Der Herbst kam.
Und mit ihm Veränderungen.
Sanders zogen mit den mittlerweile vier Söhnen aus der Einliegerwohnung, die längst zu klein geworden war, aus. Sie hatten das Nachbargrundstück gekauft und dort neu gebaut. Zu Jans und Alex´ großer Freude konnten sie über die Wiese einfach zum jeweils anderen laufen. Es erleichterte uns, dass die Freundschaft der beiden Jungen sich weiter festigte. Alex war ein helles Köpfchen, der seinem verträumten Freund auch während des Unterrichts half. Immerhin schien sich Jan nach dem Tod Ellis langsam zu fangen. Manchmal setzte er sich wieder ans Klavier und für einen Moment dachte ich, Elli wäre noch bei uns.
Auch abends beim Füttern der Pferde spürte ich ihre Anwesenheit.Ich stellte mir vor, wie sie mit den Pferden sprach, welche Tipps sie mir geben würde. Ich sah sie vor mir, wie sie lächelnd eines der Tiere streichelte und fühlte mich ihr hier sehr nah. Jakob arrangierte sich langsam mit seinem neuen Leben als Witwer. Einmal pro Woche spazierte er alleine zum Friedhof und wir redeten natürlich noch viel über sie. Sie fehlte uns allen, aber eben ganz besonders Martin.
Die Situation mit ihm eskalierte über den Herbst hinaus immer weiter. Erstmals lieferte er Klassenarbeiten ab, in denen er nicht ein Wort zu Papier gebracht hatte. Beim Fussball wurde er zweimal vom Platz gestellt und stand kurz vor dem Rauswurf aus der Mannschaft. Er hatte sich so mit einem anderen Spieler geprügelt, dass der genäht werden musste. Der Prügelei sei ein massiver Streit vorausgegangen, so Martins Trainer. Unser Sohn trotze und weigerte sich uns zu erzählen, was hier vorgefallen war.
Nur ein paar Tage zuvor hatte er bei einem Streit seinen Lehrer geohrfeigt. Obwohl auch sein Klassenlehrer davon überzeugt war, dass er an und für sich ein guter Schüler war, stand er nicht nur deswegen kurz vor dem Verweis der Schule. Dazu drohte nun eine Anzeige.
Paul und ich zerbrachen uns den Kopf. Wir waren nun 15 Jahre verheiratet und bis dahin hatte uns wirklich wenig erschüttern können. Ja, es hatte Tiefs gegeben. Aber bisher waren wir aus jeder Krise herausgekommen. Doch Martin führte uns wirklich an einen schlimmen Punkt. Und wir stritten auch zum ersten Mal ernsthaft. Paul warf mir vor, zu viel Verständnis zu haben. Martin brauchte aus seiner Sicht mehr Strenge. Feste Zügel. Dennoch bog er es dann doch so hin, dass die Eltern des Sportkameraden auf eine Anzeige verzichteten. Dazu machten wir uns schlau, welche Schule in der näheren Umgebung Martin auch während des Schulhalbjahres einen Wechsel ermöglichen würde. Und wir führten sehr viele und sehr intensive Gespräche mit ihm. Irgendwann ließ er die Maske des bockigen Teenagers fallen. Es war Jakob, der uns geraten hatten, ihn nicht mehr wie ein kleines Kind zu behandeln. Martin wurde immerhin in wenigen Tagen 14.
Wie so oft war der Rat meines Schwiegervaters Gold wert. In späteren Jahren habe ich ihn auch deswegen sehr vermisst. Schlussendlich fanden wir ein Wirtschaftsgymnasium. Mir fiel ein Stein vom Herzen, dass Martin das Halbjahr an seiner alten Schule zu Ende bringen durfte. Niemand dort wollte ihm mehr Steine in den Weg legen, als nötig. Die neue Schule punktete zudem mit einer Entscheidung, die uns zunächst überrascht hatte. Dort war man nach ein paar Einstufungstests und Gesprächen zum Ergebnis gekommen, dass sich Martin im Unterricht unterfordert fühlte. Sie ließen ihn eine Klasse überspringen. Und wir kamen aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Endlich musste sich Martin ein wenig mehr anstrengen und er war wirklich fleißig. Dazu absolut motiviert. Er gab jüngeren Kindern Nachhilfe und verdiente sich so etwas zu seinem Taschengeld dazu.
Im Frühjahr atmeten wir durch. Martins Lehrer waren mehr als zufrieden und der Junge lachte wieder. Wir feierten Pauls 40. Geburtstag mit einer großen Gartenparty. Wieder kamen all seine Geschwister zusammen und einen Moment dachten wir daran, dass dies zuletzt vor fast einem Jahr der Fall gewesen war. Ich beobachtete Jakob. Der saß mit Jan etwas abseits. Mein Schwiegervater war mittlerweile ganz weiß geworden, bis in die Bartspitzen. Er bastelte mit unserem Sohn an einem Spielzeug und erklärte mit ruhigen Worten. Ich musste schmunzeln, als ich erkannte, dass er dabei Inhalte des derzeitigen Schulstoffs einfließen ließ.
Im Laufe der kommenden Woche hatten wir ein Elterngespräch mit Jans Klassenlehrerin, so langsam ging es um die weiterführende Schule. Trotz allem Kummer hatte sich Jan stabilisiert. Ich glaube auch heute noch, dass es der Anreiz auf die Musik-AG und den Chor war, der Jan hier beeinflusste. Paul hatte zudem in Aussicht gestellt, dass er bei guten Noten über weiteren Klavierunterricht nachdenken wollte. Jan hatte uns damit in den Ohren gelegen, als er einen Aushang in der Kirche gesehen hatte. Ich hätte ihm am liebsten diesen Wunsch sofort erfüllt, rein finanziell konnten wir uns das leisten. Es kam selten genug vor, dass Jan hartnäckig an etwas dran blieb.
Ich sah den Beiden noch einen Moment zu, dann ließ ich meinen Blick über die restlichen Gäste wandern. Meinen Mann entdeckte ich zwischen seinen Brüdern. Er lachte gerade und schlug seinem älteren Bruder auf die Schulter. Alle drei hatten Bierflaschen in der Hand und wirkten ausgelassen. Auf der Wiese tobten Martin und seine Cousinen mit Sunny umher. Endlich erfüllte wieder Ausgelassenheit den Garten. Mir wurde ganz leicht ums Herz. Meine Schwägerinnen hatten gerade die Kaffeetafel abgetragen. Meine Mutter und meine Schwester, die für ein paar Arztbesuche in der Heimat weilte, saßen in ein Gespräch vertieft auf der Terrasse. Familie, so viel Familie. Zum abendlichen Grillen würden noch Freunde dazu kommen und ich freute mich auf den gemütlichen Ausklang.
"Na, über was denkst du nach?", flüsterte es plötzlich hinter mir. Ich war völlig in Gedanken gewesen und erschrak, als Paul mich ansprach.
"Seit wann bist du so schreckhaft?", wollte er wissen und zog mich in seine Arme. Ich lehnte mich sanft gegen ihn. Genoss seine Wärme und Nähe, ignorierte, dass sein Atem nach Bier roch.
"Jetzt wird alles gut", murmelte ich. Paul seufzte. Er drehte mich, so dass er mir in die Augen sehen konnte.
"Natürlich", bestätigte er ein paar Sekunden später.
Mit gemischten Gefühlen hatten wir das Lehrerzimmer geklopft und saßen nun Jans Klassenlehrerin gegenüber.
"Ihr Sohn kämpft sich durch, das muss man ihm lassen", erzählte uns Frau Horstkötter lächelnd. Sie war es gewesen, die Jan im schwierigen zweiten Jahr nicht hatte fallen lassen. "Keine Frage, er kommt nicht überall gleich mit und muss vieles er auch mehrfach gezeigt oder erklärt bekommen. Aber was sich sehr deutlich verändert hat ist, dass er eben auch will." Sie studierte ihre Notizen und fasste zusammen, was die Fachlehrer ihr übermittelt hatten.
Jan war gut beim Sport und Musik, beim Werken und in Religion. In Deutsch hatte er sich deutlich verbessert und beim Rechnen hatte er viel aufgeholt. Beim Zeichnen blieb er allerdings ablenkbar und in Sachkunde träumte er oft. Doch immerhin waren seine Leistungen nicht mehr so bedenklich schlecht. Ein paar Zweien hatte er unlängst mit nach Hause gebracht und vor lauter Stolz gestrahlt.
"Es ist keine Unmöglichkeit, dass er eine ordentliche Weiterempfehlung bekommt." Nun sah sie uns ernst an. "Ich will ganz offen sein. Die Befürchtung, dass Jan nur auf die Hauptschule wechseln kann, haben Sie ja bestimmt auch schon gehabt. Wir brauchen nicht darüber reden, dass er dort untergehen könnte. Ich sehe ihn da auch nicht. Mit ein bisschen Glück sehe ich ihn aber hier." Sie schob uns eine Broschüre entgegen.
Ich sah zu Paul, der zögernd nach dem Papier griff. Ausführlich sprachen wir über die Privatschule, die neben einem naturwissenschaftlichen Zug auch einen Schwerpunkt in Musik setzte. Vor allem die kleinen Klassen und die intensive Lernbetreuung schienen wie für Jan gemacht. Ein Ganztageskonzept, welches ihn zudem von einem Großteil der Hausaufgaben befreien würde. Das I-Tüpfelchen war aber, dass sich erst in Klasse 10 entscheiden würde, ob er auch sein Abitur würde machen können. Allein das Schulgeld trieb Paul ein paar Falten auf die Stirn. Mich interessierte zunächst hauptsächlich, welche Voraussetzungen Jan würde erfüllen müssen.
"Er braucht eine klare Realschulempfehlung und wird sich dort einer Aufnahmeprüfung unterziehen müssen. Da Sie ihn vermutlich für die Musikklasse anmelden wollen, wird erwartet, dass er schon ein Instrument beherrscht und seine Chorerfahrung dürfte beim Vorsingen helfen." Ich musterte Paul, der ruhig zugehört hatte.
"Dann sollten wir wohl doch in den Klavierunterricht investieren", brummte er leise vor sich hin. Frau Horstkötter lachte.
"Naja, die Blockflöte kann er auch ganz ordentlich einsetzen, aber besser wäre natürlich das Klavier. Frau Wittkamp kennt die Schule ganz gut, ihr Mann unterrichtet dort. Vielleicht unterhalten Sie sich mal mit ihr. Sie hat auch mich auf diese Idee gebracht." Ich schüttelte den Kopf. Und wusste gar nicht, was ich sagen sollte.
"Weiß Jan davon?", erkundigte ich mich. Seine Klassenlehrerin verneinte. Betonte aber auch, dass sie die Schule für eine ideale Lösung hielt. "Vielleicht ist der Tag der offenen Tür ja eine gute Gelegenheit, hinein zu schnuppern. Unter Umständen auch mit ihrem Sohn." Sie deutete auf dein Datum, kurz vor den Sommerferien. Darunter stand ein weiteres Datum und ich schluckte.
"Die Bewerbung wird ab dem Schuljahresbeginn für das Folgejahr erwartet und muss bis zu den Herbstferien vollständig sein?", fragte ich. "Aber da haben wir doch noch gar kein Zeugnis und keine Empfehlung." Wieder lächelte sie milde.
"Nein, damit sichern Sie nur den Platz auf der Warteliste. Wir schreiben eine Empfehlung, Jan wird in den Herbstferien eingeladen zum Musizieren und aus diesem Eindruck festigt sich seine Bewerbung. Die Schule kann ihn auch ablehnen, immerhin entscheidet man dort selbst." Paul berührte mich am Arm.
"Jetzt mal langsam. Wir werden uns die Schule auf jeden Fall ansehen und ich möchte auch ein bisschen mehr über deren Schwerpunkte und so weiter wissen. Danach erst sollten wir überlegen, ab wann wir Jan einbeziehen. Gerne dann zu diesem Tag im Sommer", meinte er. "Doch wir sollten ihm keinen Floh ins Ohr setzen. Ich möchte, dass er weiterhin konzentriert lernt und von mir aus auch konzentriert Klavierstunden nimmt." Ich biss mir auf die Lippen. Zumindest den Klavierunterricht würde Jan also schneller angehen können, als er selbst ahnte.
Zuhause wurden wir gespannt erwartet. Unsicher sah Jan uns entgegen, als wir aus dem Auto stiegen. Klar, zu oft waren unangenehme Anlässe Auslöser dieser Gespräche gewesen. Er stand mit Jakob vor der Werkstatt und kaute auf seiner Lippe, als wir näher kamen. Jakob nickte uns zu und zeigte auf den Bollerwagen, der in der Sonne stand.
"Wir haben den mal ausgebessert", informierte er uns. Ich setzte mich auf die Bank vor dem Gebäude und bedeutete Jan, sich neben mich zu setzen.
"Ich hab´schon alle Aufgaben fertig. Opi hat mit mir gerechnet und Martin den Aufsatz gelesen", sagte Jan schnell. Es schien, als wollte er auf dem Absatz kehrt machen. "Ich kann die Hefte zeigen", schob er nach.
Im Grunde tat es mir unheimlich weh, wie er sofort versuchte zu zeigen, dass er sich bemühte.
"Es ist gut, wir schauen uns das nachher an", beruhigte ich ihn. Jan atmete durch und rutsche neben mich. Sein Vater ging vor ihm in die Knie und wuschelte ihm durch das dunkelblonde Haar.
"Wir sind stolz auf dich, Jan. Deine Lehrerin sagt, dass du gut mitmachst und viel lernst. Und das zeigst du uns auch hier jeden Tag." Man konnte sehen, wie wichtig Jan diese Worte waren. Doch er blieb noch mißtrauisch. Jakob zwinkerte ihm zu. "Daher haben Mama und ich uns gedacht, dass wir dir eine Freude machen möchten."
Paul grinste. Fragend sah Jan von ihm zu mir.
"Was denn?"
Ich nahm seine Hand.
"Möchtest du noch die Klavierstunden nehmen?", fragte ich. Jan riss seine Augen auf und starrte mich ungläubig an. Dann sammelten sich Tränen.
"Ach, Bub.", seufzte Jakob und lehnte sich gegen die Werkstatttür.
"Wirklich?", fragte Jan leise. Wie sehr er mich rührte. Das stille, oft so ernste Kind, das sich in diesem Moment nichtmal einfach freuen konnte. Dabei hatte er sich das wirklich verdient. Ich nickte und erklärte ihm, dass wir schon am nächsten Tag mit einem Lehrer der Musikschule verabredet waren. Da hielt es Jan nicht mehr. Er schlang seine Ärmchen um mich und drückte sich fest an mich. Zufrieden fuhr Jakob im Vorbeigehen seinem Enkel über den Rücken. Er blieb kurz vor Paul stehen und legte ihm ganz still eine Hand auf die Schulter. Dann ging er wortlos hinüber in den Kotten.
Bei Luigi sprachen wir drei Tage später darüber, ob wir uns die Privatschule würden leisten können. Seit Sanders Auszug stand die Wohnung leer. Wir hatten uns bisher nicht durchringen können, neue Mieter zu suchen. Jakob hatte uns auf die Idee gebracht, daraus eine kleine Ferienwohnung zu machen.
"Hast du Jans Gesicht gesehen, als er gestern bei Schlüter vorgespielt hat?", fragte ich meinen Mann. Die knappe Viertelstunde war Jan in seiner eigenen Welt gewesen. Und in seinem Element. Elli hatte ihm viel beigebracht und er hatte dafür Lob geerntet. Zweimal pro Woche für jeweils eine Stunde würde er jetzt unterrichtet werden. Ganz eifrig hatte er auf der Heimfahrt versprochen, dass er immer seine Hausaufgaben machen und trotzdem viel lernen würde. Noch nie hatte ich meinen Sohn so aufgeregt gesehen, noch nie hatte er so viel am Stück geredet. Und noch nie hatte er so furchtbar glücklich ausgesehen. Mit einem Lächeln war er eingeschlafen und ich hatte mich von diesem Anblick kaum losreißen können.
"Bekommen wir das hin, Paul?", fragte ich.
"Die Schule?", fragte er zurück. Er rührte nachdenklich in seinem Espresso. Dann nickte er entschlossen. Da war er, der Lichtblick. Beide Jungen brauchten einen Umweg. In Martins Fall sahen wir schon, dass er aber Früchte trug. Und bei Jan war ich voll Hoffnung. Ich musterte meinen Mann, der mir erklärte, wie er die finanziellen Modalitäten regeln wollte. Ich hörte ihm kaum zu. Fasziniert fielen mir die ersten silbernen Streifen an den Schläfen auf. Die charmanten Lachfältchen an den Augen. Und überhaupt diese Augen. Noch immer war er für mich der attraktivste Mann weit und breit. Mir sah man die beiden Schwangerschaften an. Die Hüften hatten sich irgendwie nie ganz davon erholt, obwohl auch Jan jetzt schon bald 10 Jahre alt wurde. Doch Paul versicherte mir nach wie vor sehr regelmäßig, dass ich eine wunderschöne und begehrenswerte Frau sei.
Auch in jener Nacht nahmen wir uns Zeit füreinander. Martin war bei Margarethe und Jan übernachtete bei Sanders. Natürlich hatte sich unser Liebesspiel verändert. Da war sehr viel mehr Ruhe und wir ließen uns oft sehr viel Zeit. Gerade an den Freitagabenden. Wenn die Kinder aus dem Haus waren, suchte sich auch die Leidenschaft unserer ersten Jahre ihren Weg. Es fügte sich, so dachte ich. Wir kamen erstmals seit Jahren zur Ruhe in den folgenden Monaten. Die Brüder verstanden sich besser, was sich auf das ganze Familienleben auswirkte. Und beide schienen ihren Platz gefunden zu haben.