So stolz war Martin lange nicht gewesen. Für ein Jahr würde er nach London gehen und er freute sich wie ein kleines Kind darauf. Sein Fleiß und seine Zielstrebigkeit waren ungebrochen und unser großer Sohn verstand es parallel, das Leben aktiv zu leben. Heute hatte er diesen Bescheid gekommen und strahlte über das ganze Gesicht. Wir hatten zusammen Kaffee getrunken, er wollte später noch mit Jonas ins Kino. Sein bester Freund hatte offenbar ein Doppeldate organisiert. Schmunzelnd hatte ich seinen Plänen gelauscht und seiner Begeisterung. Was eine Abwechslung zur angespannten Stimmung der letzten Zeit. Das Abitur warf auch bei Jan seine Schatten voraus. Wir hatten ihm signalisiert, dass wir stolz auf ihn waren, egal mit welcher Note er aus den Prüfungen kommen würde. Wenn mir jemand vor zehn Jahren gesagt hätte, dass er überhaupt so weit kommt, hätte ich ihn für verrückt erklärt.
Eine schöne Begleiterscheinung des Prüfungsstresses war, dass es Jan zum Ausgleich nach all den Jahren in die Werkstatt zurückzog. Ich hatte geweint, als er mit der neuen Krippe fertig geworden war und Paul hatte ihn für diese wunderschöne Arbeit gelobt. Wir benutzen sie heute noch. Martin, der für 14 Tage in der Heimat war, hatte ihn zusätzlich mit Sport abgelenkt und war durchaus beeindruckt von Jans Fitness. Jan musste nicht nur für das Abitur lernen, auch für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule musste er sein Repertoire erweitern. Er hatte einen Antrag gestellt, damit er wie Anna ein Stipendium erhielt. Da er gleichzeitig noch in Berlin eine Studienbewerbung laufen hatte, hoffte ich leise, dass er nicht mit ihr nach München gehen würde.
Ingas Worte und die von Ursel hatten sich fies in mein Bewusstsein gefressen. Ich beobachtete die beiden jungen Leute aufmerksam, wenn sie bei uns waren. Anna war noch dünner geworden. Ich wusste es nicht, aber in dieser Zeit litt sie an einer Essstörung. Zwei Tage vor der ersten Prüfung hatte sie es dann auch nochmal versucht und sich mit Tabletten vergiften wollen. Jan hatte sie gefunden, sie gezwungen alles wieder auszuspucken und er war die ganze Nacht bei ihr geblieben. Wir erfuhren nichts. Dass er ab und an auch gegen Ingas Widerstand bei Anna schlief, war normal. Es machte uns daher nicht misstrauisch, dass er in den Tagen bei ihr blieb.
Er muss in einem dauernden Stress gewesen sein. Dass er überhaupt die Prüfungen ordentlich über die Bühne brachte, verlangt uns im Nachhinein Respekt ab. Zwischen schriftlichem und mündlichen Abitur musste er für jeweils zwei Tage nach München und Berlin. Beide Hochschulen wollten ihn unbedingt haben und boten ihm schlussendlich jeweils Stipendien an. Jan tauschte sich lange mit seinen Lehrern und seinem Förderer aus. Dabei stand für ihn fest, dass er Anna nicht allein lassen würde.
Warum sich dann im Sommer alles veränderte? Was Anna dazu bewog, die nächsten Schritte so zu gehen? Weil sie vermutlich endlich begriffen hatte, dass sie ihr Leben in den Griff bekommen musste. Was genau ihr diese Erkenntnis verschaffte bleibt für uns ein Geheimnis. Und zunächst bemerkten wir auch nichts. An der Abschlussfeier strahlten beide über das ganze Gesicht. Nein, berühmt ist Jans Abitur nicht, aber er hat sich durchgekämpft und jeder von uns weiß, was ihm dies teilweise abverlangt hat. An jenem Abend, da bin ich mir auch heute noch sicher, waren beide glücklich und selbst Inga fand kein böses Wort. Sie fuhr mit Anna für 14 Tage nach Paris, Jan mit Alex und Daniel nach Italien.
Paul und ich machten zum ersten Mal seit über 25 Jahren Urlaub zu Zweit. Wir hatten es geschafft, scherzte Paul an einem Abend. Wir saßen auf der Terrasse, nur in Bademäntel, hatten einen Saunagang hinter uns und sahen der Sonne beim Untergehen zu. Paul hatte einen Weißwein geöffnet und stopfte seine heißgeliebte Pfeife.
"Wir habe beide Jungen durch die Schule gebracht, ab jetzt steht auch Jan mehr oder weniger auf eigenen Füßen", sinnierte er. Ich musste lachen.
"Wenn Martin nächstes Jahr aus London zurückkehrt, wird er bald seinen Abschluss machen und wieder einziehen", unkte ich. Paul grinste.
"Aber unten", brummte er dann. Die leerstehende Einliegerwohnung wollten wir für Martin aus- und umbauen. Wir hatten für beide Jungs die Sparkonten in den letzten Jahren gut gefüllt. Längst konnte Margarete die monatlichen Raten nicht mehr zahlen.
Pauls Firma stand gut da. Wir konnten es uns Gott sei Dank leisten, auch die Pflege meiner Mutter zu bezuschussen. Was wir an Studiengebühren bei Jan in den ersten beiden Jahren sparen würden, sollte ebenfalls seinem Sparkonto zugute kommen. Ich weiß, dass wir damals sehr privilegiert waren. Das Haus auf Texel, darauf hatte Ursel bestanden, war auf mich überschrieben worden. Sie wollten von den USA aus keine derartige Verpflichtung eingehen. Über einen örtlichen Hausverwalter ließen wir es pflegen und vermieteten es zudem im Frühjahr und Herbst. Später im Leben, so hoffte ich, wäre es ein schönes Urlaubsdomizil für die Familien unserer Söhne und ein Rückzugsort für uns. Hier und da hatten wir auch schon Tage im Winter hier verbracht, meist über ein Wochenende. Ein eigener, ganz anderer Charme als im Sommer lag dann auf der Insel.
Als wir nach Hause zurückkehrten, machten wir uns an die Vorbereitungen für Jans Umzug nach München. Dass sich Anna und Jan eine gemeinsame Wohnung nahmen, hatte Inga verhindert. Kurzerhand hatte sie ihrer Tochter einen Platz im Wohnheim der Musikhochschule besorgt und klar gestellt, dass diese den Fokus auf das Studium legen sollte. Zur großen Überraschung hatte sich Anna ohne Widerspruch gefügt, was Jan zumindest irritiert hatte. Aber auch wir hatten eine Liste der Hochschule bekommen, die Wohnungen für die Stipendiaten bereit hielt. Jan zog in kleines Apartment, nur eine Viertelstunde zu Fuß vom Campus entfernt. Im Haus lebten viele andere Studenten in diesen damals sehr modernen Einzimmerwohnungen. Annas Wohnheim lag eine halbe Stunde entfernt. Die Zeit mit Alex und Daniel hatte Jan gut getan. Er kam gut gelaunt und braungebrannt aus Italien wieder und war voller Vorfreude auf das Studium. Sein bester Freund folgte Martins Weg und hatte sich heimatnah eingeschrieben.
Mit einem kleinen Lieferwagen fuhren wir Mitte September nach München. Inga und Anna waren schon vor uns gefahren. Wir besichtigten Jans kleines Reich, luden mit ihm aus und wir spendierten noch einen ersten Einkauf. Bei der Verabschiedung rang ich Jan das Versprechen ab, sich regelmäßig zu melden. In der ersten Zeit musste man ihn oft daran erinnern, später rief er tatsächlich jeden Sonntagmittag an.
Wir mussten uns ans Alleinsein gewöhnen. Die Wochen bis Weihnachten verflogen dann dennoch schnell, obwohl gerade ich erst lernen musste damit umzugehen, dass jetzt Beide aus dem Haus waren. Es fiel mir unglaublich schwer, Jan gehen zu lassen. Viel schwerer als Martin damals und selbst dessen Ortswechsel nach London setzte mir nicht so zu, wie Jans Auszug. Ich war heilfroh, dass beide Jungs über die Feiertage nach Hause kamen. Am zweiten Weihnachtstag kam Anna zum Essen und ich bemerkte die ersten Veränderungen. Ihre Augen strahlten regelrecht, wenn sie vom Studium, der Uni und der Stadt erzählte. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit griff sie bei Tisch ordentlich zu. Überhaupt erzählte sie viel, auch von ihren Mitbewohnern im Studentenwohnheim, ihren Tagesroutinen. Sie blieb an jenem Abend nicht über Nacht, wie auch an keinem anderen Tag der kurzen Weihnachtsferien. Selbst an Silvester kam Jan alleine von der Feier bei gemeinsamen Freunden. An Neujahr lag er den ganzen Tag in der Bibliothek auf der Couch und sah fern. Anna hatte eigene Pläne, erklärte er knapp. Dass er damals litt war nicht zu übersehen, aber er kam nicht zu uns und sprach auch in den Wochen danach nicht am Telefon darüber. Darüber gingen die Monate ins Land.
Während Martin von London schwärmte und sein Auslandsjahr genoss, brauchte Jan bis zum zweiten Semester, bis er im Studium angekommen war. In den praxisnahen Einheiten fühlte er sich wohl. Er wurde durchaus gefordert, lernte seine Stimme völlig neu kennen und erntete viel Lob. In der Theorie musste er, wie so oft, deutlich kämpfen. Hier und da hörte ich heraus, dass er noch immer viel mit Anna übte, die ihm am Klavier begleitete oder die mit ihm die Aufgaben des Korrepetitors durchging. Ich hörte aber auch heraus, dass sie sich unter der Woche beinahe nur auf dem Campus sahen. Anna strampelte sich frei. Streifte ihr altes Leben von sich. Erst im Herbst erfuhren wir, warum.
Es war Mitte Oktober, ein goldener Spätherbsttag, als ich am frühen Nachmittag mit dem Rad aus der Stadt kam. Verwundert stieg ich ab, da die Werkstatttür offen stand. Da Pauls Auto nicht zu sehen war, konnte es kaum er sein. Ich stellte den Einkaufskorb ab und ging langsam auf das Gebäude zu. Mich traf beinahe der Schlag, als ich Jan erkannte, der auf dem Drehhocker saß und erschrocken herumfuhr. In der Ecke stand sein großer Reiserucksack, auf der Werkbank lag noch ein unbearbeitetes Stück Holz. "Hallo Mama", flüsterte er. Er stand auf und kam auf mich zu, es fühlte sich wie Zeitlupe an. Er war blass, hatte tiefe Augenringe und hatte abgenommen. Zuletzt hatten wir ihn im Sommer gesehen, als er für ein paar Tage hier gewesen war. Den Rest der Semesterferien hatte er mit Alex in Italien verbracht und ein paar Tage mit Anna in den Bergen. Jetzt nahm er mich wortlos in den Arm. Als er mich losließ, sah ich ihm in die Augen.
"Tee?", fragte ich. Er rieb sich die kalten Hände und nickte. Ich lächelte ihm aufmunternd zu und deutete auf sein Gepäck. "Na, dann komm mit rein."
Ich spürte, dass es soweit war, Jan würde reden. Endlich. Gleichzeitig wollte ich ihm die Zeit geben, dies in seinem Tempo zu tun. Während er seine Sachen in sein Zimmer brachte, setzte ich Wasser auf und schnitt vom Schokoladenkuchen ein paar Stücke auf. Paul wäre erst gegen Sieben zurück und ich hatte alle Zeit der Welt. Die wollte ich meinem Sohn geben. Wir saßen in der Stube, als Jan mir sein Herz ausschüttete und erstmals nichts ausließ. Selbst auf die gemeinsamen Suizidversuche kam er zu sprechen und ich weiß gar nicht, wer an dem Nachmittag mehr geweint hat.
Während es draußen dunkel wurde, legte Jan alles offen. Was ich an diesem Tag dachte, fühlte? Ich kann es nicht beantworten. Es war so unglaublich viel, so unglaublich tragisch und schon da konnte ich nicht verstehen, dass wir so vieles nicht mitbekommen hatten. Hunderte Kleinigkeiten fielen mir im Nachhinein auf, zig Dinge, an denen man etwas hätte merken können. Unser Sohn jedenfalls war völlig fertig. Anna hatte in den Sommerferien nach dem Abitur eine Therapie begonnen und diese in München über die beiden Jahre fortgesetzt. Dabei hatte sie erkannt, dass sie sich auch von Jan trennen musste, wollte sie glücklich werden. Dass die Beziehung ihr nicht mehr gut tat und ihr keinen Halt geben konnte. Und sie gleichzeitig nicht Jans Halt im Leben sein konnte. Und wollte. Sie hatte die Trennung in Raten vollzogen. Schrittweise hatte sie sich aus Jans Leben entfernt und jetzt den endgültigen Schnitt vollzogen.
Unserem Sohn zog es den Boden unter den Füßen weg. Immer wieder hatte er gehofft, dass es zwischen ihm und Anna wieder werden würde. Dass sie dies nicht mehr wollte, hatte er nicht wahrhaben wollen. Seine Labilität war an einem Punkt angekommen, an dem er alleine wirklich nicht mehr konnte. Daher hatte er sich in den Zug gesetzt. War nach Hause gekommen. Als er alles erzählt hatte, waren wir beide erschöpft. Ich hatte den Kamin angemacht und nur noch das Knistern des Feuers war zu hören. An dem Abend hatte ich nur eine Frage, die mir schwer auf der Seele lastete.
"Muss ich mir jetzt, in diesem Moment Sorgen machen, Jan? Würdest du es mir oder deinem Vater jetzt sagen, solltest du keinen anderen Ausweg als den Freitod sehen?" Wie unwirklich es sich anfühlte, ihm diese Frage zu stellen. Jan war 21, sollte voller Lebensdrang und Tatenkraft sein. Er atmete tief durch und zuckte dann die Schultern.
"Ich weiß es nicht, Mama", sagte er leise. Noch eine Weile saßen wir schweigend zusammen. Bis Jan äußerte, dass er schlafen gehen wollte. Nachdenklich sah ich ihm nach, als er die Treppe hinaufstieg, mit uns essen wollte er nicht.
Ungeduldig wartete ich auf Paul. Der wie ich aus allen Wolken fiel, der aber sofort Inga zur Rede stellen wollte. Bis heute ist er der Auffassung, dass sie es gewusst haben musste. Dennoch hielt ich ihn davon ab. An jenem Abend und auch später. Vorwürfe waren unangebracht, auch gegenüber Jan und Anna selbst. Wir sollten uns damit beschäftigen, wie wir Jan helfen konnten. Eine Therapie, so wie Anna, lehnte er in den nächsten Tagen immer wieder ab. Er versicherte uns, dass er nur über das Beziehungsende hinwegkommen müsste. Wir glaubten ihm, behielten ihn die Tage, die er blieb, im Auge. So gut man dies eben mit einem jungen Erwachsenen machen kann. Natürlich verschwand er auch mal für ein paar Stunden und jedes Mal klopfte mein Herz wild. Meine Unruhe bekam ich nur schwer in den Griff. Dass Jan auch am See war, an seinem alten Lieblingsplatz, stand außer Frage.
Er blieb bis Ende des Monats, dann brachte Paul ihn zurück nach München. Gemeinsam packten sie die Habseligkeiten von Anna zusammen und brachten ihr die Dinge. Ich rechne ihr auch heute noch hoch an, dass sie Jan nicht komplett fallen ließ. Er hatte in München kaum eigene Kontakte geknüpft und sie war gerade auf dem Campus weiterhin für ihn da. Übte stundenlang mit ihm und begleitete ihn auf diversen Vorsingen auf dem Klavier. Aber sie setzte klare Grenzen und an Weihnachten schien es so, als wäre Jan darüber hinweg. Im kommenden Sommer, so erzählte er stolz, konnte er an einer ersten Produktion mitarbeiten, dank Anna hatte er ein Vorsingen so gut gemeistert, dass man ihm einen Platz in einem Ensemble angeboten hatte. Er freute sich darauf, endlich Praxiserfahrung zu sammeln. Auch, weil er herausfinden musste, ob das Bühnenleben zu ihm passte. Ob ihm das auch vor größerem Publikum lag. Ein erstes Hineinschnuppern konnte da nicht schaden.
Doch es sollte alles anders kommen. Dagegen war die Trennung von Anna ein Spaziergang gewesen.