Lara schreckte auf und lag zu ihrem Erstaunen in ihrem weichen Bett. Sie suchte sogleich nach den wundervollen Muscheln, doch sie fand sie nicht mehr. Sie durchwühlte ihr ganzes Bett, nichts. Doch dann auf einmal ertönte ein leises Klirren, sie schaute hinunter auf den Boden und konnte ihr Glück kaum fassen. Da lag tatsächlich noch die wunderschöne Muschel, welche ihrer Mutter am besten gefallen hatte. Es war ein kleines Wunder! Voller Ehrfurcht und von tiefer Liebe erfüllt liess sich das Mädchen auf die Knie fallen und hob die herrliche Muschel ganz vorsichtig auf. Dann war es also doch keine Einbildung gewesen, dass sie ihre Mutter gesehen hatte! Tiefes Glück und Dankbarkeit erfüllte das Kind und das erste Mal seit langem, verspürte es wieder eine vollkommene, innere Zufriedenheit.
Das Land der silbernen Berge
Fröhlich sprang Lara aus dem Bett und lief hinunter ins Esszimmer, noch bevor ihre Grossmutter sie rufen musste. „Guten Morgen!“ rief sie voller Enthusiasmus und drückte ihrer Grossmutter einen spontanen Kuss auf die Wange. Hannah schaute ihre Enkelin etwas erstaunt an. So heiter hatte sie diese seit dem Tod ihrer Eltern nicht mehr erlebt. „Du bist so fröhlich heute! Das freut mich!“ „Ich habe auch sehr gut geschlafen Oma! Ich hatte einen wunderschönen Traum, von Mama. Sie war mir ganz nahe. Wir waren an einem wunderschönen Strand und sammelten Muscheln. Diese hier ist von dort!“ Begeistert hob das Mädchen die Muschel hoch. Diese hatte ein wenig an Glanz verloren, war jedoch immer noch sehr schön. Ihre Grossmutter betrachtete sie und schien einen Moment lang nachzudenken. Dann meinte sie: „Das muss ein wundervoller Traum gewesen sein, dann hast du ja jetzt etwas gefunden, dass dir Trost spendet, Kleines.“ Mehr sagte Hannah dazu nicht. Sie streichelte ihrer Enkelin sanft übers Haar und bat sie dann Platz zu nehmen. Schnell wandte sie sich daraufhin ab und holte etwas aus der Küche. Niemand sollte ihre Tränen sehen, denn auch sie litt sehr unter dem Verlust ihrer Tochter und ihres Schwiegersohnes Robert. Sie war sich sicher, dass Lara sich einfach einredete, dass diese Muschel von dem schönen Stand stammte, von dem sie ihr erzählt hatte. Doch wenn es ihr half… dann wollte sie ihr diese Freude nicht nehmen. Sie selbst sehnte sich danach, irgendetwas zu finden, dass ihr auch auf diese Weise Trost spenden konnte, wie es bei Lara der Fall war. Doch sie war nun mal erwachsen und sie würde niemals solche Träume haben und wenn, dann würden sie ihr bestimmt nicht so real erscheinen. Dennoch, die Freude ihrer Enkelin war ansteckend und nachdem sie während dem Frühstück ihren weiteren Ausführungen gelauscht hatte, ging es ihr sogar selbst etwas besser.
„Wo ist eigentlich Opa? Kommt er nicht zum Frühstück?“ fragte Lara schliesslich. „Nein, er ist schon ganz früh los auf den Wochenmarkt. Er kommt dann gegen Abend wieder zurück. „Schade, ich hätte ihm gerne alles erzählt.“ „Das kannst du dann später auch noch tun. Ich dachte mir, wir könnten zusammen mal einen Ausflug in die Berge machen. Was meinst du? Heute ist Samstag und so schönes Wetter!“ Lara mochte die Wanderungen mit ihren Grosseltern sehr. Sie machten das öfters, denn ganz in der Nähe, gab es einige schöne Wanderwege durch die angrenzende Bergwelt. Auch ihre Eltern war oft mit Lara dort wandern gegangen. Am schönsten war es immer, wenn alle zusammen gingen: Sie, ihre Eltern und auch ihre Grosseltern. Diese Ausflüge genoss sie stets am meisten.
So dauerte es nichts lange bis sich Lara und ihre Grossmutter mit Wanderschuhen und Rucksack auf den Weg machten. Ziemlich bald erreichten sie das nahegelegene Gebirge und stiegen in eine Drahtseilbahn, welche sie hinauf auf einen besonders schönen Berggipfel brachte. Dort oben hatte es ein Restaurant und man konnte weit umherblicken. Lara lehnte am Geländer der Aussichtsplattform und auf einmal wurde sie wieder traurig. Hier war sie oft mit ihrem Vater gestanden und er hatte ihr die umliegenden Berge erklärt. Ihre Augen brannten und sie musste sich zusammenreissen, dass sie nicht wieder anfing zu weinen. Sie wollte nicht weinen, denn es war ja so schön hier. Der Himmel leuchtete in klarem Blau, keine Wolke trübte ihn und die Sicht war weit und kristallklar. Die Sonne brannte vom Himmel und warf ihr gleissendes Licht auf die steilen Wipfel und tiefen Täler. Weit, weit entfernt, sah Lara sogar ein paar Gämsen klettern. Ein angenehmer, frischer Wind blies und das Kind atmete tief durch. Auf einmal fühlte sie sich ihren Eltern ganz nahe und es war, als wären sie hier bei ihr. Dann aber rief ihre Grossmutter nach dem Mädchen und sie machten sich zusammen an den Abstieg.
Zuerst war der Weg ziemlich steil und von karstigem Felsgestein geprägt, doch dann wurde es immer grüner und schliesslich durchwanderten sie wunderschöne, blumenreiche Wiesen, auf denen einige Kühe und Ziegen, ganz ohne Zaun grasten. Unter einer Baumgruppe legten sie eine Pause ein und nahmen ein paar Brote und Getränke aus ihrem Rucksack. Die Grossmutter breitete eine Decke aus und sie setzten sich darauf. Lara war auf einmal sehr müde und nachdem sie etwas gegessen hatte, legte sie sich einen Moment lang hin.
„Lara!“ eine männliche Stimme riss sie aus ihren Träumen. Sie kam ihr so vertraut vor. Sie sprang auf und schaute sich nach ihrer Grossmutter um, doch diese war nirgends zu sehen. Alles um sie herum wirkte auf einmal ganz anders, es pulsierte in einem seltsamen Licht und verlieh der Umgebung eine ungewöhnliche Farbenpracht. Das Licht schien von irgendwo her zu kommen. Lara erhob sich mit klopfendem Herzen und versuchte den Ursprung selbigen zu finden.
Auf einer Wiese, wo überall Vergissmeinnichte wuchsen, stand eine leuchtende Gestalt. Als Lara nähertrat, konnte sie es kaum glauben. Vor ihr stand ihr Vater! Er sah etwas jünger aus, als er einst gewesen war, trug ein blaues Hemd und eine dunkle Jeans, wie er sie zu Lebzeiten auch schon oft getragen hatte. Sein Haar war braun und kurz, nicht so blond, wie das von Laras Mutter. Lara hatte das Haar von ihrer Mutter, doch die rehbraunen Augen hatte sie von ihrem Vater vererbt. „Papa! Bist du das?“ fragte sie ungläubig. „Ja, mein Schatz! Ich bin es. Ich dachte mir, ich schaue mal vorbei, um zu sehen wie es dir so geht.“ Das Leuchten nahm nun etwas ab, so dass Lara ihren Vater Robert ganz klar sehen konnte, so wie er einst gewesen war. Er lächelte sie an und seine sanften Augen waren erfüllt von einem warmen Schein. Laras Herz klopfte noch heftiger. Sie lief zu ihrem Papa und umarmte ihn. Es ging tatsächlich, auch er schien kein Geist zu sein!
Schliesslich schaute sich nach ihrer Mutter um. „Ist Mama auch hier?“ „Nein, diesmal bin ich allein gekommen. Mama hat dich doch gerade erst besucht.“ „Du weisst das?“ Robert lachte auf „Natürlich! Mama und ich wachen noch immer zusammen über dich. Doch diesmal wollte ich dich besuchen. Du machst mal wieder eine Bergwanderung? Das ist schön!“ Schade war ich nicht da, um dir die Berge zu erklären. Das war doch sonst immer meine Aufgabe. Es gibt auch in der Welt, in der ich jetzt lebe, wundervolle Berge. Willst du sie mal sehen?“ „Ja natürlich. Mama und ich waren das letzte Mal an so einem schönen Strand. Ich habe sogar eine Muschel von dort mitgenommen!“ „Ich weiss,“ wieder lächelte ihr Vater und legte den Arm um seine Tochter. „Ich war immer sehr gerne in den Bergen. Das weisst du ja. Ich bin auch in der neuen Welt, in der ich nun lebe, sehr oft in den Gebirgen unterwegs. Sie sind aber ganz anders als diese hier. Schliess deine Augen, ich bringe dich hin!“
Lara schloss gespannt ihre Augen. „Jetzt kannst du die Augen wieder aufmachen!“ Das Mädchen tat wie ihm geheissen und blickte sich einmal mehr fassungslos um. Sie standen auf einem hohen Berggipfel. Die Umgebung kam ihr irgendwie bekannt vor, ähnlich wie jene wo sie und ihre Grossmutter gerade waren. Doch die Berge hier waren viel, viel schöner! Sie glänzten wie aus reinem Silber. Alles war irgendwie silbrig hier, sogar die Wiesen und Blumen, hatten einen silbrigen Schimmer, als ob man alles mit einem Silberspray besprayt hätte. Der Schein der Sonne brach sich in allem und verlieh jedem Berg, jeder Pflanze ein überirdisches Glänzen. Doch es wirkte viel lebendiger, als es irgendein irdischer, aus Silber gegossene, oder mit Silber besprayter Gegenstand je vermocht hätte. Die Pflanzen und das Gras, es wirkte so filigran, ein jedes Detail wie ein magisches Kunstwerk, ein Kunstwerk, dass Menschen niemals vermocht hätten zu gestalten. „Das ist so schön hier Papa!“ rief Lara begeistert. „Ja, nicht wahr! Erinnerst du dich noch, als wir damals vor Weihnachten diese kleine Landschaft aus Holz für deine Mama gebastelt haben und du dann unbedingt alles silbern ansprayen wolltest, damit es weihnachtlicher aussieht?“ „Ja, klar.“ „Irgendwie erinnert mich diese silbrige Landschaft immer wieder an jenes Ereignis. Ich vemisse dich sehr, meine Kleine!“ „Ich dich auch Papa! So sehr!“ Lara warf sich weinend in die Arme ihres Vaters. „Ich fühle mich so allein ohne euch.“ „Ich weiss. Aber denk daran, dass wir immer bei dir sind! Diese Berglandschaft hier, liegt ganz nahe bei der Landschaft, in der du und Oma gerade sind. Immer wenn du wieder hierher zurückkommst, denk an die Silberberge. Von hier aus wache ich über dich.
Hol die Landschaft, die du und ich einst bastelten vom Estrich herunter, Sie befindet sich in der Kiste mit den Erinnerungsstücken, die wir euch hinterlassen haben.“ „Du glaubst die Landschaft gibt es noch?“ „Ja, Oma und Opa haben sie aufbewahrt. Hol sie hervor und dann häng sie an die Wand, über deinem Bett. Durch sie werde ich stets mit dir verbunden sein. Und das hier, soll auch als Andenken dienen. Er hob einen der silbern funkelnden Steine auf, die hier überall herumlagen und reichte ihn seiner Tochter. „Wie die Muschel wird der Stein ein wenig an Glanz verlieren, wenn du ihn zurück in die irdische Welt nimmst, aber er wird dich ebenfalls an unser Treffen erinnern. Setzen wir uns doch noch etwas hin und geniessen die Aussicht!“ Lara nahm den Stein und kuschelte sich an ihren Papa. Dieser legte erneut den Arm um sie und zusammen beobachteten sie, wie die Sonne über den Silberbergen unterging und diese einen Augenblick lang in goldiges Licht tauchte.
In diesem Moment erwachte Lara und fand sich auf der Decke ihrer Grossmutter wieder. „Scheinbar bist du kurz eingeschlafen,“ sagte Hannahs Stimme. „Du hast aber so glücklich und entspannt ausgesehen, da wollte ich dich nicht wecken. Jetzt wird es aber langsam Zeit wieder aufzubrechen. Die Sonne geht schon bald unter. „Ich habe Papa gesehen!“ rief Lara. „Wir waren in einem wunderschönen Reich, wo die Berge und alles andere aus reinem Silber waren. Er sagte mir, ich solle die Landschaft aus dem Erinnerungskarton im Estrich wieder herunterholen. Weisst du die Landschaft aus Holz, die er und ich einst für Mama machten.“ „Ja, ich weiss welche. Klar holen wir sie herunter, wenn du möchtest. Das ist bestimmt eine schöne Erinnerung!“ Und so geschah es!