Währenddessen hatte Viktor sich zum Herrenhaus aufgemacht und betrat von der Terrasse aus das Wohnzimmer von Lady Amelia, wo noch immer einige Paare zu leiser Musik tanzten. Auf den ersten Blick konnte er unter diesen seinen Butler ausmachen. In dessen Arm, Lucas rothaarige Freundin Willow. Viktor schmunzelte und beobachtete die beiden, während er sich noch ein Glas Wein an der kleinen Bar holte, die neben der Tür zur Veranda aufgebaut war. Der Adlige wollte seinen Butler nicht unterbrechen.
Irgendwann würden die beiden ihren Tanz schon beenden, spätestens, wenn Sebastian ihn bemerken würde. Sein Blick fiel auf Luca, der an der anderen Tür des Raumes am Rahmen lehnte und die zwei Tanzenden ebenfalls erblickt hatte.
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Sebastian hatte indes nichts davon mitbekommen, dass sein Herr und der blonde Jugendliche ihn und Willow beobachteten. Dafür machte ihm der Tanz mit der jungen Frau zu viel Spaß, die Musik war mitreißend und auf wundervoll vertraute Weise altmodisch, ganz so wie auf den Bällen der feinen Gesellschaft der früheren Epochen, und das hauchzarte Parfum seiner Tanzpartnerin umwehte ihn wie ein leichter Wind.
Es kam dem Butler vor, als hätte er eine Ewigkeit nicht mehr getanzt und wenn er genauer darüber nachdachte, entsprach das sogar den Tatsachen. Er war ein persönlicher Diener, er stand Spalier für die Wünsche seines Herrn und war nicht der Typ, der auf vornehmen Veranstaltungen als Tanzpartner in Betracht gezogen wurde. Die Damen der Elite sahen ihn oftmals nicht einmal als Menschen an, und wenn, dann eher als ein hübsches Spielzeug, mit dem man sich amüsieren konnte, etwas fürs Bett, das man hinterher fortschicken und totschweigen konnte.
Er wusste von vielen männlichen Hausangestellten, die so manchen Liebesdienst für ihre gelangweilten Herrinnen verrichteten, wenn deren desinteressierte oder vielbeschäftigte Ehemänner nicht zuhause waren.
Etwas, das Sebastian zwar nicht kategorisch ablehnte, aber mit sich selbst seit vielen Jahren nicht mehr hatte machen lassen. Die Zeiten, in denen sein Blut heiß gewesen war und er mit Freuden die Avancen einer schönen jungen Edeldame angenommen hatte, lagen lange zurück und es war alles zu einem bedeutungslosen Einerlei verschwommen, einer Mischung aus gelangweiltem Sex und der Selbstverachtung hinterher. Deswegen hatte er die Lust an diesem Spiel verloren. Aus Liebe jemandem hingegeben hatte er sich schon lange nicht mehr - er hatte schon vergessen, wie es war, wenn man diese Gefühle hatte, war sich nicht einmal sicher, ob er sie tatsächlich kannte.
Sebastian fasste die Finger der jungen Frau etwas fester und sie vollführten eine weitere Drehung, die den Rock des Kleides elegant schwingen ließ. Willow lachte leise, als er sie einen kurzen Moment hochhob und sich die Schrittfolge leicht änderte.
»Ich fürchte, Miss Bennett, unser Tanz neigt sich dem Ende zu«, murmelte der Butler mit tiefer Stimme, denn er hatte seinen Herrn an der Tür zur Terrasse entdeckt, der ihnen beiden mit einem feinen Lächeln zusah.
»Och, schon?« Willow hob den Blick zu Sebastian und ließ ihn dann schweifen. Auch sie entdeckte den Grafen und am anderen Ende des Raumes ihren besten Freund, der grinste wie ein Honigkuchenpferd.
»Es war mir eine Ehre«, brummte Sebastian gutmütig und lächelte, als er sie an den Rand der Tanzfläche führte, ihre Hand an seine Lippen hob und sich leicht verneigte. Bei jedem anderen wäre diese Geste womöglich theaterhaft und gestellt herübergekommen, doch bei dem Butler wirkte es so natürlich, als hätte er sich nie anders verhalten. Es gehörte zu ihm wie seine dunklen Augen und Willow spürte, wie ihr Herz einen Hüpfer machte.
‘Dummerchen!’, schimpfte sie sich stumm, doch die Wärme in ihren Wangen konnte sie nicht verleugnen. Sie genoss es, wie dieser vollkommene Gentleman sich ihr gegenüber verhielt.
»Mir auch«, hauchte sie und konnte ein mädchenhaftes Kichern nicht verhindern, das ihr sofort peinlich war. Sie konnte fühlen, wie sie errötete und war erneut froh, dass das Licht gedämpft war.
Während Sebastian die Hand der jungen Frau wieder losließ und einen höflichen Abstand zwischen sie brachte, hatte sich Viktor vom Türrahmen gelöst und war durch die anderen noch immer tanzenden Paare geschritten.
»Es tut mir leid, Ihnen und dir den sicher sehr amüsanten Tanz verdorben zu haben, aber könntest du, Sebastian, den Wagen vorfahren gehen? Ich würde gern aufbrechen. Ebenso Ihr Freund, Miss Bennett. Ich fürchte, ich habe ihn zu einem Glas Wein zu viel animiert« Der Graf schmunzelte zu Luca hinüber, der noch immer am selben Fleck stand und leicht grinste.
»Oh, ich habe aber auch was getrunken. Nicht viel, aber ... oh je, das war blöd. Alan hat bestimmt auch etwas von dem Champagner genossen.«
»Es steht außer Frage, Miss Bennett, dass wir Sie nach Hause fahren, wenn Sie und Luca nicht mehr fahrtüchtig sind. Wir haben einen Weg, das ist gar kein Problem.«
Die junge Frau musterte den Grafen vor sich einen Moment. »Wirklich nicht? Ich möchte keine Umstände machen.«
Leicht die Lippen kräuselnd, lagen Viktors in dem gedämpften Licht schwarze Augen auf Willow. Er schnaubte leise und amüsiert. »Sie können freilich auch ein Taxi nehmen, doch bis nach London wird Ihnen da eine stattliche Summe zusammenkommen, die Sie sparen könnten. Ich zwinge Sie nicht, doch Luca hat schon deutlich gemacht, dass er sehr gern mit mir würde fahren wollen ... Bis nach Notting Hill ist für uns wirklich kein Aufwand.«
»Sie haben recht, was sperre ich mich so«, die junge Frau lachte leise und sah verstohlen zu Sebastian hinüber, der schweigend dastand. Sie würde sehr gern noch etwas Zeit mit ihm haben, und wenn sie nur schweigend nebeneinander in einem Auto sitzen würden.
»Gut, dann holen Sie Ihren Mantel. Sebastian, würdest du?«
»Ja, mein Herr, ich bin sofort zurück.«
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Während der Butler sich aus dem Saal entfernte, musterte Luca Viktor und seine beste Freundin. So sehr er soeben noch von der Idee, mit dem Adligen in die Stadt zurückzufahren, begeistert gewesen war, umso schlechter kam sie ihm plötzlich vor. In welchem Licht ließ ihn das denn stehen, wenn er, obwohl er eben noch stinksauer auf Viktor gewesen war, ihm verzieh, sobald die wunderschönen dunklen Augen ihn mit diesem Hundeblick ansahen?
Luca konnte und wollte nicht, dass der Adlige glaubte, er wäre so leicht zu haben. Nicht, nachdem der es nicht einmal für nötig befunden hatte, sich zu melden. Oder ihm eine Erklärung für dieses Affentheater zu liefern.
Vielleicht war es besser, zu bleiben und später wie geplant zum Gestüt zurückzufahren. Überhaupt – was hatte sein weinvernebeltes Gehirn da für einen Narrenplan geschmiedet? Würden sie jetzt mit Viktor nach London fahren, würde das Auto hier stehenbleiben, Alan würde sicher ein Taxi nehmen, da er etwas getrunken hatte … diese Millionen von Umwegen konnten sie sich auch sparen.
Der Jugendliche hob den Kopf, als er den feinen und inzwischen vertrauten Geruch Viktors wahrnahm, der sich ihm genähert hatte.
»Nanu, wo hast du Willow gelassen?«
»Sie geht dein Jackett holen«, entgegnete der Adlige und lächelte leicht, doch zog die Brauen etwas zusammen, als er Lucas zusammengepresste Lippen bemerkte. »Ist etwas?«
Der Junge brummte. »Ich … weißt du, ich glaube, wir sollten doch lieber nicht mit zurückfahren. Es ist ein zu großer Aufwand … Das Auto, mein Onkel … tut mir leid.«
Viktor musterte ihn einen Moment und es wirkte unerwartet streng auf den Jugendlichen. Doch schließlich entspannte sich das Gesicht des Grafen und er seufzte leise.
»Wenn das dein Wunsch ist, respektiere ich das natürlich. Ich … verstehe auch, falls du noch immer erzürnt bist wegen meines Verhaltens.«
Luca zuckte leicht mit den Schultern. »Du könntest versuchen, mir ein paar Sachen zu erklären. Vielleicht würde das einen Unterschied machen und ich nicht immer wie ein Idiot dastehen.« Er rieb sich die Augenlider. Langsam spürte er die Flasche Wein in seinem Schädel, obwohl er das meiste davon erbrochen hatte. »Würde ich mir zumindest wünschen. Ich pack' nicht noch eine Ladung Trotteligkeit auf meinen eh schon riesigen Haufen drauf, indem ich dir jetzt noch mal sage, dass ich dich gern habe ...« Er stutzte und schüttelte den Kopf.
»Das hast du gerade getan«, schmunzelte Viktor, sah sich rasch im Saal um und strich Luca über das Kinn. »Und ich fühle mich sehr geehrt davon.«
»Ach, du«, brummte der Junge. Sie sahen sich im schummrigen Licht des Tanzsaales einen Moment lang an, bis ein kaum wahrnehmbarer Ruck durch Viktor ging und er sich umwandte. Beinahe wie eine Katze, die ein Geräusch gehört hatte, das niemand sonst hatte bemerken können. Luca lachte innerlich über sich, was für dumme Gedanken ihm der Wein in den Kopf setzte.
Doch just in der Sekunde, in der Viktor die Hand sinken ließ und sich halb von dem Jungen abwandte, schwebte Lady Bramlett in ihrem auffallenden Kleid in den großen Raum, erblickte den Mann und stürmte beinahe auf ihn zu.
»Mein Graf, ich habe Ihren Butler bei der Garderobe gesehen! Sagen Sie mir nicht, Sie haben vor, bereits aufzubrechen?« Den Jungen, der neben dem Adligen stand und leicht die Braue hochzog, ignorierte sie fast gänzlich.
»Ich fürchte jedoch, so ist es, Mylady. Mein Tag war sehr lang und ich bin doch ziemlich erschöpft inzwischen.«
»Sie sind ein fürchterlicher Gast, Graf Draganesti!«, lachte Lady Amelia glockenhell. »Da hatte ich mich den ganzen Abend auf einen Tanz mit Ihnen gefreut und Sie waren beinahe die ganze Zeit nicht auffindbar! Und nun wollen Sie schon gehen.«
»Ich ging ein wenig verloren in Ihrem bezaubernden Garten«, antwortete Viktor und Luca musste sich ein Grinsen verkneifen.
»Nun, wie dem auch sei, Graf. Ich bin froh, dass Sie meine Einladung nicht ausgeschlagen haben, ich weiß ja, dass Sie ein vielbeschäftigter Mann sind.«
»Ich habe zu danken, Mylady«, brummte Viktor gutmütig und warf dem Jugendlichen einen Seitenblick zu, nachdem Lady Bramlett mit einem gezierten Kichern wieder abgerauscht war.
»Der perfekte Gentleman«, knurrte Luca.
»Der bin ich.«
»Ich hasse diese Frau.«
»Sei' nett«, gluckste der Adlige mit einem Grinsen, »du kannst sie nicht alle töten.«
Der Jugendliche machte ein überraschtes Gesicht wegen des Scherzes, bevor er anfing zu lachen.
»So gefällst du mir«, schnurrte Viktor leise.
»Ich sollte mal meinen Onkel suchen«, murmelte Luca verlegen, nestelte an seiner Weste herum und lächelte etwas. »Und Willow. Ich möchte echt heim. Keine Lust mehr.«
Der Adlige musterte ihn und folgte ihm mit seinem Blick, als der Junge durch den Saal ging. Viktor bedauerte, dass Luca nicht mit ihm nach London kommen wollte. Er hätte sich gern noch etwas mit ihm unterhalten. Doch vermutlich hatte er, Viktor, diesen Sinneswandel verdient. Jeder andere hätte sich weit weniger gefallen lassen, sondern ihn wegen seiner Kinkerlitzchen längst zum Teufel geschickt.
»Mein Herr?« Viktor war in Gedanken, als Sebastian ihn ansprach und der Adlige erkannte, dass dieser bereits aufbruchfertig war und Viktors Mantel über dem Arm trug. »Wo ist Eure Begleitung?«
»Kleine Planänderung«, murmelte der Graf. »Wir fahren allein. Luca hat es sich anders überlegt.« Viktor bemerkte, dass der Ausdruck in Sebastians Gesicht sich für einen Moment veränderte und lächelte leicht. Offenbar hatte sein Butler sich darauf gefreut, die hübsche junge Frau nach Hause fahren zu können.
Doch stoisch wie immer nickte er schließlich und half seinem Herrn in den Mantel, bevor er diesem voranging, um ihm die Tür des Wagens, der bereits vor dem Haus wartete, öffnen zu können.
»Viktor!« Luca stand in der Halle, Willow an seiner Seite, die einen ebenso enttäuschten Eindruck machte wie der Butler. »Meldest du dich dieses Mal bei mir?«
Der Adlige schmunzelte, als er an den Jugendlichen herantrat, um ihm die Hand zu geben. »Ich denke, wir beide kommen gar nicht drumherum, einander wieder über den Weg zu laufen, meinst du nicht?«
Luca zuckte mit den Schultern und versuchte, unbeteiligt zu wirken, doch die feine Röte auf seinen Wangen und das Zucken seiner Lippen verrieten ihn.
»Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Das Schnurren in Viktors Stimme jagte ein wohliges Kribbeln über den Rücken des Jugendlichen und er atmete tief aus, als der Adlige sich abwandte. Dadurch bemerkte Luca nur am Rande, dass Willow von dem Butler einen Handkuss bekam, der ihre Wangen in Brand setzte.
»Ich bin verloren«, murmelte er und seine Freundin konnte nur nicken.