Auch aus medizinischer Sicht entschieden wir uns gegen weitere Kinder. Die letzten zwei Jahre hatten uns außerdem gezeigt, dass wir mit unseren Söhne und unserem Leben alle Hände voll zu tun hatten. Ob ich gerne ein Mädchen gehabt hätte? Natürlich. Ich würde lügen, wenn ich das verneinen würde. Paul tröstete mich, als wir nach langen Gesprächen entschieden, das Risiko einer weiteren Schwangerschaft nicht einzugehen. Er wies mit einem Zwinkern darauf hin, dass die Jungs früher oder später Mädchen mit nach Hause bringen würden und mit ein wenig Glück wären uns die Freundinnen oder spätere Partnerinnen ja ein Tochterersatz. Noch wollte ich davon nichts hören, noch waren die Buben ja klein.
Während Jan ein sensibles, stilles und anfälliges Kind blieb, hielt uns Martins Energie auf Trab. Während Jan im Kindergarten wirklich keine Kinderkrankheit ausließ, war unser Ältester kaum klein zu kriegen. Im Verein mischte er längst in der nächsthöheren Altersgruppe mit, Zuhause hatte er immer eine Schar Freunde zu Gast und in der Schule lief alles wie von selbst. Kaum, dass er aber am Mittag nach Hause kam, lief Jan ihm nach. Er saß bei den Hausaufgaben neben ihm und versuchte mit seinem Bruder Schritt zu halten. Mit mäßigem Erfolg. Immer öfter zog Martin mit seinen Schul- und Vereinskameraden los. Jan wurde oft von Jakob und Elli getröstet. Stundenlang saß der Kleine in der Werkstatt, im Stall oder mit am Klavier. Elli erteilte ihm schon mit knapp Vier die ersten Lektionen.
Pauls Firma wuchs weiter und ich arbeitete am Vormittag wieder mit. Langsam wurde aber die Einliegerwohnung zu klein. Wir überlegten lange hin und her, wie es weitergehen sollte. Expandieren oder Aufträge absagen? Es beschäftigte meinen Mann sehr. Wir rechneten viel, machten Pläne und verwarfen sie wieder. Elli und Jakob boten gar an, den Kotten ganz aufzugeben und in die Einliegerwohnung umzuziehen.
"Dann könnt ihr das Häuschen abreißen und neu bauen", meinte Jakob an einem Abend. Wir saßen in der Küche, die Kinder schliefen seit ein paar Stunden.
"Den Ausbau könnte ich selbst machen, bestimmt finden sich noch ein paar helfende Hände", schob Pauls Vater nach. Doch Paul schüttelte den Kopf.
"Ihr fühlt euch in dem Häuschen wohl, das ist Blödsinn."
Doch ich konnte sehen, wie es in ihm arbeitete. Der Neubau reizte ihn, das hatte er mir schon oft gesagt. Es gab auch neue Gewerbegrundstücke am anderen Ende des Dorfes. Aber er hatte Angst, dass wir uns übernehmen könnten, auch wenn die Firma gut lief. Immerhin war der Hof noch nicht komplett bezahlt.
"Was, wenn ihr die Einliegerwohnung vermietet? Wenn das Büro raus ist, wäre das doch möglich. Ließe sich damit die Finanzierung nicht besser stemmen?", fragte Elli. Ja, auch darüber hatten wir schon gesprochen, aber der Gedanke, dann fremde Menschen im Haus zu haben, gefiel uns nicht sonderlich gut. "Aber wieso denn fremd?", fragte Jakob erstaunt. Interessiert hob Paul den Kopf.
"Weißt du jemanden?", wollte er wissen. Sein Vater wog den Kopf hin und her.
"Ich höre mich mal um. Kommt nicht Sanders Junior wieder zurück? Du weißt schon, Ludgers Sohn? Der soll doch die Kanzlei übernehmen."
Kurz lag Pauls Stirn in Falten, dann brummte er zustimmend.
"Ulrich. Klar. sowie ich weiß hat der ja auch Familie. Aber werden die nicht bei Ludger und Henriette unterkommen?", fragte Paul. Währenddessen erklärte mir Ellis leise, dass jener Ulli und Paul zusammen Abitur gemacht hatten und in jener Zeit gute Freunde gewesen waren. Danach war Ulli nach Hamburg gezogen und hatte dort Jura studiert. Und seine Frau kennengelernt.
"Ein oder zwei Kinder haben sie, soweit ich weiß. Klar, irgendwann werden die selbst bauen, aber übergangsweise?" Fragend sah Jakob uns an. Da Sanders offenbar eine Großfamilie waren, konnten sie nicht längerfristig bei den Eltern im Haus unterkommen. Während ich nach oben lauschte, da ich glaubte, einen der Jungen gehört zu haben, rechnete Jakob grob eine vertretbare Miete aus.
"Du weißt, dass über meine Kontakte immer noch das Vorkaufsrecht auf eines der Grundstücke besteht", erinnerte mein Schwiegervater seinen Sohn. Ich glaube, niemand war jemals so gut vernetzt und beliebt wie Jakob. Nun war deutlich Jans Stimme zu hören, so dass ich vom Tisch aufstand. Im Vorbeigehen strich ich meinem Mann über die Schulter und schlug vor, dass wir uns ja mal mit seinem alten Schulfreund treffen könnten.
Jan saß in seinem Bett und weinte, als ich sein Zimmer erreichte. Ich nahm ihn eilig hoch und versuchte ihn zu beruhigen. Gleichzeitig hoffte ich, dass er zumindest Martin nicht geweckt hatte. Seit einigen Nächten holte er uns regelmäßig aus dem Schlaf und mehr als einmal hatte ich ihn schlussendlich mit ins Ehebett genommen. Oft bestand er darauf, dass wir überall nachsahen, ob sich wirklich kein Monster versteckte. Oder ein Werwolf. Oder böse Zwerge, die ihn verzaubern würden. Innerlich schimpfte ich mit Martin, der sich einen Spaß daraus machte, Jan Gruselgeschichten zu erzählen. Wir hatten das zwar diskutiert, aber offensichtlich brauchte er eine klarere Ansage. Ich lief mit Jan auf dem Arm durchs Zimmer und aus dem Weinen wurde ein Schniefen. Irgendwann hatte er sich dann müde an meine Schulter gelehnt. Seine Augen zeugten von der Müdigkeit, aber er wehrte sich gegen den Schlaf. Ich streichelte ihm über den Rücken und versprach ihm, dass er hier Zuhause sicher war. Aber auch heute entließ er mich nicht. Sobald ich ihn wieder in sein Bett legen wollte, floßen Tränen. Als wir später mit dem unruhigen Kind im Schlafzimmer lagen, traf Paul ein paar Entscheidungen.