Einige Monate später saßen Paul und ich bei Luigi. Erst vor zwei Wochen hatten wir das Ritual wieder aufgenommen. Beide hatten wir es sehr vermisst. Endlich nicht nur zwischen Tür und Angel getauschte Zärtlichkeiten oder kurze Gespräche über die Kinder, das Büro oder den Einkaufszettel. Endlich mal wieder einfach nur Paar sein. Meine Mutter hatte Martin über das Wochenende abgeholt und Pauls Eltern passten auf Jan auf.
Einfach nur Paul und ich. Siebeneinhalb Jahre waren wir zusammen, davon fast sechs verheiratet. Paul war gerade 30 geworden, ich 28. Wir hatten den Hof, die Firma, die Pferdepension und zwei Söhne. Und wir hatten uns. Ich fragte Paul an diesem Abend, ob er je gezweifelt hatte, ob er je daran gedacht hatte, dass dies nicht mehr unser Weg sein könnte. Er schüttelte den Kopf und nahm meine Hand. Die Berührung elektrisierte mich und ich spürte ein fast schon vergessenes Verlangen. Nun bereute ich die Frage fast, wie dumm sie gewesen war. Da saß noch immer der Mann vor mir, den ich vom Fleck weg hatte heiraten wollen. Der seitdem keine andere Frau mehr angesehen hatte. Der wirklich alles für uns tat, notfalls sein letztes Hemd geben würde und ohne den ich in den Tagen nach Jans Geburt verzweifelt wäre.
"Verzeih", murmelte ich. Er nickte und fuhr mit seinem Zeigefinger über meinen Ehering.
"Warum?", fragte er nach. Ich schüttelte den Kopf und sah verlegen auf die Tischplatte. "Anke, schau mich bitte an", bat er. Langsam hob ich den Kopf. Sein Blick war warm und offen. Mein Blick blieb an seinen Lippen hängen. Wie damals sehnte ich mich danach, diese zu küssen und ich seufzte leise auf. Er streichelte noch immer meinen Handrücken und nickte bedächtig. "Ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass ich keine Angst um uns gehabt hätte."
Auch er atmete tief durch. "Doch wir sind eine Familie. Das wirft man ja nicht einfach weg", erklärte er. Eine Welle der Zuneigung und Zärtlichkeit durchfuhr mich. "In guten und in schweren Zeiten", flüsterte ich und Paul nickte dazu.
Dann wurde seine Mimik ernst. "Deswegen habe ich heute Ulrike entlassen." Erstaunt sah ich ihn an. Ulrike Schäfer war seine Assistentin gewesen, die all seine Termine koordiniert und ihm die Organisation abgenommen hatte. "Wieso das?", fragte ich. Pauls griff jetzt nach meiner Hand.
"Offenbar dachte sie, unsere Krise ausnutzen zu müssen. Sagen wir so, sie hat Grenzen überschritten", erklärte er. Damit zuckte eine kleine Falte zwischen seinen Augen. Ein unangenehmes Gefühl kletterte in mir hoch. Es kam ganz tief aus der Bauchgegend. Paul versicherte mir, dass nichts passiert sei, er auch nicht in Versuchung gewesen wäre. Er wollte aber derartige Annäherungsversuche auch nicht dulden. Ich dachte über alles nach, während Luigi die Rechnung und zwei Grappa brachte. Wir zahlten schweigend und nippten an den Gläsern.
"Bist du böse?", wollte Paul wissen. Überrascht sah ich ihn an.
"Böse? Auf dich?" Wie konnte er das nur glauben? Er war nunmal ein sehr attraktiver Mann, wir hatten Probleme gehabt. Meine Gedanken hatten ganz den Kindern, besonders unserem Jüngsten gegolten. Kein Wunder, dass Ulrike sich Chancen ausgerechnet hatte.
"Du hast doch nichts getan.", meinte ich. Paul schwenkte das fast leere Glas und sah mich mit einem sehr intensiven Blick an.
"Ich liebe dich. Nur dich", sagte er. Dann trank er den Grappa aus und ich tat es ihm gleich. "Komm", forderte er mich auf.
Die paar Schritte zum Auto.
Er nahm mich an die Hand.
Hielt mir die Tür auf.
Strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich stand in Flammen, seine Berührungen brannten auf meiner Haut.
Die kurze Fahrt.
Seine Hand auf meinem Oberschenkel.
Das Kribbeln in mir.
Die süße Lust.
Er parkte den Wagen vor der Werkstatt.
Still und dunkel lag der Hof da.
Wir sahen uns in die Augen und endlich küsste er mich.
Und wie.
Schwer atmend ließ er von mir ab.
Sein Brustkorb hob und senkte sich unregelmäßig.
Nochmal trafen sich unsere Lippen.
Wild tanzten unsere Zungen.
Keuchend löste ich mich aus dem Kuss.
Ohne ein weiteres Wort steig ich aus dem Wagen.
Paul folgte mir zur Haustür, die ich mit zitternden Händen öffnete.
Zischend drängte ich mich dann an ihn.
Fuhr mit meinen Händen unter sein Hemd.
Er zögerte nicht. Seine starken Arme hoben mich hoch und er trug mich ins Schlafzimmer.
Es war lange her, dass ich ihn so gewollt hatte.
All meine Sinne waren geschärft.
Jede Berührung, jeder Kuss ließ mich erzittern.
Es war ein fast gieriger Akt, bei dem unser Verlangen uns fest im Griff hatte.
Wie gut es tat.
Wie befreiend es war.
Wir ließen uns dennoch Zeit.
Spielten ein wenig miteinander und beobachteten den anderen genau.
Als ich erbebte und meine Lust auf dem Höhepunkt ankam, war ich unfassbar glücklich.
Immer noch zitternd hielten wir uns umschlungen und Paul flüsterte mir ins Ohr, dass er uns vermisst hatte.
Niemals, so schwor ich es mir in dieser von Leidenschaft geprägten Nacht, durften wir uns aus den Augen verlieren. Nie mehr wieder. Denn nur zusammen, das war mir klarer als je zuvor, konnten wir alles schaffen. Ich ahnte ja nicht, wie wichtig das werden würde.
Die Monate kamen und gingen. Paul hatte eine neue Assistentin eingestellt, eine tüchtige Frau um die 50, die für eine lange Zeit die Seele der Firma wurde. Der Freitagabend blieb unser Abend. Und jeden Freitagnachmittag kam Margarete und nahm Martin über Nacht zu sich. Der kleine Kerl freute sich auf diese Stunden mit der Omama und erzählte uns jeden Samstag eifrig, was sie unternommen hatten. Zirkus, Hallenbad, Zoo, Kletterpark, Museum, Kochen, Spiele und so weiter. Auch im Nachhinein finde ich es spannend, wie sich die Kinder die Großeltern mehr oder weniger aufteilten. Beide Jungs liebten Elli und jene war der gemeinsame Nenner der Brüder. Doch während Martin ganz eng mit Margarete war, wurde Jan mit meiner Mutter nicht warm. Und sie verletzte ungemein, dass er als Baby kaum zu beruhigen war, wenn sie ihn hielt. Jans Anlaufstation blieb Jakob.
Unser Jüngster brauchte für alles ein bisschen länger. Das war aufgrund seiner Vorgeschichte nun nicht verwunderlich, aber wir blieben natürlich besorgt. Wir dachten an Martins erste Schritte, an seinem ersten Geburtstag. Jan machte seine ersten Versuche fast 8 Wochen später. Aber ich weinte dennoch vor Glück, als er mit Jakob an der Hand eifrig übte und selbst strahlte, als es endlich klappte. Sein erstes richtiges Wort war dann auch 'Opa´. Und Pauls Vater strahlte wie ein Honigkuchenpferd. Kaum dass Jan einigermaßen sicher auf zwei Beinen unterwegs war, folgt er seinem großen Bruder auf Schritt und Tritt. Für den war der Kleinere nun deutlich interessanter, konnte man nun doch schon ganz gut miteinander spielen. Und Jan himmelte ihn an. Wollte alles mit- und nachmachen. Was natürlich nicht klappte und oft genug war er Martin auch im Weg. Bei den wilden Spielen mit dessen Freunden konnte er nicht mithalten, wie auch? Häufig versteckte sich Martin im Baumhaus und ärgerte ihn damit, dass er nicht hinterher klettern konnte. Es war Jakob, der den vor Zorn brüllenden Jan einsammelte uns ihn ablenkte. Schon mit eineinhalb saß Jan fasziniert auf Jakobs Schoß, wenn der aus Holz Spielzeuge bastelte. Die Werkstatt blieb ihr kleines Reich, für eine sehr lange Zeit.
Im nächsten Sommer bauten wir den Wintergarten an. Ellis Klavier fand endlich einen Platz und es war so schön, ihr beim Spielen zuzuhören. Besonders Jan zogen die Töne magisch an und er saß schon als kleiner Bub andächtig dabei, wenn Ellis Finger über die Tasten glitten. Martin musste man jedoch jegliches musikalisches Talent absprechen. Dafür konnte er schon ein bisschen lesen, als er kurz nach Jans zweitem Geburtstag eingeschult wurde. Stolz posierte er mit seiner Schultüte und ich sehe es heute noch vor mir. Partout wollte er den Weg zur Grundschule an diesem Samstag nicht an meiner Hand gehen, er sei jetzt schließlich groß, erklärte er mir. Jan folgte ihm staunend und wollte später unbedingt helfen, die Tüte auszupacken. Es war das erste Mal, dass Martin Jan regelrecht von sich stieß. Eigentlich hatten wir gedacht, die Eifersucht habe sich gelegt und wir waren über das rüde Verhalten unseres Ältesten erschrocken. Jan vergötterte ihn und konnte mit der Zurückweisung überhaupt nicht umgehen. Es trübte den Einschulungstag ein wenig und Paul führte am Abend ein längeres Gespräch mit Martin. Trotzdem habe ich vor allem in Erinnerung, wie unser Sohn auf den Fotos strahlt, seine Zahnlücken entblösst und mit einem sehr frechen Grinsen mit seinen Spielkameraden um die besten Plätze im Klassenzimmer streitet.
Bei Martin war es höchste Zeit geworden, dass die Schule los ging. Er fühlte sich vom ersten Tag an pudelwohl. Kam gut mit, war regelrecht clever und wickelte seine erste Lehrerin um den Finger. Seine ganze Grundschulzeit blieb geprägt von Streichen. Was waren wir in dieser Schule. Und jeder bestätigte uns, dass Martin ein heller Kopf war. Der ohne Mühe lernte und eine sehr schnelle Auffassungsgabe besaß. Paul lachte damals und überlegte laut, was wohl aus dem Jungen alles werden könnte, wenn er nur ein wenig fleißiger wäre und weniger Flausen im Kopf hätte. Auch hier erlebten wir das Phänomen des Erstgeborenen. Die Traumschwangerschaft. Das grundzufriedene Baby und sonnige Kleinkind war ein schlaues Grundschulkind geworden. Man ahnt vielleicht, dass Jan in allem der vollkommene Gegenpol sein könnte. Und vielleicht war es auch absehbar, dass Martin rebellierte. Wir aber haben nichts davon kommen sehen. Und schon gar nicht die Wucht.