Noch eine Weile wanderten Lara, ihre Eltern und die Grossmutter, in der wundervollen Stadt umher, die glänzte und funkelte wie ein Kleinod. Lara konnte kaum glauben, dass ihre einst selbstgemachte Stadt, hier tatsächlich zum Leben erwacht war. Sie waren hier ganz allein und es gab so viel zu entdecken.
Schliesslich jedoch nahte, einmal mehr, der Abschied. Lara weinte erneut und klammerte sich an ihre Eltern. „Ich will nicht wieder gehen, ich will bei euch bleiben!“ schluchzte sie. „Ach Kind!“ sprach ihre Mutter. „Deine Zeit zu uns zu kommen, ist noch lange nicht da! Du hast noch so ein schönes Leben vor dir! Du wirst einst selbst eine Familie haben und noch viele, glückliche Stunde auf Erden verleben. Wir werden auch immer über dich wachen, dieses Versprechen geben ich dir, einmal mehr. Bitte weine jetzt nicht länger! Alles wird gut!“ Sie streichelte ihrer Tochter sanft über die Wangen und meinte dann verschmitzt: „Ausserdem, werden wir uns bald nochmals sehen, keine Sorge.“ Bevor Lara jedoch fragen konnte, wie das gemeint sei, verschwamm die Silberstadt wieder vor ihren Augen und kurz darauf, fanden sie und ihre Grossmutter sich in Laras Zimmer wieder, als wären sie nie weggewesen. Einen Moment lang schauten sich die beiden ungläubig an. „Das… war ja…“ die Grossmutter suchte nach Worten. „Jetzt verstehe ich, warum du so begeistert von all diesen Erlebnissen bist. Ich glaube wirklich sie sind real. Deine Eltern, sind uns viel näher als wir jemals ahnen können, sie sind nur in eine andere Existenz herüber gegangen. Mir wird das erst jetzt so richtig klar und es tröstet mich sehr!“ Liebevoll nahm Hannah die selbstgemachte Stadt in ihre Hand. In dieser, schien sich noch immer ein Funken jenes geheimnisvollen Lichtes zu spiegeln, dass sie gerade mit eigenen Augen gesehen hatten. „Wer hätte gedacht, dass diese Bastelarbeit, einst so eine grosse Bedeutung bekommen würde…“ meinte sie sinnierend, dann nahm sie Lara in den Arm und die beiden genossen noch den Nachklang dieses herrlichen Erlebnisses.
Das Reich der Phönixvögel
Ein paar Tage später, ging Lara wie meistens, wenn sie schulfrei oder Ferien hatte, in den Wald. Sie schaute kurz beim Bienenhaus ihres Grossvaters vorbei, das am Waldrand stand und kletterte dann eine Jägerleiter hinauf, von wo aus man in die dicken Äste einer uralten Eiche gelangen konnte. Von hier hatte sie einen wundervollen Blick über das ganze Tal und sie fühlte sich wie eine Königin, die von ihren Schloss auf das Dorf, unter sich, blickte. Am liebsten hätte sie Flügel gehabt, um noch höher hinauf zu fliegen. „Ein Vogel zu sein, das wäre schön!“ dachte sie bei sich. „Ich könnte dann alles von ganz weit oben betrachten, könnte mich vom Wind tragen lassen, wäre frei und fern von dem Leid hier auf Erden, der Trauer und all den schweren Dingen. Ich könnte die Welt entdecken, überall hin, wo man sonst als Mensch niemals hinkommt.“ Sie setzte sich in eine dicke, sichere Astgabel und schaute verträumt hinaus in die Welt. Sie war ganz allein mit sich und das muntere Gezwitscher der Vögel lullte sie angenehm ein. Sie horchte auf den Gesang des Waldes und schliesslich fielen ihr die Augen zu.
Ein lautes Kreischen weckte sie wieder. Sie schreckte auf und fand sich wieder auf einem hohen Felsplateau. In diesem Moment fiel ein grosser Schatten über sie und sie blickte etwas erschrocken nach oben. Doch ihr Schreck, verwandelte sich schnell in massloses Erstaunen, als sie erkannte, dass der Schatten zu einem wunderschönen, goldweissen Vogel gehörte, der nun zur Landung ansetzte. Auf seinem Rücken sass… „Mama!“ rief sie begeistert „bist du das wirklich?“ „Natürlich, wer denn sonst mein liebes Kind?“ erwiderte Mina mit einem strahlenden Lächeln. Sie trug nun ein, zu dem wunderbaren Vogel passendes Wams, aus glänzenden Schuppen, die sich jeder ihrer Bewegungen anpassten. Federn, vermutlich von ihrem Reittier selbst, schmückten Schultern und Taille. Eine genau passende Hose aus dem gleichen, beweglichen Material, wie das Wams, bekleideten ihre Beine, ebenfalls mit einigen Federbüscheln verziert. Sie sah wunderschön aus. Der Vogel war riesig, mit langen Schwanzfedern und einer glitzernden Haube auf dem Kopf.
„Mama, was ist das für ein wundervoller Vogel, auf dem du da reitest?“ „Das ist ein Phönix, wir sind hier im Reich der Phönixvögel!“ „Aber sind Phönixe nicht jene Vögel, die immer wieder zu Asche werden?“ „Da hast du gut aufgepasst mein Schatz!“ Mina sprang nun zu Boden und umarmte ihre Tochter liebevoll wie immer.
„Aber das ist irgendwie traurig, wenn man bedenkt, dass dieser wunderschöne Vogel bald wieder sterben muss. Es ist ganz ähnlich wie mit euch…“ Laras Stimme brach und schon wieder stahlen sich Tränen in ihre Augen.
„Das ist die eine Seite davon Lara,“ erwiderte die Mutter sanft „doch was weisst du sonst noch über Phönixe?“
„Sie werden stets aus der Asche wiedergeboren.“
„Genau! Sie sterben also nicht wirklich, sie wechseln nur herüber in eine neue Existenz. Genauso ist es auch, wenn wir sterben. Nur unsere Körper sterben, doch unsere unsterbliche Persönlichkeit, die Seele, lebt im Jenseits weiter.
Berühre den Phönix einmal und schau was passiert!“ Lara streckte zaghaft die Hand nach dem herrlichen Tier aus und berührte vorsichtig dessen glitzernde Gefieder. In diesem Moment durchströmte sie eine wundervolle Wärme und eine Freude, die ihre Tränen der Trauer sogleich wieder trockneten.
Der Phönix senkte sein edles Haupt und legte es liebevoll gegen Laras Wange und nun waren es auf einmal Tränen der freudigen Rührung, die in ihr aufstiegen. Sanft streichelte sie den Kopf des riesigen Vogels und ging ganz in seiner liebenden Energie auf.
„Phönixe sind etwas ganz Besonderes,“ sprach nun Mina. „Sie haben Heilkräfte, wenn man bei ihnen ist, dann heilen sie einem an Leib und vor allem an Seele. Sie wissen, dass sie bald sterben, doch sie sind trotzdem glücklich, weil sie jeden Moment in vollen Zügen geniessen, gerade weil sie immer wieder zu Asche werden. Sie wissen aber auch, dass es immer weitergeht. Sie nehmen das Sterben und Wiederauferstehen, als natürlichen Prozess wahr. Genau an diesen Punkt solltest auch du immer mehr kommen. Geniesse jeden Moment deines Lebens, freue dich daran und blicke nicht mehr zu viel zurück. Dein Vater und ich sind glücklich, da wo wir sind, denn wir wissen auch, dass wir einst wieder zusammensein werden.“
Lara nickte tief bewegt und sprach: „Ich werde es versuchen.“
„Das ist gut mein Kind. Nun lass uns aber den Moment auch wirklich geniessen! Willst du mal selbst auf einem Phönix reiten?“
„Natürlich!“ rief das Mädchen begeistert.
„Dachte ich's mir doch! Hier gibt es sehr viele von diesen besonderen Vögeln, in allen erdenklichen Farben. Sie kommen hierher, um zu nisten.“ Mina stiess nun einen Pfiff aus und in diesem Augenblick, kam ein anderer, hellblau glitzernden Phönix, dahergeflogen. „Sie sind alle sehr freundlich, auf welchem möchtest du lieber reiten, auf dem Weissgoldenen oder dem Hellblauen?“
„Ich glaube ich nehme mal den Weissgoldenen.“
„Alles klar! Dann lass uns aufsteigen und losfliegen! Hier kann dir nichts geschehen.“ Lara nickte aufgeregt und tat wie ihr geheissen. Kurz darauf erhob sich der Phönix in die Lüfte. Das Mädchen konnte es kaum fassen, eben gerade noch, hatte sie noch vom Fliegen geträumt und nun ritt sie tatsächlich auf diesem wundervollen Vogel! Sie schraubten sich hoch in die Luft und zogen ein paar weite Kreise, über dem Gebirge, in dem sie sich gerade aufhielten. Unter ihnen befanden sich unzählige, mächtige Nester, in denen Phönixe in unglaublicher Vielfalt nisteten. Es war ein herrlicher Anblick, ein Farbenspiel, dass seinesgleichen suchte. Es gab auch noch ganz junge Phönixe, welche ihre Schnäbel weit aufsperrten und die von ihren Eltern mit Nahrung versorgt wurden. Die Nahrung bestand vorwiegend aus glitzernden Samenkörnern.
Lara konnte sich kaum sattsehen.
Schliesslich landeten sie und ihre Mutter wieder auf einem Felsplateau. „Es wird wieder Zeit für dich zurück zu kehren, mein Kind,“ sprach Mina. Sie nahm eine Feder von ihrer Kleidung und reichte sie Lara. „Diese besondere Feder, soll dich immer an das erinnern, was du hier erlebt hast und daran, dass du niemals die Hoffnung aufgeben sollst. Alles wird gut werden. So leb denn wohl!“
Auf einmal verschwamm alles um Lara herum, die wundervollen Vögel verschwanden und auch ihre Mama, war nirgends mehr zu sehen. Sie wollte noch nach ihr rufen, sie vom Gehen abhalten, doch dann erinnerte sie sich an die Worte die Mina zu ihr gesprochen hatte: „Geniesse jeden Moment deines Lebens, freue dich daran und blicke nicht mehr zu viel zurück. Dein Vater und ich sind glücklich, da wo wir jetzt sind, denn wir wissen auch, dass wir einst wieder zusammen sein werden!“ Ja, sie wollte das nun immer mehr versuchen. Irgendwann würde es ihr gelingen, denn durch die Präsenz des Phönix Vogels war sie neu gestärkt worden. Und so kehrte sie wieder zurück aus dem Traumland und fand sich wider in der mächtigen Astgabel, in ihrem Lieblingsbaum! …