Wie gerne ich jetzt die Pausetaste drücken würde.
Oder gleich besser Stopp? Überspringen?
Zurückgehen und die andere Abbiegung wählen?
In den letzten 24 Monaten habe ich oft darüber nachgedacht. Als das Begreifen einsetzte.Als ich verstand, dass unsere damaligen Fehler mit dafür verantwortlich waren, was in der jüngeren Vergangenheit passiert ist.
Es fing damit an, dass wir nicht nach Texel fuhren.Hätten wir es mal nur gemacht. Ob dann alles anders gekommen wäre?
Martin verbrachte viel Zeit mit seinen Freunden.
Und Karola. Seiner neuesten Flamme. Erstmals war er ein bisschen mehr als einfach nur verschossen.
Er kannte sie von der Schule, sie war in der Parallelklasse und seit ein paar Wochen gingen sie miteinander aus. Tagsüber waren sie am See, abends brachte er sie oft zum Essen mit oder er war bei ihrer Familie. Mehr als einmal saßen sie händchenhaltend und knutschend bei uns im Garten. Kurzum, die beiden waren unzertrennlich und ich bin mir bis heute sicher, dass Martin erste sexuelle Erfahrungen in diesen Wochen sammelte. Gesprochen haben wir anschließend nicht darüber, den Jungen hatten wir aber zusammen schon vor einigen Jahren aufgeklärt.
Nun, zu ersten Liebe gehörte ein erster Liebeskummer.Von einem Tag auf den anderen kam Karola nicht mehr und Martins bockiges Verhalten sprach Bände. Wir erfuhren nur häppchenweise, dass sie Schluss gemacht hatte.Wegen Bastian.
Seinem ewigen Nebenbuhler in der Schule und beim Sport.
Martin reagierte nach außen wütend und trotzig.
Ich ertappte ihn aber dabei, wie er beim Füttern der Pferde einer der Stuten sein Leid anvertraute. Verschämt wischte er sich mit einer Faust die Tränen aus den Augen, als er mich bemerkte.
"Es ist nichts", merkte er an.
Tapfer lächelte er schon wieder.
"Ach, Großer. Du hast sie gern gehabt."
Wir schwiegen, Martin lehnte seinen Kopf gegen den Hals des Tieres.
"Hab ich", gab er mit geschlossenen Augen zu.
Der Wunsch, ihn zu trösten, war beinahe übermächtig.Doch er wollte das nicht. Seine Körperhaltung war eindeutig. Ich hatte mich an die Boxentür gelehnt und nickte leicht.
"Egal, was ich dir jetzt sage, du wirst es mir nicht glauben. Daher lasse ich das. Aber ich möchte, dass du weißt, dass du mit allem zu uns kommen kannst. Zu Papa und mir. Immer. Hörst du?"
Geräuschvoll zog Martin seine Nase hoch. Nochmal fuhr er sich mit dem Ärmel durchs Gesicht. Mit der anderen Hand streichelte er Doria, die hübsche Fuchsstute.
"Klar", antwortete er und sah mich an.
In seinem Blick stand, dass er mir glaubte, aber dass er hier alleine durch musste. Ich griff nach dem Eimer. Musterte ihn nochmal.
"Alles okay, Mama. Wirklich. Ich komme gleich zum Essen", versicherte er mir. Dabei lächelte er etwas schief. Mein Mutterherz bebte ein wenig, aber ich bewunderte Martins Tapferkeit. Ich ließ ihn also alleine und respektierte, dass er seinen Kummer nicht teilen wollte. In wenigen Monaten würde er 17 Jahre alt werden. Ich fragte mich, wo die Zeit geblieben war.
Ich trat aus dem Stall und rief nach Jan, der mir beim Tischdecken helfen sollte. In den ersten beiden Ferienwochen hatte er viel Zeit mit Alex und einem weiteren Schulkameraden verbracht, aber beide waren jetzt mit ihren Eltern im Urlaub. In der Regel leistete Jan seinem Großvater in der Werkstatt Gesellschaft oder er spielte mit Sunny. Hier und da hatte er Martin angebettelt, dass der ihn mit an den See nahm, aber der hatte sich gewehrt. Zweimal war ich mit Jan im Schwimmbad gewesen. Häufig nutzte er Martins altes Baumhaus. Dort las er stundenlang oder sang leise vor sich hin. In den letzten beiden Tagen war er etwas stiller gewesen, ihn plagte eine Erkältung.
Auch jetzt tauchte er hustend in der Küche auf. Nachdem er Teller und Besteck aufgetragen hatte, ließ er sich etwas matt in Jakobs Sessel am Fenster fallen.
"Mir ist warm, Mami. Und mir ist schlecht", maulte er. Besorgt sah ich ihn mir genauer und fühlte nach seiner Stirn. Das Kind glühte regelrecht. Ich ging vor ihm in die Hocke.
"Wieso sagst du denn nichts?", wollte ich wissen. "Tut dir was weh?"
Jan schüttelte den Kopf und gleichzeitig wurde er vom Husten durchgeschüttelt. Draußen war ein Auto zu hören. Paul kam aus dem Büro. Ich hörte Sunny bellen, der den Hausherren wie jeden Abend freudig begrüßte. Jan bekundetet, dass er nichts essen, aber ins Bett wollte. Nickend stand ich auf.
"Ich mach dir eine Brühe, was hältst du davon?" Er verzog das Gesicht. Die Tür klapperte und dann stand Paul in der Küche.
"Na?", fragte er. Ich deutete zu Jan.
"Ich glaube, er hat Fieber. Der Husten hört sich auch nicht gut an. Morgen früh versuche ich gleich einen Arzttermin zu bekommen. Ich würde ihn gerne erst ins Bett bringen, ehe wir essen", erklärte ich. Auch Paul musterte Jan besorgt. Der hatte sich im Sessel klein gemacht.
Der Arzt diagnostizierte am nächsten Tag einen fiebrigen Infekt und schrieb einen Hustensaft aus. Ansonsten empfahl er Ruhe, viel Trinken und Schlaf. So richtig kam Jan bis zum Ende der Ferien nicht auf die Füße. Während Martin seinen Liebeskummer verarbeitete und sein Lachen wiederfand, kränkelte Jan weiter.
Der Infekt brach immer wieder auf und bereits in der ersten Schulwoche musste ich ihn aus dem Unterricht abholen. Morgens hatte er noch halbwegs fit gewirkt, aber jetzt hatte er wieder Fieber. Der Kinderarzt runzelte nur die Stirn, als ich nach einer schlaflosen Nacht, in der Jan fantasiert hatte, vor ihm saß. Er überwies uns zur Abklärung ins Krankenhaus, nachdem er Jan lange abgehört hatte. Es hatte mit einem kleinen Schnupfen begonnen und endete mit einer Lungenentzündung, die Jan 14 Tage Krankenhaus einbrachte. Seinen zwölften Geburtstag verbrachte er in der Klinik. Dort hatte man Gott sei Dank viel Verständnis, ich konnte die erste Woche jede Nacht bei unserem Kind bleiben.
Jan war völlig durcheinander, wollte keinesfalls alleine bleiben und Paul hatte ihn festhalten müssen, als er am ersten Tag eine Spritze bekommen hatte und ein Zugang gelegt worden war. Rasant hatte er an Gewicht verloren und obwohl sich sein Gesundheitszustand schnell besserte, machten sich auch die Ärzte ihre Gedanken. Sie empfahlen eine Kur, am besten an der Nordsee, damit sich Jan erholen konnte. Selbst für unser Empfinden war er furchtbar still. Nur sein Blick folgte uns permanent durch den Raum. Sobald ich das Zimmer jedoch verlassen wollte, kam Bewegung in den Jungen. Da nützte es wenig, dass Paul ihn darauf hinwies, dass er doch nun wirklich kein Baby mehr sei.
Auch Jakob und Martin besuchten ihn regelmäßig, ebenso Alex. Wenn wir an die Schule dachten, wurde mir ganz anders. Drei Wochen hatte Jan schon verpasst, als er endlich entlassen wurde. Zusammen mit den Ärzten hatten wir eine Kurklinik gefunden, an die ich Jan im Rahmen einer Mutter-Kind-Kur für 14 Tage begleiten würde. Er sollte dann noch drei bis vier Wochen bleiben.
Dort würde man sich neben der Genesung auch um den schulischen Anschluss kümmern. Wie konnte ich ahnen, dass diese Entscheidung unser ganzes Leben, insbesondere das von Jan, verändern würde? Wir wollten doch nur das Beste für unser Kind. Er war 12 Jahre alt, wochenlang krank gewesen und hatte im Krankenhaus furchtbares mitgemacht.
Doch erstmal taten uns die ersten Tage gut. Die Zeit war wertvoll, ich war meinem Sohn nah wie lange nicht. Zusammen mit den anderen Mutter-Kind-Paaren unternahmen wir Wattwanderungen, sammelten Muscheln und an regnerischen Tagen spielten wir viel.
Kniffel.
Mensch-ärgere-dich nicht.
Cluedo.
Erst hier merkte ich, wie sehr auch unsere Beziehung unter dem Schulstress gelitten hatte. In diesen vierzehn Tagen taute mein Kind jeden Tag ein bisschen mehr auf. Er lachte, suchte meine Nähe und der anschließende Abschied fiel ihm schwer. Schon am Telefon hatte ich mit Paul besprochen, dass wir Zuhause dringend andere Lösungen brauchten. Sofern Jan auch auf der Privatschule immer nur würde kämpfen müssen, sollten wir der Realität in die Augen sehen.Notfalls auch Jans Rückstufung auf die Realschule in Betracht ziehen. Warum wir damals nicht schon daran dachten, ihn auch psychisch betreuen zu lassen? Obwohl wir verstanden hatten, dass er unter großem Druck stand und der Stress ihm und uns nicht gut tat? Warum hatten wir seine Verlustängste übersehen?
Es war nicht üblich. Es gab keine Hilfestellung dazu. Niemand, der sagte, vielleicht braucht ihr Sohn etwas ganz anderes. Schon da, das weiß ich heute, hätten wir uns darum kümmern müssen, warum Jan es nicht fertig brachte, sich länger als zehn Minuten auf eine Aufgabe zu konzentrieren. Jeder hatte uns nur gesagt, dass er durchaus clever sei, keinesfalls dumm. Wenn er sich nur ein wenig anstrengen würde, dann käme der Rest von ganz alleine. Jan brauchte sein Tempo. Schon immer. Von Anfang an. Er konnte später sitzen als andere Babys, das Krabbeln kam verzögert, ebenso die ersten Schritte und Worte. Diese Zeit aber hatte ihm das klassische Schulsystem nie eingeräumt.
Vielleicht eine Lernschwäche. Gepaart mit Konzentrationsschwierigkeiten. Vielleicht resultierend aus der Frühgeburt. Wer kann das heute schon noch sagen.
Hatten wir zu spät reagiert? Konnte die Privatschule das leisten? Immerhin aber sagte mir mein Gefühl, dass wir Zuhause etwas ändern mussten. Der Junge braucht ein Zuhause, welches nicht belastet war mit Stress, Streit, Tränen und Frust. Mit all diesen Gedanken fuhr ich also nach Hause und ließ Jan an der See. Er blieb zurück mit dem Versprechen, dass Paul und ich am Wochenende wieder kommen würden. Jedes Wochenende wollten wir ihn besuchen und ihn nach vier Wochen wieder mitnehmen. Wir wollten jeden Tag telefonieren, auch mal den Opa, Martin und Alex mitbringen.
Wir hielten auch engen Kontakt zu seinen Betreuern, dem Vertrauens- und Klassenlehrer an der Schule. Wenn alles gut lief, würde Jan Anfang Dezember langsam wieder in den Schulbetrieb integriert werden. Ohne allzu viel verpasst zu haben, die Betreuer und Lehrer hatten sich abgestimmt. Er sollte diese Chance bekommen. Darin waren sich alle einig. Und ich glaube auch heute noch, dass wir bis hierhin alles richtig gemacht hatten. Wir hatten uns hinterfragt. Hatten erkannt, bis zu einem gewissen Grad, dass wir Muster durchbrechen mussten. Es kam von uns. Aus uns. Für uns.
Doch das Schicksal machte uns einen Strich durch die Rechnung. Führte uns grausam vor Augen, dass man sich nicht in Sicherheit wiegen durfte. Und wir handelten aus Angst falsch. Weil wir ihn beschützen wollte. Weil wir fürchteten, dass die Kinderseele zerbrechen würde. Wir hatten gute Gründe, übersahen aber, dass wir genau das Gegenteil erreichten. Wir fügten Jans Seele tiefe Schnitte zu. Ausgerechnet wir. Seine Eltern. Seine Familie.
Warum nur, hat uns niemand aufgehalten?