»Ich vermute, zu trinken darf es etwas Alkoholfreies sein?« Der Butler musterte die junge Frau, die interessiert die Teller betrachtete, die er gebracht hatte. Darauf befanden sich niedliche Würstchen im Schlafrock, hübsch angerichtetes Gemüse, kleine Fleischhäppchen, Kartoffelröschen und Steakmedaillons vom Grill.
»Wie bitte?«, Willow war ganz abgelenkt gewesen, denn sie spürte erst jetzt, wie hungrig sie war.
»Darf es ein Punsch sein oder vielleicht lieber ein Kaffee?«, lächelte Sebastian.
»Oh, nein, bitte, keine Umstände. Ich bin nicht durstig. Wollen wir dann?«
Die junge Frau griff nach dem Besteck und grinste wie ein Kobold, als sie sich bediente. Der Butler merkte kaum, dass er ihr sicher einige Minuten zugesehen hatte, bis sie den Kopf hob und ihn ansah.
»Ist etwas? Habe ich was im Gesicht?«
Sebastian zuckte leicht mit der Augenbraue und verneinte leise. »Verzeihung, mir ist, als hätte ich seit einer Ewigkeit keine Frau mehr essen sehen.«
Willow lächelte und leckte sich etwas Soße vom Daumen. »Dann kommen Sie nicht oft raus, oder?«
»Nein, in der Tat.«
»Verbringen Sie Ihre Freizeit nur mit Kochen? Gehen Sie nie aus? Sie wissen schon, haben Verabredungen und so?«
»Nein«, entgegnete der Butler und schnitt sich ein Steak klein. »Ich tue mich schwer mit diesen alltäglichen Dingen. Wie eben eine Frau ... zu einem Date zu bitten. Ich habe auch kaum Gelegenheit, jemanden kennenzulernen, der in mir nicht nur den Butler eines reichen Mannes sehen. Das ist vielleicht der Nachteil an meinem Beruf.«
»Sie hängen zu viel in den falschen Kreisen herum«, antwortete die Rothaarige salopp und zwinkerte ihm zu, worauf Sebastian lachte.
»Mein Herr denkt das auch oft.«
»Warum tut er es dann? Und bringt gleichzeitig auch Sie dazu, obwohl diese Leute«, Willow sah sich verstohlen um, »Sie wie ein Möbelstück behandeln?«
»So sind eben die gesellschaftlichen Regeln. Mein Herr ist ein Geschäftsmann, er muss diese Kontakte pflegen«, antwortete der Butler sehr leise.
»Sind wohl solche Verpflichtungen, um die man nicht herum kommt, hm?«
»Genau. Ähnlich wie der Umgang mit schwierigen Pferdebesitzern.«
Sie lächelten einander an, ein stummes Einverständnis lag zwischen ihnen, das keiner weiteren Worte bedurfte.
»Puh, das war unglaublich«, nuschelte Willow nach einer Weile und wischte den Teller mit einem Stück Brot ab. »Ich bin fünf Kilo schwerer.«
Sebastian musterte sie offen, fast schon frech, und schüttelte dann den Kopf. »Schadet Ihnen nicht, Miss Bennett.«
Sie errötete leicht und schob sich eine verirrte Strähne hinter das Ohr. Allmählich ließ die zementstarke Wirkung des Haarsprays nach und ihr aufwändiges Styling verlor etwas die Fassung. Doch wirklich kümmern tat es sie nicht. Inzwischen fingen die Spangen und Nadeln in ihrer Frisur nämlich auch an, wehzutun und sie hätte sie gern herausgenommen.
Sebastian zog eine kleine Taschenuhr aus seiner Westentasche, was Willow schmunzeln ließ. Es hätte sie auch gewundert, wenn er einfach eine am Handgelenk tragen würde. Dieser Mann war so eine wunderbare Mischung aus Moderne und Vergangenheit, die es ihr nur noch schwerer machte, ihre Faszination zu verbergen.
»Was machen wir mit dem angebrochenen Abend? Irgendetwas sagt mir, dass ich meinen Herrn so schnell nicht wiedersehe ...«
Der Butler lehnte sich zurück und schürzte die Lippen. Sie waren voll und sinnlich und die junge Frau musste den Blick abwenden.
»Es scheint Sie nicht ... nicht zu überraschen, dass der Graf sich mit Luca ... also ...«
»Bitte?«, Sebastian lächelte milde.
»Na ja, also ... Luca ... na, der ... also ...«
»Der mag Männer, das habe ich schon gemerkt. Und?«
»Hm, ich schätze, dass es mich nichts angeht, was mit ihm und dem Grafen ist ...«
»Nein. Uns beide nicht.«
Willow kaute leicht auf ihrer Lippe herum. Es war bestimmt schwierig für jemanden wie Viktor Draganesti, der durch seinen Adelsstand und sein Vermögen so in der Öffentlichkeit der Londoner High Society stand, sein Liebesleben unter Verschluss zu halten. Auch wenn die junge Frau meinte, dass es in der heutigen Zeit auch einem Grafen gestattet sein sollte, seine Sexualität offen zu leben, verstand sie es, dass er das offenbar nicht tat. Doch dass er auf einer Welle mit Luca schwamm, oder es zumindest den Anschein machte, hatten ihr dessen Erzählungen über sein Abenteuer mit dem Transsylvanier bestätigt, ebenso wie das, was sie am Tag des Besuches im Stall gesehen hatte.
»Aber ist er es denn?«, fragte sie den Butler trotzdem.
»Was ist er?«
»Na ...«, sie schaute sich um und flüsterte, »schwul halt? Oder nur … vielseitig interessiert?«
Sebastian lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich werde darüber nicht reden, Miss Bennett.«
»Ja, natürlich. Entschuldigen Sie. Ich bin manchmal so furchtbar neugierig, es tut mir leid. Ich muss zugeben, dass ich das aufregend finde.«
»Das scheint vielen Frauen so zu gehen, nachdem, was man manchmal so im Internet zu lesen bekommt über Männerpaare.«
Willow lief rot an. Dachte er etwa, sie würde diesen unanständigen erotischen Kram lesen? Oh Mann. Nervös auflachend nestelte sie an ihrem Kleid.
»Das muss Ihnen nicht peinlich sein«, grinste Sebastian leicht und die Rothaarige schüttelte den Kopf.
»Oh, verstehen Sie das nicht falsch. Ich gehöre nicht zu diesen Frauen, die ... na, die ganz unruhig werden, wenn sie sich so etwas vorstellen. Ich träume mich nicht in die Schlafzimmer anderer Leute.«
Der Butler lachte. »Ich würde schon gern manchmal Mäuschen spielen. Natürlich nicht bei einer solchen Gelegenheit, aber so ganz allgemein. Neugier ist wirklich keine Tugend.«
»Manche würden das anders sehen«, schmunzelte Willow und stutzte, als Sebastian sich herumdrehte und zum Haus hinüber sah. Er warf erneut einen Blick auf die Uhr.
»Ist etwas?«
»Sagen Sie, Miss, Sie tragen das Kleid doch sicher nicht nur, um damit herumzusitzen, oder?«
Die Rothaarige sah auf sich herunter und spürte Wärme in ihren Wangen. »Na ja, ich konnte ja nicht in einem Kartoffelsack auf eine Schiki... äh, High Society-Party kommen, also ...«
»Dann ... erweisen Sie mir die Ehre? Man hat drüben soeben zum Tanz aufgespielt und ein Kleid wie das Ihre gehört auf eine Tanzfläche.«
»Oh«, Willow errötete leicht und lächelte. Es war noch nie vorgekommen, dass ein Mann sie derartig charmant aufgefordert hatte, selbst bei den wenigen Gelegenheiten, die sie mit Luca feiern gewesen war, nicht. Wenn sich ihr mal jemand genähert hatte, dann auf diese plumpe Antanz-Masche, wo die Finger schnell zu wandern begannen und man sie mit Nachdruck wegschieben musste. Die junge Frau hatte immer gedacht, so eine höfliche Aufforderung wäre inzwischen ausgestorben und normale Typen würden das nicht mehr tun. Aber Sebastian war nicht wie andere Männer, das musste sie allmählich einsehen.
Sie reichte ihm die Hand und nickte. »Ja, sehr gern.«
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Während Sebastian Willow auf die Tanzfläche führte, zu der Lady Bramlett einen Teil ihres Wohnzimmers auserkoren hatte und wo, durch die geöffnete Doppelflügeltür zur Terrasse, ein angenehmes Klima herrschte, hatte Luca sich in dem Teehaus aus Viktors Arm gelöst und war aufgestanden.
Der Jugendliche fummelte einen Kaugummi aus seiner Hosentasche und schob ihn sich in den Mund, um den mehr als widerlichen Geschmack loszuwerden. Zum Glück hatte der Blonde sich zu Hause ein Päckchen der Pfefferminzstreifen eingesteckt, denn er hasste es, wenn sein Atem nach dem Rauchen nach Zigaretten roch. Und überhaupt, Kaugummis waren einfach ein Muss für Luca.
Es war eine, in diesem Fall sehr praktische Angewohnheit des jungen Mannes, die seinen Onkel oft schon genervt die Augen hatte verdrehen lassen. Luca lehnte sich mit dem Rücken an das Geländer des Teiches und musterte Viktor, der immer noch auf der Bank saß.
»Geht es dir wieder besser?«, fragte der jetzt leise und beobachtete den Jugendlichen genauestens.
Luca nickte. »Ich würde sagen, ja. Zumindest ist mir nicht mehr schlecht und der Schwindel ist auch so gut wie weg. Ich weiß gar nicht … es war doch nur eine Flasche Wein. Da ist doch eigentlich nicht viel hinter. Wäre es Whisky gewesen oder so … dann könnte ich es ja verstehen. Wie kann man von so einem Bisschen so dermaßen besoffen werden, dass einem so schlecht wird, dass man ...« Der Jugendliche spürte, wie ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Es war dem Blonden mehr als peinlich, was er Viktor zugemutet hatte, nur weil er, Luca, sich nicht hatte zusammenreißen können. Die Sache mit dem Erbrechen in den Teich hätte er zumindest gerne ungeschehen gemacht. Nicht aber die Ohrfeige, denn die hatte der Adlige sich verdient gehabt.
Schmunzelnd erhob Viktor sich, ging hinüber zu dem Jugendlichen und blieb vor ihm stehen.
»Na ja, wenn du kaum etwas gegessen hast, dann können dich auch Getränke mit nur einem geringen Prozentsatz an Alkohol aus den Schuhen hauen. Und ich nehme an, du hast heute noch nichts Ordentliches gegessen, richtig?«
Aufmerksam musterte er Luca. Der nickte und wandte sich dann ab. Er ließ den Blick über den Garten hinüber zum Herrenhaus wandern, während er Viktors Frage beantwortete: »Ja … Na ja, ich hatte tatsächlich nur ‘ne Kleinigkeit zum Frühstück um sieben und seitdem nichts mehr. Ich hatte halt keinen Hunger und hab auch nicht wirklich darüber nachgedacht, ob das irgendwelche Auswirkungen haben könnte.«
»Und warum hast du das hier nicht wenigstens nachgeholt, bevor du dir den Wein reingezogen hast? Ist ja schließlich nicht so, als gäbe es nichts zu essen.« Viktors Blick wanderte über den Anderen, der sich nun langsam wieder dem Adligen zuwandte.
»Ganz ehrlich? Das wollte ich, aber dann hab ich dich gesehen, beziehungsweise glaubte, dich gesehen zu haben, und da hatte ich anderes im Kopf.«
»Ah ja? Und was? Zu überlegen, wie du mir am Besten eine runterhauen kannst?«
Einen Moment sah Luca sein Gegenüber schweigend an, dann rieb er sich sichtlich verlegen den Nacken und grinste schief. »Nein, natürlich nicht. Und wie ich schon sagte, es tut mir unendlich leid. Ich wollte ...« Lucas Stimme wurde leise. »… eigentlich nur weg. Ich wollte alles, nur nicht ausgerechnet dich sehen. Ich konnte es nicht … Nach unseren letzten beiden Treffen ging es mir mies genug. Davon brauche ich keine Wiederholung.«
Der Jugendliche suchte nach Worten. Einerseits wollte er Viktor seine Gefühle nicht einfach so vor die Füße werfen, andererseits sollte der ruhig wissen, wie scheiße es dem Jugendlichen gegangen war.
»Ich weiß«, erwiderte der Unsterbliche, der den inneren Zwist des Jungen förmlich spüren konnte, schmunzelnd und zog den jungen Mann in seine Arme. »Glaub nicht, ich wüsste nicht, wie du dich gefühlt hast. Denn wenn ich ehrlich bin, auch ich habe die Flucht ergriffen. Zuerst ...«
Luca lauschte mit geschlossenen Augen den Worten des Anderen, während er den Kopf an Viktors Schulter legte, der ihm sanft über den Rücken streichelte und dessen Duft der blonde Jugendliche mit einem leisen Seufzen tief in sich aufsog. Innerlich musste er, trotz allem Chaos, das in ihm tobte, lachen. Da liefen sie doch tatsächlich voreinander weg und jetzt standen sie hier, in inniger Umarmung. Irgendwie waren sie schon beide ziemliche Idioten.
»Ich denke, wir bleiben jetzt noch einen Moment hier, dann gehe ich Sebastian suchen und wir verschwinden. Wir hatten alle genug Aufregung für einen Tag. Was meinst du?«
Der Jugendliche sah kurz zu Viktor hoch und nickte. »Ja, das kannst du laut sagen. Aber Willow muss auch mit. Alan muss Bescheid wissen und wir … wir müssen nach London. Und …«
Doch der Adlige legte ihm einen Finger auf die Lippen und lachte leise. »Sscht! Eins nach dem anderen.«
Eine ganze Weile verharrten sie noch so da, reglos, ohne ein Wort, bevor ein Ruck durch Luca ging. Vom Herrenhaus schallte immer noch Musik herüber. Aber es war nicht dieselbe, die schon den ganzen Abend mehr oder weniger dezent zu hören gewesen war. Diesmal waren es Walzerklänge, die sich ihren Weg über die Wiese zu dem kleinen Teehaus suchten und in dem Jugendlichen wurde ein Wunsch immer stärker. Langsam löste er sich aus den Armen des Adligen und trat einen Schritt zurück. Mit einem Grinsen auf den Lippen hielt er Viktor seine Hand hin und fragte leise: »Darf ich Euch um diesen Tanz bitten, Graf Draganesti?«
Für den Bruchteil einer Sekunde schien der Unsterbliche zu zögern. Luca hatte ihn völlig überrumpelt. Er hatte mit vielem gerechnet, aber nicht mit einer Aufforderung zum Tanz. Doch der Adlige fing sich fast augenblicklich wieder. Er ergriff die Finger des Jüngeren mit einem sanften Lächeln und schnurrte: »Es ist mir eine Ehre. Ich hatte keine Ahnung, dass du ...«
»Dass ich tanzen kann?«, unterbrach Luca ihn und als Viktor nickte, fuhr er fort, »Willow hat es mir beigebracht. Keine Ahnung, warum sie auf einmal dachte, ich sollte es können. Aber jetzt bin ich ihr dankbar dafür.«
»Ich auch«, erwiderte der Unsterbliche, zog den Jugendlichen sanft an sich und platzierte die freie Hand auf dessen Rücken.