Das Furchtbarste war die Stille.
Sie zog sich über die nächsten Monate.
Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, kann ich mich an einen sehr grauen Herbst erinnern. Eine freudlose Vorweihnachtszeit. Wir alle trauerten. Uns alle hatte der Verlust Jakobs vollkommen unvorbereitet getroffen. Als ich mit Paul nach Neujahr die Sachen seines Vaters durchsah, weinten wir beide um einen Menschen, den wir unglaublich geliebt hatten und der uns jeden Tag fehlte.
Martin suchte sich aus den Sachen seines Großvaters ein paar Bücher und ein Fotoalbum aus, die er behalten wollte. Auch die alte Hochzeitsfotografie von Elli und Jakob wanderte in Martins Reich. Jan war nicht zu bewegen, den Kotten zu betreten oder auch nur Jakobs Sachen anzusehen, als wir eine Kiste mit ins Wohnhaus brachten. So suchte ich eine der Latzhosen heraus, die Jakob in der Werkstatt getragen hatte und eines der Baumwollhemden. Oft hatte mein Schwiegervater Jan in eine der Hemden gewickelt herübergetragen, wenn er als kleiner Junge bei ihm eingeschlafen war. Unser Sohn hatte diese Hemden immer geliebt. Jakobs Geruch steckte noch darin, als ich es zusammenfaltete und samt der Hose und einigen Spielfiguren, die Jakob noch im Kotten gehabt hatte, in eine Kiste packte.
Zudem hatte Paul sorgfältig die Werkzeuge gesäubert und verpackt. Für den Fall der Fälle, dass Jan sie doch eines Tages würde haben wollen. Die angefangenen Werkstücke hatte mein Mann ebenso verstaut. Jakob hatte mit einer neuen Krippe begonnen gehabt, die eigentlich zum Advent hatte fertig werden sollen. Sein Plan war zudem gewesen, dass Jan die dazugehörigen Figuren aufbereiten sollte, sobald er aus der Reha zurück gewesen wäre. Da Jan sich weigerte, auch nur einen Fuß in die Werkstatt zu setzen, hatte Paul die Krippe verpackt und die Figuren selbst ausgebessert. Danach hatte er alles aufgeräumt, gefegt und geputzt, die Tür abgeschlossen und den Schlüssel gut sichtbar in das Kästchen der Stube gehangen. Mit ernster Miene hatte er Jan erklärt, dass er jederzeit den Schlüssel nehmen durfte. Doch Jan sah ihn nicht einmal an.
Nur langsam kehrten die Alltagsgeräusche zurück. Als hätten wir wochenlang unter einer Käseglocke gelebt. Was aber blieb, waren Jans Träume und diese Stille, die ihn umgab. Im Grunde war es nicht verwunderlich. Immerhin hatte er seine wichtigste Bezugsperson verloren. Wir ahnten, dass wir einen großen Fehler gemacht hatten. Unbedingt wollten wir diesen wieder gut machen, stattdessen machten wir es schlimmer. Mit jedem Tag, an dem wir die Augen davor verschlossen, dass Jans Trauer nicht besser wurde. Manchmal wünschte ich mir, er hätte getobt oder geweint. Stattdessen vergoss er hier und da nur lautlose Tränen, wenn er sich unbeobachtet fühlte. Und er begann damit, mit seinem Opa zu sprechen. Aber auch dies nur, wenn er glaubte, dass wir es nicht mitbekamen. Sein Leben war völlig aus den Fugen geraten. Und als würde unser Kind nicht genug leiden, blieb ihm auch noch buchstäblich die Stimme weg, wenn es um die Musik ging.
Schonend bereitete uns Herr Lüders, Jans Klassenlehrer, darauf vor, dass Jans Halbjahreszeugnis miserabel ausfallen würde. Ohne Musik, Sport, Religion und Kunst hätte es aus reinen Fünfen bestanden. Die Versetzung war damit nicht nur massiv gefährdet, sie schien unerreichbar. Er bekam vermehrt Förderunterricht. Und endlich machten wir wieder etwas richtig. Wir sparten uns jegliche Predigt als Jan dann mit diesem Zeugnis nach Hause kam. Er war ja selbst kreuzunglücklich, da half auch keine Standpauke der Welt. Wir versuchten ihm Mut zu machen. Wir schimpften nicht, als er in der nächsten Klassenarbeit eine Fünf bekam. Die Schule hatte seine Teilnahme am Chor und dem Orchester auf ein Mindestmaß heruntergefahren, die Gesangsstunden ganz ausgesetzt.
Als Paul vorschlug, auch den Chor zu streichen, da Jan ohnehin nicht mitsang und nur dabei saß, da wehrte er sich aber. Er flehte uns regelrecht an und versprach uns das Blaue vom Himmel. Seine Verzweiflung ging mir nah. Ich sah meinen Jungen an, der mit aller Macht gegen seine Tränen kämpfte und ich hätte am Liebsten alles zurückgenommen. So gerne hätte ich ihn getröstet, aber Jan wies jede Körperlichkeit seit Monaten zurück. Ich tat aber das, was ich tun konnte. Ich überzeugte Paul, dass der Chor wichtig war. Dass Jan zumindest die Nähe zu Musik brauchte.
Martin lernte mit ihm, wann immer er konnte. Dabei bewies er unglaubliche Geduld. Jan hatte viel aufzuholen. Es zeigte sich deutlich, dass er von den 45 Minuten einer Schulstunde kaum die Hälfte mitbekam. Martin sah Jan an einem Nachmittag hinterher, als der mit seinen Schulsachen die Stube verließ. Erst als Jan außer Hörweite war, wandte er sich an mich.
"Er verträumt den Unterricht, Mama. Es ist nicht so, als würde es nicht kapieren, ganz im Gegenteil. Er versteht sogar sehr gut, aber er hört nicht zu."
Ich sah von meiner Näharbeit auf. Mein Großer saß noch immer am Tisch, vor ihm eine Tasse Kaffee. Neuerdings trank er ein oder zwei Tassen am Tag, weil es jetzt alle taten.
Martin deutete auf das aufgeschlagene Buch vor ihm.
"Hier. Ich habe es ihm nur einmal erklären müssen, er hat daraufhin alle Aufgaben alleine gelöst." Martin sah sich um, dann zog er ein Blatt Papier aus dem Buch hervor. Er stand auf und reichte es mir wortlos.
"Was ist das?", wollte ich wissen. Ich legte die Bluse beiseite, bei der ich einen Knopf annähen wollte. Ich faltete das Papier auseinander. Es war ein Brief mit einer Zeichnung. Ich schlug mir die Hand vor den Mund. Aus den Zeilen ging eindeutig hervor, wie sehr Jan seinen Großvater vermisste. Mich ängstigten aber seine letzten Worte: Wann kommst Du wieder, Opa? Kann ich Dich besuchen kommen? Ich habe dich lieb.
Bedauernd zuckte Martin mit den Schultern.
"Habe ich zufällig in seinem Heft gefunden", erklärte er leise. Nochmal überflog ich Jans Worte, dann bat ich Martin, das Papier wieder in das Buch zu legen.
Abends saßen Paul und ich zusammen. Wir hatten die Tür der Bibliothek wie schon seit Wochen offen, damit wir hören konnten, sollten wir im oberen Geschoss gebraucht werden. Wir diskutieren lange, ob und wie wir Jan auf diesen Brief ansprechen sollten. Oder auf seine Selbstgespräche, die sofort verstummten, wenn er uns bemerkte. Dazu die Bemerkungen von Martin. Wir entschieden an diesem Abend, dass wir die Situation weiter im Auge behalten wollten. Sollte sich nicht zeitnah eine Besserung einstellen, würden wir das Gespräch mit Jans Kinderarzt suchen. Auch an den Pfarrer hatte ich gedacht, zu dem Jan bis zum Sommer ein sehr gutes Verhältnis gehabt hatte. Warum fiel mir eigentlich erst an diesem Abend auf, dass Jan kaum noch den Kindergottesdienst besuchte? Dass Alex kaum noch zu Besuch kam?
Erschrocken fuhren wir zusammen, als auf einmal eine Tür knallte. Sofort war Paul aus dem Sessel und in der Diele. Nein, die Haustür war abgeschlossen. Atemlos sah ich zu, wie sich mein Mann der Treppe zuwandte und immer zwei Stufen auf einmal nahm. Jan kam ihm entgegen. Er glitt auf eine der Stufen, als er Paul sah und hielt sich am Geländer fest. Ihm liefen Tränen übers Gesicht, hinter ihm tauchte Martin auf. Als er uns sah, atmete er durch und zog sich zurück. Paul war vor seinem Sohn in die Hocke gegangen und verharrte ruhig eine Stufe unter ihm. Ich wartete am Ende der Treppe. Paul flüsterte, ich konnte ihn nicht verstehen. Nach einer Weile rutschte Jan eine Stufe herunter und ließ sich von Paul in den Arm nehmen. Der streichelte dem Jungen über den Rücken und küsste ihn auf die Stirn. So zärtlich hatte ich Paul mit keinem der Jungen mehr erlebt, seitdem sie keine Babys mehr waren. Ohne etwas zu sagen stand Paul auf. Er hob Jan hoch und brachte ihn zurück ins Bett. Ich folgte ihm leise. Sah kurz nach Martin, der mich fragend an sah.
"Ist alles okay?", fragte er.
"Ein böser Traum", antwortete ich.
Unser Großer nickte wissend und wünschte mir eine gute Nacht. Als ich seine Zimmertür zuzog, kam Paul aus Jans Zimmer.
"Er schläft", informierte er mich matt. Er sah mir in die Augen, dann zog er mich in seine Arme.
"Er vermisst ihn. Wie wir alle. Und wie wir alle, wird er damit lernen zu leben", meinte mein Mann mit fester Stimme. Er strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. Fest war auch sein Blick. Und ich wollte ihm so gerne glauben. Er sagte ja genau das, was ich so gern hören wollte. Jan würde es schaffen. Wir hatten es schließlich alle geschafft. Der Tod gehört zum Leben. Das haben wir beiden Kindern schon vor Jahren versucht zu erklären, ehe Elli uns verließ.
Heute möchte ich mein vergangenes Ich so gerne schütteln. Ihr zurufen, dass sie schleunigst etwas unternehmen soll. Warum sah ich den Abgrund nicht, auf den Jan zusteuerte?