dass er ein Garderobenzimmer gesehen hatte, als sie in die Eingangshalle gekommen waren und bevor Lady Bramlett Viktor in diesen überfüllten und nach Menschen riechenden Salon geführt hatte.
Im Entree des Hauses hatten sich ebenfalls Gäste versammelt. Den, vor dem sein Herr geflohen war, konnte Sebastian jedoch nicht entdecken und auch dessen Onkel nicht. Der Butler glaubte kaum, dass der junge Mann allein hier war – nicht bei der eher geringen Meinung, die er von Lady Bramlett zu haben schien. Sebastian kam es oft so vor, als würde niemand diese Frau wirklich mögen. Selbst sein Herr, der eine gewisse Sympathie für sie hegte, verurteilte ihre herablassende Art oft auf das Schärfste und war sich nicht zu fein, ihr seine Bedenken hin und wieder auch ins Gesicht zu sagen. Sie musste in der Tat fürchterlich verliebt in Graf Viktor sein, um ihm das nicht übelzunehmen. Doch nicht genug, um ihr Verhalten zu ändern und etwas Bescheidenheit zu lernen. Der Butler seufzte innerlich und zuckte fast unmerklich mit den Schultern. Was interessierte es ihn, was diese Frau machte. Sie würde noch tausend Jahre leben können und dennoch nie die Gattin seines Herrn werden.
Sich höflich durch einige der umstehenden Menschen hindurchschlängelnd, hielt Sebastian schließlich ein Dienstmädchen an, das eines dieser albernen Kostümchen trug und sogar ein Häubchen auf dem Kopf hatte. So etwas hatte der Butler bestimmt seit einhundert Jahren nicht mehr gesehen und so musterte er es einen Moment, bevor er den Mund aufbekam.
»Verzeihung, können Sie mir sagen, ob es eine Garderobe gibt, wo ich die Jacke abgeben kann?«
Die junge Frau musterte ihn und seine Uniform. Sie brauchte einen Moment, um Sebastian als einen Diener zu erkennen und lächelte dann. Offenbar hatte sie für einen kurzen Augenblick befürchtet, er wäre einer der herrschaftlichen Gäste und würde sie belästigen wollen, wie viele der vornehmen Herren es gern taten, wenn sie zu viel getrunken hatten.
»Ah, ja, dort hinten, wenn Sie den Korridor ein paar Schritte hineingehen. Passen Sie auf, dass Sie die Wertsachen aus den Taschen nehmen. Wenn etwas wegkommt, wird Lady Bramlett uns die Schuld dafür geben.« Sie machte einen Knicks, als Sebastian sich bedankte, und eilte davon.
In Myladys Haus herrschte offenbar ein vertrauensvolles Arbeitsklima. Der Butler schüttelte leicht den Kopf und betrat den angegebenen Flur, in dem sich gerade eine Tür öffnete, die ein angebrachtes Schild als Garderobe auswies. Vermutlich war es nur ein großer Wandschrank.
Sebastian hielt an, um die austretende Person vorbeizulassen, doch diese hatte das Gesicht noch dem Dienstmädchen zugewandt, das die Sachen entgegennahm, und bemerkte ihn nicht. Bevor der Butler Platz machen konnte, hatte die junge Frau einen schnellen Schritt in den Gang gemacht und war mitten in ihn hineingelaufen. Ihr Fuß kam auf seinem Schuh zum Stehen und erschrocken quietschte sie auf, bevor sie einen Satz zurück machte und – stammelnd um Entschuldigung bittend – zu ihm aufsah.
»Sie?!«, stieß sie hervor, bevor sie rot anlief.
»Miss Bennett.«
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Währenddessen wurde Luca langsam unruhig. Er hatte seit dem Treffen mit Viktor auf dem Gestüt eine sehr dünne Haut und war schnell gereizt und ungeduldig. Eigentlich war das gar nicht seine Art, aber seine Nerven waren fein wie Spinnweben. Er reckte sich ein Stück und schaute den Gang hinunter, konnte aber Willow nirgendwo sehen. Unschlüssig überlegte Luca einen Moment, bevor er sich schließlich in Bewegung setzte. Der Jugendliche wollte nur noch nach draußen und seine Freundin würde ihn schon finden. Da er aber keine Lust auf den Trubel an dem großen Partypavillon hatte und auch noch keinen wirklichen Hunger verspürte, wandte er sich in die entgegengesetzte Richtung. Luca huschte durch den Raum, welcher das Wohnzimmer der Lady zu sein schien, in dem er vorher schon die Terrassentüre als eventuelle Fluchtmöglichkeit ins Visier genommen hatte. Diese führte in den hinteren Teil des Anwesens. Luca trat hinaus auf die Veranda, wo sich auch andere vereinzelte Gäste eingefunden hatten. Dort blieb er stehen, atmete die frische Luft tief ein und nippte an seinem Weinglas, während er sich umschaute. In nicht allzu weiter Entfernung konnte Luca einen kleinen Pavillon ausmachen, der an einem Gewässer stand, auf dessen Oberfläche sich das Licht der abendlichen Sonne widerspiegelte. In der Hoffnung, dort vielleicht ein wenig Ruhe zu finden, betrat der Jugendliche den gepflegten Rasen und machte sich langsam auf den Weg dorthin.
Eine kleine Holzbrücke führte auf eine Insel inmitten des Teiches, auf der die Gartenlaube stand, und Luca hielt einen Moment inne. Der Jugendliche war sich nicht sicher, ob nicht gerade dieses hübsche Gebäude irgendwann Gäste anziehen würde. Also sah er sich weiter um und bemerkte auf der anderen Seite des Gewässers, direkt an der Umzäunung des Gartens, eine weißlackierte Bank stehen. Diese war zum Teil durch die Büsche und kleinen Bäume rund um den Teich verdeckt und nicht auf den ersten Blick auszumachen.
»Perfekt«, murmelte Luca und setzte sich wieder in Bewegung, um das Gewässer zu umrunden.
An der Bank angekommen ließ der Jugendliche sich auf dieser nieder. Ja, hier war er weit genug weg von den anderen Gästen, von den zum Teil unangenehmen Gerüchen und dem Lärm, den die Mischung aus Stimmen, Gelächter und klassischer Musik verursachte. Luca hatte eigentlich nichts gegen Geige, Klavier und Co., aber im Augenblick triggerte es ihn einfach nur. Was an der Mischung der ganzen Geräusche liegen mochte. Jedenfalls war es hier hinten wesentlich erträglicher. Seufzend legte Luca den Kopf in den Nacken und schloss die Augen.
»Wäre ich doch nur nicht hierhergekommen.«
»Dasselbe habe ich für mich auch gedacht. Aber da müssen wir jetzt wohl durch.«
Der Jugendliche zuckte leicht zusammen und öffnete die Augen. Ein leises, gequältes Stöhnen kam über seine Lippen, als er sein Gegenüber erkannte, das wie aus dem Nichts vor ihm aufgetaucht war.
»Hab ich das vorhin doch richtig gesehen. Ich wusste, dass ich keine Hallus habe. Was willst du hier?« Der Jugendliche sah in Viktors braune Augen, die ihn amüsiert musterten.
»Nun, Lady Bramlett hat mich eingeladen«, erwiderte der Adlige schmunzelnd und deutete auf die Bank, »hast du etwas dagegen, wenn ich …?«
Luca zögerte einen Moment, bevor er mit den Schultern zuckte. »Wenn's denn sein muss. Ich kann es dir nicht verbieten. Und dass sie dich eingeladen hat, ist mir klar. Was willst du hier? Bei mir?« Er musterte den Grafen, der neben ihm Platz nahm und die langen Beine ausstreckte.
»Hier hinten ist es so friedlich und ruhig. Mich hat der Krach genervt. Aber ich kann auch woanders hingehen.«
»Nein, nicht nötig. Bleib«, erwiderte Luca und bereute es in derselben Sekunde. Was zum Teufel tat er da? Viktor war der letzte Mensch, den er jetzt um sich haben wollte. Seufzend wandte er den Blick wieder gen Himmel.
»Du hast es echt schwer, hm?«
»Was geht's dich an?«, knurrte der junge Mann, »Es war dir die letzten drei Wochen egal, wie es mir geht, dann brauchst du jetzt auch kein Interesse zu heucheln. Nur, weil wir zufällig beide auf diesem beschissenen Ball sind. Ich kann dir nicht verbieten, hier zu sitzen, aber ansonsten … lass mich einfach in Ruhe.«
Viktor zog eine Augenbraue hoch und ließ den Blick über Luca wandern, der die Lider wieder geschlossen und die Lippen fest zusammengepresst hatte. Mit einer Hand umklammerte er das Weinglas, während er die andere zwischen sich und dem Adligen auf die Sitzfläche der Bank gelegt hatte.
»Luca, bitte. Ich habe es dir schon in Reading versucht zu erklären. Ich kann nicht …«, setzte Viktor an, sich zu rechtfertigen, obwohl er wusste, dass er das eigentlich nicht brauchte. Trotzdem hatte er das Bedürfnis, es zu tun.
Doch Luca ließ ihn nicht ausreden. Der junge Mann öffnete die Augen, wandte dem Adligen den Blick zu und funkelte ihn an. »Spar es dir einfach, okay?! Dein Ich-will-dich-nur-beschützen-Gerede. Ich brauche niemanden, der mich vor der ach so bösen Welt und ihren Monstern beschützt, klar?! Und vor allem brauche ich niemanden, der mich für sein Vergnügen benutzt und dann fallen lässt. Immer wieder. Ich will jemanden, der zu mir hält, für mich da ist. Und der bist du offensichtlich nicht. Also tu uns beiden den Gefallen und geh einfach. Mach diesen Scheiß-Tag nicht noch schlimmer, als er ohnehin schon ist.«
Viktor musterte den aufgebrachten Jugendlichen einen Moment. Mit so einer heftigen Reaktion hatte der Vampir nicht gerechnet. Aber Luca hatte recht.
Langsam erhob der Adlige sich und sagte leise: »Ganz wie du willst.«