Luca schmiegte sich eng an Viktor. Eigentlich viel zu eng für einen Walzer, aber das war dem Jugendlichen egal. Er wollte den Adligen spüren, während der ihn über ihre eigene kleine Tanzfläche führte.
»Du weißt schon, dass man Walzer eigentlich anders tanzt?«, hauchte Viktor ihm nach einer Weile ins Ohr.
»Na klar, aber wen interessiert das? Wir sind hier alleine und mir gefällt es, so mit dir zu tanzen. Dir nicht?«
»Doch, natürlich. Das wäre drinnen unter den Augen von Lady Bramlett und den ganzen Anderen gar nicht möglich. Aber das weißt du ja.«
»Warum eigentlich nicht?«, fragte Luca leise, »Eigentlich sollte doch auch die Oberschicht und der Adel heutzutage so weit sein, Homosexuelle in ihren Reihen akzeptieren zu können.«
Viktor räusperte sich und überlegte einen Augenblick, wie er es dem Jungen am besten erklären konnte, entschied sich dann für den einfachen und direkten Weg. »Ich denke, das würde wahrscheinlich in den meisten Fällen auch so sein. Allerdings lasse ich nicht gerne allzu tiefe Einblicke in mein Privatleben zu, denn das gehört mir und niemandem sonst. Dazu kommt natürlich, dass ich Geschäftsmann und auch Musiker bin und nicht möchte, dass man über mich und meinen Partner tratscht. Und das, glaub mir, würden sie – die sogenannte feine Gesellschaft. Offenheit und Toleranz hin oder her. Es wäre ein gefundenes Fressen und ich bin nicht scharf auf einen Spießrutenlauf.«
»Hmm, okay, das kann ich schon verstehen. Aber willst du deinen Partner immer vor der Öffentlichkeit verstecken?«
»Darüber habe ich mir, ehrlich gesagt, noch nie groß Gedanken gemacht und ich möchte das im Moment auch nicht tun. Ich würde einfach gerne diesen Abend genießen, mit dir, ohne mir den Kopf über solch unangenehme Dinge zerbrechen zu müssen. Oder ist es für dich gerade wichtig?« Der Atem des Unsterblichen kitzelte an Lucas Hals und dieser konnte nicht anders, als zu kichern.
Doch dann riss er sich zusammen und erwiderte: »Nein. Es waren nur Gedanken, die mir durch mein wieder halbwegs nüchternes Hirn gingen. Du hast recht. Ich hab schon genug von diesem Abend versaut. Lass uns den Rest genießen.«
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Währenddessen ließ sich Willow von Sebastian ins Haus geleiten und eine kribbelige Unruhe erfasste sie, als sie die bereits tanzenden Paare sah. Sie hätte nicht gedacht, dass es auf High Society-Partys wirklich so zuging. Es fehlten nur noch die rauschenden Gewänder und sie würde sich fühlen wie zu Zeiten Königin Viktorias. Die junge Frau lächelte, als der hochgewachsene Butler sie durch den Salon führte, in dem es ziemlich voll war, durch die Eingangshalle und sich ihr anschließend in einem zweiten großen Raum, in dem man die Möbel ebenfalls etwas an die Seite gerückt hatte, zuwandte. Ein feiner Lufthauch drang aus dem Garten in das Zimmer, in dem das Licht gedimmt war, und es duftete nach den blühenden Gewächsen und unterschwellig auch etwas nach Wasser. Es gab bestimmt einen Teich draußen, dessen Geruch der zarte Abendwind nun ins Haus trug.
»Darf ich bitten, Miss Bennett?«, fragte Sebastian erneut und lächelte, als er ihr die Hand hinhielt und sich leicht verbeugte.
Willow, die dankbar für die nur schwache Beleuchtung war, nickte, ergriff die dargebotenen Finger und ließ es zu, dass der Mann seine Hand auf ihren Rücken legte, bevor sie sich zum Klang der mitreißenden und eleganten Ballroommusik zu bewegen begannen.
»Also, Sebastian ... es tut mir leid, ist es eigentlich okay, wenn ich Sie beim Vornamen nenne? Irgendwie tun das alle und ... ich fürchte, Ihr Nachname ist mir entfallen.«
Der Butler lächelte. »Das ist vollkommen in Ordnung, niemand nennt mich Mr. Romanescu, müssen Sie wissen.«
»Romanescu ... bedeutet das nicht ‘Sohn des Roman’? Ich glaube, da mal etwas gelesen zu haben.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Sebastian und vollführte eine elegante Drehung, die Willows Kleid anmutig schwingen ließ. »Doch heute ist das nicht mehr so wörtlich zu verstehen. Mein Vater hieß Vasili.«
»Hieß?«
»Ja, meine Eltern sind bereits tot. Allerdings«, der Mann lachte leise, »ist es ein lustiger Zufall, dass mein Lehrvater bei der Familie Draganesti tatsächlich Roman hieß.«
Willow lachte auf. »Wie ist das, mit sechzehn als Diener in den Dienst einer Adelsfamilie zu treten? Ich kann mir das wirklich nicht vorstellen, in der heutigen Zeit. Luca und ich waren in dem Alter ... unzurechnungsfähig«, die Rothaarige kicherte. »Uns hätte keiner als Diener genommen.«
»Es ging nicht anders. Ich verlor’ meine Eltern und musste irgendwohin. Um nichts in der Welt wäre ich in ein Waisenhaus gegangen, die haben in Rumänien nicht unbedingt den besten Ruf, müssen Sie wissen.«
Die junge Frau sah zu ihm auf, musterte ihn einen Moment und schürzte die Lippen. Der Butler erzählte ihr ganz ungerührt vom Tod seiner Familie und zeigte kaum eine Regung, während sie, wenn sie nur daran dachte, was einst mit ihren Eltern geschehen war, schwer schlucken musste. Bei ihm konnte seither unmöglich mehr Zeit vergangen sein als bei ihr. War sie zu emotional oder er zu rational?
»Vermissen Sie Ihre Familie?«
»Nein.«
»Aber ...«
»Sie müssen wissen, Miss Bennett, mein Vater hat mich nie akzeptiert. Er dachte bis zum Schluss, ich wäre ein Bastard. Er hasste mich jeden Tag meines Lebens, weil ich nicht war wie er, nicht aussah wie er, einfach in jeder Hinsicht anders war. Meine Mutter war nicht weniger ... abweisend. Wissen Sie, ich glaube inzwischen, dass ich der Grund dafür war, dass sie heiraten mussten. Ich komme vom Land, wie ich Ihnen erzählt hatte, und dort ist es in Rumänien noch heute verpönt, unehelich schwanger zu werden. Als meine Eltern starben ... ich weiß nicht, es änderte für mich nichts. Ich war betrübt, es wäre gelogen, wenn ich etwas anderes sagen würde, doch es wurde dadurch nicht schlimmer. Ich kannte so etwas wie die Sicherheit eines Zuhauses nicht, denn ich war in meinem nie willkommen.«
»Das tut mir leid. Ist bestimmt nicht schön, so aufzuwachsen.«
»Wahrscheinlich nicht. Aber mein Leben änderte sich zum Besseren, als ich zum Grafen und seiner Frau kam. Mein Lehrvater Roman ersetzte mir den Vater, den ich nie wirklich hatte und lehrte mich alles, was ich heute kann.«
»Unter anderem Ihr ausgezeichnetes Englisch? Hätten Sie keinen Akzent, würde man denken, Sie sind von hier.«
»Nein, das eher nicht, das ergab sich irgendwann einfach, weil mein Herr das Reisen liebt.« Sebastian lachte leise.
Sie schwiegen eine Weile, lauschten nur auf die Musik und ihre Bewegung durch den Raum, sorgfältig darauf achtend, nicht mit den anderen Tanzpaaren zusammenzustoßen, die sich ihnen angeschlossen hatten, zweifellos, um den milden Luftzug zu genießen, der das Zimmer angenehm erfrischte.
Willow lächelte. Es war lange her, dass sie zuletzt richtig hatte tanzen können. Sie hatte Luca zwar Walzer beigebracht, jedoch ruinierte es etwas die Stimmung, wenn man immer wieder auf die Füße getreten wurde. Sebastian tat das nicht, er war geschmeidig und leichtfüßig wie eine Katze. Oder ein eleganter schwarzer Vogel. Wären sie auf einem Maskenball, würde der Butler sein Gesicht sicher hinter einem Rabenschnabel verbergen.
Sie kicherte leise und Sebastian machte ein fragendes Geräusch.
»Schon gut, ich hab nur etwas Albernes gedacht, lassen Sie sich von mir nicht stören.« Sie lehnte ihre Wange leicht an das Revers seines Jacketts und schloss die Augen.
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Drüben am Teich führte der Adlige Luca derweil immer noch durch den, von ihnen zur Tanzfläche zweckentfremdeten, kleinen Pavillon. Vom Haus her hallte die Musik weiterhin leise zu ihnen herüber, aber die Bewegungen der beiden waren viel langsamer, als sie eigentlich hätten sein müssen.
Viktor schmunzelte, denn Lucas schlanker Körper schmiegte sich so eng an seinen, dass kein Blatt Papier dazwischen gepasst hätte, und das verfehlte seine Wirkung auf den Unsterblichen nicht. Wie konnte es auch? Die Wärme, die von dem blonden Jugendlichen ausging, und sein überaus betörender Duft machten es Viktor schwer, sich zu beherrschen. In jeder Hinsicht.
Der Unsterbliche genoss die Zweisamkeit, ihre Intimität, mehr, als er es sich eigentlich unter den gegebenen Umständen hätte erlauben dürfen. Den Jungen so nah zu haben, so intensiv zu spüren, wo der sich doch vor kurzem noch vehement gegen ihn,Viktor, zur Wehr gesetzt hatte, das war für den Vampir nicht mehr vorstellbar gewesen. Jede Möglichkeit, ihm näherzukommen, hatte Luca dem Adligen verwehrt, ihn ja sogar physisch angegriffen. Und der Jugendliche hatte mehr als recht gehabt, sich so zu verhalten. Doch anscheinend war diese Reaktion nur mehr eine Kurzschlusshandlung gewesen, denn das alles, die ganze Wut, die den jungen Mann beherrscht hatte, war einfach so verpufft. Ganz offensichtlich.
Und Viktor müsste sich selbst belügen, würde er sagen, dass er es so, wie es jetzt war, nicht vorziehen und genießen würde. Jeder Teil seines Körpers, der Lucas berührte, schien von einem wohligen Prickeln erfüllt zu sein. Doch genauso lauerte der Gegenpart in dem Unsterblichen. Der Teil, der ihn förmlich anschrie, dass das hier nicht sein durfte. Der Teil, der ihm unmissverständlich immer wieder vor Augen hielt, er müsse auf Distanz gehen und bleiben. Einfach, um den Jugendlichen zu schützen.
Egal, was dieser wollte.
Egal, was der Unsterbliche selbst wollte.
Abstand war die oberste Priorität, koste es, was es wolle. Viktor seufzte ob dieses inneren Konflikts laut und gequält auf, was Luca dazu brachte, sich von der Schulter des Adligen zu lösen und zu ihm aufzusehen.
»Was ist los? Alles in Ordnung bei dir?«, fragte der Jugendliche leise und die Unsicherheit in seiner Stimme war deutlich zu hören.
»Hmm?« Für einen kurzen Augenblick wusste der Unsterbliche nicht, worauf Luca anspielte, denn dass der Adlige seinen Unmut über die ganze Situation mehr oder weniger laut geäußert hatte, war ihm gar nicht so bewusst gewesen.
»Na, du hast gerade geseufzt, als ob dich etwas ... belastet. Ich hoffe, ich bin dir nicht zu oft auf die Füße getreten. Willow hat sich darüber nämlich immer beschwert. Also hoffe ich, dass ich nicht der Grund bin für deinen … Missmut.«
»So? Hab ich das? Nein, es ist nichts. Nichts, worüber du dir Gedanken machen musst«, erwiderte Viktor und hasste sich im selben Moment für diese Lüge. Denn das war es nun mal, eine verdammte Lüge! Alles drehte sich um Luca. Seit sie sich das erste Mal über den Weg gelaufen waren. Aber was würde es bringen, wieder davon anzufangen? Der Jugendliche hatte ihm bei ihrem letzten Treffen auf dem Gestüt ja schon zu verstehen gegeben, dass er nicht von dem Adligen beschützt werde wollte. Dabei wusste Luca nicht einmal, wovor. Und das konnte Viktor ihm auch nicht sagen. Nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Vielleicht nie.
Der Unsterbliche spürte den forschenden Blick des Jungen auf sich, aber er erwiderte ihn nicht. Stattdessen zog er Luca wieder enger an sich.
»Lass uns einfach noch ein wenig den Moment genießen, bevor wir hier verschwinden. In Ordnung?«, bat Viktor leise.
»Ja, okay.« Nun war es an Luca, leise zu seufzen, während er den Kopf wieder an die Schulter des Adligen legte.
Auch wenn der Blonde gern gewusst hätte, was diesen bedrückte, für den Moment würde er nicht weiter nachhaken. Die Aussage Viktors, dieses »es ist nichts ...«, nahm der Jugendliche ihm jedenfalls nicht ab, aber wenn der Adlige nicht darüber reden wollte, würde Luca sich damit zufriedengeben müssen. Eigentlich ging es ihn ja auch nichts an.
So führten die beiden ihren Tanz wortlos noch eine Weile fort, bis Luca schließlich das Schweigen wieder brach: »Ich denke, wir sollten jetzt mal langsam sehen, dass wir von hier abhauen. Nicht, dass ich es nicht genießen würde mit dir hier. So zusammen. Aber ich glaube trotzdem, wir sollten gehen. Oder was meinst du?«
»Ja, vermutlich hast du recht. Wie willst du es machen? Wir können schlecht händchenhaltend hier rausgehen.«
Luca lachte leise. »Nein, obwohl ich es mir alleine wegen Lady Ichbinjasotoll wünschen würde. Aber nein, kein Skandal heute Abend.« Der Jugendliche überlegte einen Augenblick. »Am besten schau ich erst mal, dass ich meinen Onkel finde, wegen seines Autos, und dann suche ich Willow. Anschließend könnten wir bis ins nächste Dorf fahren, den Wagen da abstellen und ihr sammelt uns da ein. Ist nur blöd, weil wir das Auto dann morgen abholen müssten. Hmmm …« Luca schwieg einen weiteren Augenblick, bevor er fortfuhr: »Ach, dann müssen wir eben ein Taxi hier raus nehmen.«
»Oder Sebastian fährt euch. Aber das sehen wir, wenn es so weit ist.« Mit diesen Worten schob der Unsterbliche den Jungen sanft rückwärts von sich weg. »Gut, dann ... geh schon mal deinen Onkel suchen. Ich warte hier noch ein paar Minuten und folge dir dann zum Haus. So bekommt hoffentlich niemand etwas mit.«
Luca nickte und drehte sich um, bevor er sich besann und sich Viktor noch einmal zuwandte. »Wenn alle Stricke reißen, treffen wir uns in Notting Hill? Also, bevor wir irgendwie Gefahr laufen, aufzufallen. Du weißt ja noch, wo ich wohne, oder?«
»Aber natürlich weiß ich das noch«, antwortete der Adlige und lachte leise, »wie könnte ich das vergessen.«
Er packte den Jugendlichen an seiner Weste, zog ihn zu sich und legte die Lippen auf Lucas, der sofort wieder Feuer und Flamme war.
»Und jetzt ab mit dir.« Viktor löste den Kuss und schob den jungen Mann aus dem Teehaus. »Je länger wir hier weitermachen, umso länger dauert es, hier zu verschwinden. Also … bis nachher.«
»Okay«, murrte Luca unwillig, machte sich dann aber auf den Weg zum Herrenhaus zurück. Er nahm den längeren Weg um das Anwesen herum und hielt dabei nach Alan und Willow Ausschau, konnte aber keinen von beiden auf den ersten Blick ausfindig machen. Nach ein paar Minuten kam Luca am Partypavillon an, wo sich wohl die meisten Gäste aufhielten, aßen und tranken. Und dort konnte er endlich seinen Onkel ausmachen, der sich anscheinend prächtig amüsierte. Grinsend ging Luca zu ihm herüber und nahm ihn auf die Seite, um ihn von seinem bestehenden Aufbruch zu berichten. Die Sache mit Viktor ließ er natürlich dabei aus.
Wie erwartet, stimmte Alan der Idee Lucas zu, den Wagen zu nehmen. Der Gestütsbesitzer selbst würde sich später ein Taxi rufen. Er drückte seinem Neffen noch etwas Geld in die Hand - nur für den Fall - und wandte sich wieder der jungen Frau zu, mit der er sich zuvor bereits angeregt unterhalten hatte.
Zufrieden machte der Jugendliche sich nun auf, seine Freundin zu suchen. Irgendwo musste die sich doch herumtreiben.
Lucas Lippen zuckten, als ihm ein Gedanke kam. Langsam durchquerte er den Eingangsbereich und ließ den Blick schweifen.