Als das Schicksal das erste Mal grausam zuschlug, wähnten wir uns in Sicherheit. Rund um Weihnachten war viel Ruhe eingekehrt. Martin schien beschlossen zu haben, dass er mit 13 zu den Erwachsenen gehörte und verhielt sich auffällig vorbildlich. Er genoss sichtlich, dass er und Paul sich näher waren als je zuvor. Lebhaft interessierte er sich für Pauls Beruf und besuchte seinen Vater häufig im Büro. Zuhause kam er ohne Murren kleineren Aufgaben nach, half abends weiterhin Elli beim Füttern der Pferde und er unterstützte hier und da Jan bei dessen Hausaufgaben. Es war ein Segen, dass der Kleine voller Bewunderung seinem Bruder zuhörte und diesen unbedingt beeindrucken wollte. Dazu kam, dass die Musiklehrerin der Grundschule auf unseren Jüngsten aufmerksam geworden war.
Offenbar hatte Jan in einer Pause heimlich am Klavier im Probenraum der Schule gesessen und gespielt, was Elli ihm beigebracht hatte. Sonja Wittkamp hatten wir viel zu verdanken, haben es bis heute. Oft denke ich noch an sie und bin voller Dankbarkeit. Sie nahm Jan in die Musik-AG auf. Ließ ihn spielen und vor allem singen. Sie riet uns eindringlich, das Talent des Jungen zu fördern und empfahl ihn auch an den Schülerchor. Eigentlich war Jan als Zweitklässler hierfür zu jung, doch Frau Wittkamp setzte sich für ihn ein. Und endlich hatte Jan etwas, wo er sich nicht mit seinem Bruder messen musste. Die Übungsstunden unter der Woche bedeuteten ihm viel. Paul hatte zur Bedingung gemacht, dass die schulischen Leistungen und die Hausaufgaben nicht leiden durften. Dies ging eindeutig vor und Jan strengte sich wirklich an. Er folgte dem Unterricht aufmerksamer und wirkte auch insgesamt gelöster.
Mitten in diese Verschnaufpause, als Martin auf dem besten Weg schien, seinen Platz zu finden und auch Jan Selbstvertrauen tankte, platze Ellis Krebsdiagnose.
Bauchspeicheldrüse.
Es zog uns allen den Boden unter den Füßen weg.
Aus dem Nichts.
Vollkommen unvorbereitet.
Mit brachialer Gewalt.
Jakob traf es tief. Er alterte unglaublich, von einem Tag auf den anderen wurde sein Haar weiß. Paul versuchte zu begreifen, was nicht zu begreifen war. Er würde seine Mutter verlieren. Die Erkenntnis überrollte ihn. Ihre Chancen standen von Anfang an schlecht. Jan spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte. Noch ehe wir mit den Jungs darüber sprachen, suchte er Ellis Nähe. Folgte ihr still über den Hof, lehnte sich beim Klavierspielen eng an sie und er träumte schlecht.
Und Martin?
Wir wurden erneut Zeugen, wie unterschiedlich unsere Söhne waren. Unser Großer hatte es nicht geahnt. Da wir wollten, das die Beiden noch in den positiven Phasen der Erkrankung Ellis bewusst Zeit mit ihrer Oma verbringen und sich so auch verabschieden konnten, sagten wir es ihnen rechtzeitig. Wir machten es zusammen. Paul. Ich. Jakob. Und Elli selbst.
Wie aber erklärt man so etwas? Wie bereitet man seine Kinder auf so etwas vor? Man kann es nur versuchen. Einfühlsam. Geduldig. Wir erklärten es so, dass auch der damals achtjährige Jan es verstehen konnte. Der sah uns still mit ruhigem Blick an und reagierte kaum. Fast konnte man den Eindruck gewinnen, dass er es längst gewusst hatte. Seine Reaktion sollte später kommen. Martin hörte uns aufmerksam zu. Man konnte in seinem Gesicht ablesen, wie das Verstehen und Begreifen Besitz von ihm nahm. Mit zitternden Lippen saß er am Tisch. Schließlich sprang er auf und rannte hinaus. Er versteckte sich ein paar Stunden im Baumhaus. Danach löcherte er uns mit Fragen.
Gab es wirklich keine Hilfe?
Keinen Retter irgendwo auf der Welt?
Wie lange blieb Elli?
Würde es lange dauern?
Würde sie sehr leiden?
Er war war jeden Tag bei ihr, bis fast zum Schluss. Ließ sich von ihr alle Eigenarten der derzeit eingestellten Pferde erklären. Wollte von ihr alles wissen, was sie in ihrem Leben erlebt und gelernt hatte. Wie sie Jakob kennen gelernt hatte. Er saß stundenlang bei ihr, lauschte den Geschichten und Ratschlägen. Als Elli immer schwächer wurde, weinte er bitterlich.
Kurz vor Ostern stand Jans erstes Schulkonzert an. Elli mobilisierte ihre letzten Kraftreserven. Unbedingt wollte sie ihn auf dieser Bühne singen und spielen hören. Ich saß an diesem Nachmittag neben ihr, hielt ihre Hand in meiner und drückte sie fest, als sie zu weinen begann. Auch sie mahnte uns und rang insbesondere Paul das Versprechen ab, ihn in seinem Talent zu fördern. Ihn niemals aufzugeben. Das Klavier, so sagte sie an diesem Tag mit brüchiger Stimme, war nur Jans Eintrittskarte gewesen. Singen, so war sie sich sicher, das war seine Bestimmung. Wie Recht sie behalten sollte. Es war ihr letzter Ausflug. Das letzte Aufbäumen vor dem Unvermeidlichen.
Elli starb Zuhause, wie sie es sich gewünscht hatte. Sie schlief an einem Nachmittag friedlich ein, Jakob hielt dabei ihre Hand. Seine Trauer erschüttert mich, obwohl er nach außen unfassbar gefasst blieb. Er litt still und versuchte es mit stolz zu ertragen. Tat das, was er glaubte, tun zu müssen. Er zimmerte eigenhändig Ellis Sarg und zusammen mit unseren Söhnen bemalte er diesen. Martin wollte seine Oma unbedingt nochmal sehen und ließ sich davon nicht abbringen. Jan dagegen nahm die Todesnachricht beinahe teilnahmslos auf.
Am Abend vor der Beerdigung hörten wir Martin zu, der seine Trauer versuchte zu verstehen und der darüber reden wollte. Jan schwieg und ich beobachtete ihn nachdenklich, als er sich fürs Bett fertig machte. Er war still, wie oft. Aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Alt. Das schoss mir durch den Kopf. Wie konnte ein so junges Kind so alte Augen haben? In der Nacht bewies er uns erstmals, wie alt er in seiner Seele war.
Ich saß senkrecht im Bett und werde vermutlich niemals vergessen, wie Jan aus dem Nichts los schrie. Als ich in seinem Zimmer ankam, zitterte er und war leichenblass. Er weinte und kroch in meine Arme. Nur mit Mühe bekam ich heraus, was ihn umtrieb, was ihn aus dem Schlaf geholt hatte. Immer wieder schüttelte es den Kleinen durch. Langsam setzte sich ein Bild zusammen. Er hatte von Elli geträumt und im Halbschlaf begriffen, dass sie nie wieder kommen würde. Dabei hatte ihn die Erkenntnis ereilt, dass alle Menschen irgendwann sterben mussten. Also auch Paul und ich.
Und er selbst.
Da es vollkommen ruhig im Haus gewesen war, hatte er furchtbare Angst bekommen. Dass uns etwas passiert war. Und er hatte sich versucht vorzustellen, wie es sich anfühlen musste, nichts mehr zu fühlen. Tot zu sein. Das hatte seine Angst nur noch verstärkt, das ging über das Begreifen eines kaum Neunjährigen hinaus. Paul lehnte am Türrahmen, während ich versuchte, ihn zu beruhigen.
"Ihr dürft nie sterben", schluchzte Jan. Ich warf meinem Mann einen hilflosen Blick zu. Dies hier ging eindeutig über Monster im Schrank oder böse Trolle im Wald hinaus. Wir blieben beide bei dem Jungen, bis er wieder eingeschlafen war. Mit Händen und Füßen hatte er sich zunächst dagegen gewehrt. Ich war gerade erst wieder unter meine eigene Decke geschlüpft, als er erneut nach mir rief.
Jan schrie und tobte. Ich nehme es vorweg, eine Woche lang quälten das arme Kind Albträume. Er schlief kaum, keinesfalls alleine oder im Dunkeln. Wir konnten ihn weder auf die Beerdigung mitnehmen noch in die Schule gehen lassen. Jan verweigerte beinahe jedes Essen, spuckte viel und reagierte mit Fieberanfällen. Heute weiß ich, dass es nicht vorrangig die Trauer um seine Oma war, sondern die Ängste, die sich in seiner Seele festsetzten. Er sprach aber nach der ersten Nacht nie wieder darüber. Wir versuchten in diesen Tagen zu funktionieren. Pauls gesamte Familie war zur Trauerfeier angereist. Doch ich war es, mit der Jakob hinter dem Sarg her ging. Paul folgte mit Martin, meine Mutter passte Zuhause auf Jan auf.
Ellis Tod hatte eine große Lücke gerissen. Jakob trauerte sehr um die Liebe seines Lebens. Mehr als einmal boten wir ihm an, dass er ganz ins Haupthaus, zu uns, ziehen könnte. Doch er wollte unbedingt in dem kleinen Häuschen bleiben, in dem er mit Elli die letzten schönen Jahre verbracht hatte und in dem sie gestorben war. Natürlich vermisste Paul seine Mutter. Wir sprachen viel über sie, wenn wir abends alleine in der Stube zusammen saßen. Über ihre Herzenswärme. Ihren Mut. Ihre offene und einnehmende Art. Ihrem Sinn für Humor. Sie fehlte uns.
Ihr Platz in der Familie war besonders gewesen. Der kleinste gemeinsame Nenner unserer Söhne. Die auch in den Wochen bis zu den Sommerferien vollkommen unterschiedlich mit dem Verlust umgingen. Martin fiel in alte Verhaltensmuster. Auch er ließ uns nicht an sich heran, zeigte viel Trotz und rebellierte gegen alles, was wir sagten. Ich war heilfroh, als die Ferien begannen und wir nach Texel fahren konnten. Vielleicht würde ihm die Zeit auf der Insel helfen. Dort würde er sich austoben können und mit etwas Glück zur Ruhe kommen. Erstmals begleitete uns Jakob, auch er brauchte dringend eine Luftveränderung.
Zwischen Martins Streitlust, Jakobs Trauer und Pauls Versuchen, allem gerecht zu werden, übersahen wir, wie Jan litt.
Weil er es im Gegensatz zu seinem Bruder leise tat. Und wir haben nicht aufgepasst. Bemerkten nicht, dass Jan sich in eine ganz eigene Welt flüchtete. Das kann ich mir bis heute nicht verzeihen. Vieles, was dann später passiert ist, dürfte seine Ursachen in diesen Monaten haben. Jan kroch in ein Schneckenhäuschen und seinen Kopf steckte er nur hinaus, wenn es um die Arbeit in der Werkstatt ging oder für die Chorproben. Seine Welt geriet ins Wanken, als ihm der Halt aus diesen beiden Bezugspunkten genommen wurde.
Paul und ich aber konnten das damals nicht sehen. Oder doch? In den langen Nächten viele Jahre später habe ich versucht den Punkt zu finden, an dem ich es hätte sehen müssen. Eingreifen müssen. Paul schüttelte dazu den Kopf und fragte, was es jetzt, im Nachhinein ändern würde. Nichts. Das ist richtig. Aber ich bin seine Mutter. Bin ich nicht verantwortlich? Schuld? Habe ich meinem Sohn das Leben unnötig schwer gemacht? Hier nicht aufgepasst und die spätere Fehlentscheidung als direkte Folge aus dieser Zeit? Manchmal wünsche ich mir, ich könnte zurückgehen in der Zeit. Nochmal die Chance bekommen.