Erst in den letzten Jahren habe ich verstanden, dass Jan vieles nicht hatte steuern können. Dass er gewisse Dinge nicht absichtlich machte. Es ging ihm auch an jenem Tag nicht darum uns zu ärgern oder uns in Sorge zu versetzen. Wie sehr hätten wir diese Hilfestellung schon damals benötigt. Jan zu verstehen, fiel uns unglaublich schwer. Immer. Bis vor kurzem. Wir glaubten ja, dass wir mit Standpauken, Erklärungen und Ansprache weiter kommen würden. Dabei verstand sich dieser Junge einfach selbst nicht. Und umso älter er wurde, umso mehr schlug er um sich. Er ließ irgendwann kaum noch jemanden an sich heran. Angst, so lernten wir, beherrschte ihn. Weil er niemanden verletzten oder verlieren wollte, zwang er sich zu einer emotionalen Kontrolle und zog die Mauer um sein Herz und seine Seele immer höher. Bis auf wenige Ausnahmen durfte jahrelang niemand hinter diese Fassade blicken.
Als er an diesem Mittag nicht aus der Schule kam, zog sich mein Magen zusammen. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl. Doch ich traute mich kaum auszusprechen, was als Gedanke ganz leise anklopfte.
Ich telefonierte.
Mit der Schule zuerst.
Die uns eröffnete, dass Jans letzter Kurs ausgefallen war.
Zusammen mit drei Klassenkameraden hätte der Fahrdienst ihn aber abgeholt und gegen 11:30 abgesetzt.
Paul tobte. Es war seine Hilflosigkeit.
Er war durchaus nicht unberechtigt sauer auf die Schulleitung, die uns nicht informiert hatte. Abgesprochen war in der Tat, dass man uns verständigte, wenn die Kinder früher oder später gebracht wurden. Andererseits war Jan auch keine zehn Jahre alt mehr, im kommenden Schuljahr würde der Fahrdienst sowieso enden und er den Bus oder das Rad nehmen.
Ich telefonierte weiter.
Sanders.
Nein, Alex war zu einer normalen Zeit nach Hause gekommen und Jan war nicht bei ihnen. Sein Freund wusste nur zu berichten, dass Jan schlecht gelaunt gewesen war und man sich deshalb auch für den Nachmittag nicht verabredet hatte.
Den Anruf bei Margarete hätte ich mir sparen können, aber sichergehen wollte ich natürlich. Logisch, um zu ihr zu kommen, hätte Jan den Bus nehmen müssen und zweimal umsteigen. Außerdem war er noch nie allein bei ihr gewesen, seitdem sie in diesem Heim lebte.
Wir telefonierten noch ein paar Klassenkameraden ab. Daniel gehörte ebenfalls zu der Gruppe, die früher hatte nach Hause dürfen und war mit Jan bei uns aus dem Kleinbus gestiegen. Auch von ihm hörten wir, dass Jan äußerst wortkarg gewesen war und sich auf der Heimfahrt mit einem Bündel Noten beschäftigt hatte. Was hatte Jan also auf den wenigen Metern bewogen, nicht nach Hause zu kommen?
Im Schuppen fehlte sein Fahrrad.
Ich telefonierte weiter und Paul suchte mit dem Wagen die Gegend ab.
Aus meiner anfänglichen Verärgerung war nun Sorge geworden. Und wieder dieses komische Gefühle und dieser Gedanken, der immer mehr Besitz von mir nahm.
Bis zu diesem Tag hatte ich wirklich nie daran gedacht. Die Vorstellung, dass sich ausgerechnet unser Sohn etwas antun könnte, war zu absurd gewesen. Doch vermutlich hatten dies auch die Eltern des Mädchens gedacht, das sich am See erhängt hatte. Ich hielt es im Haus nicht mehr aus. Paul war noch immer noch nicht zurück und ich brauchte Gewissheit. Als ich mit dem Rad den Parkplatz erreicht, von dem der Fußweg abging, der direkt zum Bootshaus führte, war es schon kurz nach 17 Uhr. Für Paul hatte ich eine Nachricht auf dem Küchentisch hinterlassen. Ich sah mich um, aber ich konnte weder Jans noch ein anderes Fahrrad entdecken. Von Martin wusste ich, dass die Meisten diese mitnahmen und beim Bootshaus abstellten. Ich ging die Strecke so zügig, wie nur irgendwie möglich. Dabei wurde mir bewusst, wie lange es dauern würde, bis ich im Notfall Hilfe würde holen können. Damals hatten wir noch keine Mobiltelefone und im Bootshaus selbst gab es keinen Anschluss. Unter anderem auch dieser Umstand war den beiden anderen Mädchen zum Verhängnis geworden.
Mir schlug das Herz bis zum Hals und ich war völlig durchgeschwitzt, als ich auf die Lichtung trat. Am Ufer saß ein Angler und in einigen Metern Abstand konnte ich eine Gruppe Jugendliche ausmachen, die um ein Grillfeuer herum saßen. Von Jan keine Spur. Seufzend lehnte ich mein Rad an einen Baum und ging langsam auf das Bootshaus zu. Am Steg war ein kleines Ruderboot festgemacht und auch dort saßen ein paar Jugendliche, die ich nur vom Sehen kannte. Älter als Jan, jünger als Martin. Auf die Frage, ob sie meinen Sohn gesehen hätten, nickten sie eifrig und erklärten mir den Weg zu einem Hochsitz. Der stand etwas versteckt zwischen den Bäumen und bot einen hervorragenden Blick auf die Lichtung und den See. Erst später erfuhr ich, dass Jäger ihn nicht mehr nutzten. Der Träumer, so sagte die Halbstarken, würde sich oft dort verstecken.
Endlich entdeckte ich Jans Fahrrad, dass er am Fuße des Hochsitzes fest gemacht hatte. Und gleichzeitig war es so furchtbar still, dass mir doch ein wenig Bang wurde. Auf mein Rufen hin reagierte niemand. Nur kurz kniff ich die Augen zusammen, dann erklomm ich die Leiter und sank dann erleichtert zusammen. Jan hatte Kopfhörer auf den Ohren, vor ihm lag ein Notenbuch und er hatte die Augen geschlossen. Ich sah sofort, dass er schlief und berührte ihn daher nur vorsichtig am Oberarm. Er fuhr zusammen und riss sich die Hörer herunter, mit großen Augen starrte er mich an.
"Mama", stammelte er. Sein Blick ging zum Himmel. "Wie spät ist es denn?", fragte er kleinlaut. Ich atmete durch und schüttelte den Kopf.
"Fast halb 6. Ist dir eigentlich klar, dass wir dich seit Stunden suchen?" Eilig stopfte er den Walkman und die Noten in seinen Ranzen und verschloss diesen.
Dabei rückte er damit heraus, dass er direkt nach der Schule hier her gekommen war, weil er an diesem Platz besser lernen konnte. Dass er oft hier im Hochsitz saß und Gesangstexte und Noten studierte. Dabei hatte er heute die Zeit vergessen.
Gedankenlosigkeit?
Zumindest wirkte er ehrlich zerknirscht als Paul ihm später vorhielt, welche Sorgen ich mir gemacht hatte. Dennoch gab Jan Widerworte. Am Ende der Diskussion hatte Paul damit gedroht, den Workshop abzusagen. Daraufhin hatte sich Jan in einen Wutanfall hineingesteigert, der mich an jenen erinnerte, als Martin ihn mit dem Gartenschlauch gestoppt hatte. Ich verstand meinen Mann, der verhindern wollte, dass uns Jan auf der Nase herumtanzte. Und ich verstand meinen Sohn, der so sehr nach einem Platz in dieser Welt suchte. Meine Versuche zu vermitteln kamen an diesem Abend bei keinem der Beiden an. Paul blieb bei seiner Auffassung, dass Jan die Konsequenzen aus seinem Verhalten spüren musste. Unser Sohn tobte sich im Haus aus. Ließ aber auch mich nicht an sich heran.
Wir hatten einen fürchterlichen Streit am späten Abend, als Jan endlich schlief. Paul warf mir vor, ich wäre ihm in den Rücken gefallen. Seinem Argument, dass Jan eine klare Linie brauchte, konnte ich noch folgen. Und vielleicht hatten wir den Fehler gemacht, dass wir zu lange zu weich unterwegs gewesen waren. Mit dem Wissen von heute ist es immer leicht zu sagen, dies oder jenes war vielleicht naiv oder der falsche Weg. Aber wir wussten es nicht besser, hatten zu lange nicht verstanden, dass Jan nicht nur einfach sensibler war. Und auch später haben wir viel zu lange nicht darüber geredet. Nicht untereinander und auch nicht mit ihm. Was ich anderen Eltern in der gleichen Situation raten würde? Sprechen. Hilfe suchen. Als Familie.
Die Realität kann man dauerhaft nicht verleugnen. Das geht nach hinten los, früher oder später. Wir hätten jemanden gebraucht, der uns das Unausgesprochene auf den Kopf zugesagt hätte. Doch da war niemand, der uns mit der Wahrheit konfrontierte. Euer Sohn verliert den Halt, immer wieder. Immer mehr. Und das nicht, weil ihr schlechte Eltern seid und ihr ihn nicht versteht, sondern weil er nicht nur hochsensibel, sondern auch depressiv ist. Auch er konnte doch nichts dafür. Auch Jan verstand doch überhaupt nicht, was mit ihm los war. Vermutlich hat es ihn furchtbar gequält und hilflos gemacht. Jeder Wutanfall war ein Hilferuf, den wir aber nicht so gedeutet haben.
Ich setzt mich zumindest in dem Punkt durch, dass Jan diesen Workshop besuchen durfte. Ich begleitete ihn nach München und nutzte die Tage, um mir die Stadt anzusehen. Paul kam am Wochenende nach und wir hatten zwei sehr schöne Tage, an denen Jan ausgeglichen war wie lange nicht. Er schwärmte noch Wochen später von dieser Erfahrung. In den folgenden Jahren wurde Jan immer wieder hierher eingeladen. Der Gesangslehrer beobachtete einige Schüler in dieser Altersgruppe und machte auch uns dahingehend Mut, dass Jan an ein Konservatorium gehörte. Vielleicht, so sagte er mir im zweiten Jahr, hätte er gar Chancen auf ein Stipendium.
Wir kämpften uns mit Jan durch sehr schwierige Jahre. Zwar mussten wir uns nicht mehr so viele Sorgen um die Schule selbst machen, doch Jans Launen blieben unberechenbar. Rückblickend, mit dem Wissen von heute, war es immer dann besonders schlimm, wenn er sich unverstanden fühlte. Viel rührte aus der immer noch nicht verarbeiteten Trauer. Dazu der Verlust der Vertrauenslehrerin und der Umzug Martins. Ihm fehlte der große Bruder, auch wenn das Verhältnis nie innig gewesen war. Uns, das weiß ich heute, hat er damals einfach nicht genug vertraut. In den letzten Monaten habe ich viel Zeit damit verbracht diese Zeit zu verstehen. Nur, die Erkenntnis traf mich tief, wir hätten hier schon kaum noch etwas ändern können. Wir hatten schon viel früher eingreifen müssen, hätten ihn niemals belügen dürfen, als Jakob starb. Nur einmal in der Teenagerzeit warf er uns dies dann tatsächlich konkret an den Kopf. Es war kurz vor seinem 16. Geburtstag, als er sich wieder anfing für die Werkstatt zu interessieren. Zuerst heimlich. Ich bemerkte irgendwann, dass der Schlüssel ab und an fehlte, den Paul extra für Jan aufbewahrt hatte.
Eines nachmittags stand dann die Tür offen und er saß an der Werkbank. Er arbeitete aber nicht, betrachtete nur still die Krippe, die Jakob vor vier Jahren begonnen hatte. Leise hatte ich mich an den Türrahmen gelehnt und ihn dann vorsichtig gefragt, ob er diese an Jakobs Stelle zu Ende bringen wollte. Ich führte an, dass Jakob dies sicher gefallen würde. Jans Fingerspitzen glitten über das Holz. Er hatte von seinem Opa viel gelernt und es dürfte für ihn ein Kinderspiel sein. Vermutlich würde er sie sogar so gestalten und bearbeiten, wie es sich mein Schwiegervater ausgemalt hatte. An vielen von Jans Arbeiten kann man die Handschrift seines Großvaters erkennen.
"Wir würden uns sehr freuen", fügte ich noch zu. Jan sah mich nur einen Moment an. Sein Blick war schwer zu deuten. Da war die Trauer, zweifellos. Das Unverständnis. Ein bisschen Unbehagen, weil ich ihn ertappt hatte.
"Ihr hättet es mir sagen müssen." Er hatte leise gesprochen. Ich nickte und rührte mich nicht. Was hätte ich auch groß sagen sollen? Der Junge hatte recht und ich wusste es.
"Es tut uns furchtbar leid." Ich behielt ihn im Blick. Kurz kniff er die Augen zusammen und nickte leicht. So gerne wäre ich zu ihm gegangen, hätte ihn in den Arm genommen, aber irgendwas hielt mich davon ab.
Jans Körperhaltung. Sein Blick. Und schlussendlich seine Reaktion. Wie viel Zorn in diesem Jungen steckte. Nochmal berührte er das Holz, dann nahm er das Häuschen in die Hand und schleuderte es auf den Boden. Ich fuhr zusammen. Mit einer Bewegung fuhr er mit dem Arm über die Werkbank und räumte auch das Werkzeug ab. Er versetzte dem Hocker einen Tritt, der mit einem Poltern umkippte. Jan war schon an den Regalen und riss Kisten heraus. Schrauben, weiteres Werkzeug, Rohstücke, alles was er zu greifen bekam, fand den Weg auf den Werkstattboden. Erst später erkannte ich, was mich am meisten ängstigte. Sein Schweigen. Er ging in völliger Ruhe vor, kein Laut kam über seine Lippen. Er schrie nicht, weinte nicht, sagte nichts. Aber strahlte aus, dass er kein Stein auf dem anderen lassen würde. Und vermutlich hätte er das auch geschafft, wäre Martin nicht aufgetaucht. Der Große war für ein paar Tage hier und kam gerade vom Sportplatz, als er Jan und mich in der Werkstatt vorfand.
"Was wird das?", fragte er mit lauter Stimme. Dabei sah er mich fragend an. Martin war 20, ein gutes Stück größer als ich und seine Augen ruhten auf mir. Jan hatte immerhin inne gehalten, für ein paar Sekunden aber nur. Mit einem großen Schritt war Martin im Raum. Mit einem zweiten hatte er seinen Bruder erreicht. Man muss dazu sagen, dass Martin da schon mächtig an Masse gewonnen hatte. Sein hartes Training sah man ihm an, er machte Kraftsport, seitdem er studierte. Es war ein leichtes für ihn, den tobenden Jan unter Kontrolle zu bekommen. Der versuchte dann auch nur halbherzig, sich aus dem Griff des Älteren zu befreien. Erst als sich Martin sicher war, dass Jan sich ein wenig beruhigt hatte, schob er ihn aus der Werkstatt und ließ ihn los.
"Was soll das?", fragte Martin.
"Nichts", war Jans knappe Antwort. Martin deutete zur Werkstatt.
"Nichts?", wiederholte Martin und verschränkte seine Arme vor der Brust.
"Komm, lass", bat ich ihn. Doch mein Großer schüttelte den Kopf. Er fixierte Jan, der seine Hände in den Hosentaschen vergraben hatte und vor Wut bebte.
"Du hast mir gar nichts zu sagen", schleuderte er Martin entgegen. Ich wollte mich einmischen, aber Martin war schneller, wieder hatte er einen Schritt auf den Jüngeren zugemacht.
"Hätte ich dir was zu sagen, dann würdest den Rest des Tages mit Aufräumen verbringen und erst wieder rauskommen, wenn das Chaos beseitigt ist. Findest du das fair? Was würde wohl Opa dazu sagen?"
Jan kaute auf der Lippe und hielt dem Blick stand.
"Martin, bitte." Ich war zu ihm getreten und berührte sanft seine Schulter.
Er zuckte mit den Achseln. Es wirkte resigniert. Später hat er mir gestanden, dass er seinen kleinen Bruder am liebsten durchgeschüttelt hätte. Martin kam am wenigsten damit klar, dass Jan uns immer wieder von sich stieß. Für ihn war es schwierig zu sehen, wie sehr Paul und mir das Verhalten Jans zusetzte. Er spürte unsere Hilflosigkeit. Und ja, auch er wollte Jan helfen. Ihn irgendwie dazu bekommen, dass jener sich nicht permanent verschloss.
"Opa würde euch hassen!", rief Jan und drehte sich um. Er war blitzschnell an seinem Fahrrad und nur Sekunden später vom Hof. Wortlos sah ich ihm hinterher, mir stiegen Tränen in die Augen. Während Jan verschwand nahm mich Martin in den Arm und versuchte mich zu trösten. Wie oft er das auch später getan hat. Obwohl er seinen Bruder nicht verstand, versuchte er dennoch ein gutes Wort für ihn einzulegen. Immer wieder. Auch in den Monaten, die uns bevorstanden. Denn mit Schuljahresbeginn, Jan kam in die 10 Klasse, kam eine völlig neue Situation auf uns zu.
Es kamen die Jahre mit Anna.