Nochmal hatte ich nach David gesehen, während das Teewasser auf dem Herd stand. Der Kleine schlief fest, hatte seinen Teddy fest an sich gedrückt. Aus Jans Tasche hatte ich das Babyphone geholt und das Gerät stand nun auf dem Kaminsims. Großzügig hatte Paul Jans Teetasse mit Rum aufgefüllt und ihm auch eine Decke gereicht. Unser Sohn saß leichenblass im Sessel, direkt am Feuer. Er war völlig durchgefroren. Wir hatten gefragt, wo er gewesen war. Was überhaupt passiert war und was ihn hergetrieben hatte. Das Thema um seinen Verbleib ließen wir zunächst ruhen. Es war offensichtlich, dass er am See gewesen war.
Es schneite immer noch, die Flocken waren dicker geworden. Ich setzte mich zu Paul auf das Sofa. Mein Mann stopfte seine Pfeife und lehnte sich dann zurück. Er griff mit seiner freien Hand nach meiner, drückte sie kurz. Wir hatten uns beratschlagt und waren uns einig, dass wir Jan keinesfalls drängen wollten. Aber wir hofften natürlich, dass wir ihn ein wenig aus dem Schneckenhaus locken konnten. Paul würde für uns sprechen. Seine Ruhe war hier definitiv gefragter als meine Emotionalität.
Gegenüber nippte Jan vorsichtig an dem heißen Getränk. Während er sich sammelte, fragte ich ihn, ob er ein heißes Bad nehmen wollte. Er verneinte, räusperte sich und schüttelte nochmal den Kopf.
"Danke, Mama. Nein. Ich denke, ich bin euch erst ein paar Erklärungen schuldig. Ich weiß nur gerade nicht genau, wo und mit was ich anfangen soll."
Wie damals als kleiner Junge kaute er auf der Unterlippe. Seufzte dann. Neben mir zog Paul an seiner Pfeife, dann nickte er unserem Jüngsten zu.
"Wir sind hier, wir hören dir zu. Und wir werden versuchen zu helfen", sagte er ruhig. Er behielt Jan im Auge, der tiefer in den Sessel glitt. Drückte wieder meine Hand. Wir warteten, sahen das Zögern und den kleinen Kampf, den Jan mit sich führten. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, wie sehr er wollte.
Stockend begann er endlich zu erzählen. Paul und ich verständigten uns ohne Worte, ließen ihn einfach erstmal erzählen. Hörten ihm zu und wir wollten zunächst einfach nur verstehen.
„Als ich an diesem Morgen Dianas Brief fand, hatte ich quasi einen kleinen Zusammenbruch. Ich schwöre, ich habe bis wenige Tage vor der Trennung nichts geahnt. Ja, es lief nicht gut, gar nicht gut. Sie hielt sich nicht an die Absprachen zu David und ihrem Job. Parkte den Kleinen fast täglich bei ihren Eltern und überließ es mir, dass ich mich um den Kurzen kümmerte. Zwischen uns war eine Distanz, wir sahen uns wenig, hatten kaum Zeit füreinander. Wenn sie kam, musste ich ans Theater. Wenn ich am Morgen aufstand, war sie schon im Büro. Jule war es, die mich irgendwann fragte, ob Diana einen anderen habe. Die Ironie ist, dass sie mich immer nur mit Karsten betrogen hat. Ihr, wie ich dachte, Exfreund und Chef. Der ihr auch den Job wieder besorgt hatte, als sie es Zuhause nicht mehr aushielt. Offenbar lief es immer wieder parallel. Und intensiver wurde es, als sie wieder mit ihm arbeitete . Ich Dummkopf habe es nicht gesehen. Nicht kapiert. Aber das Schlimmste war, dass sie mir schrieb, dass sie nicht wusste, wer denn nun Davids Vater war. Ich bin irgendwie völlig durchgedreht, weiß auch nicht mehr genau, wie das alles an dem Tag passieren konnte. Richtig zu mir gekommen bin ich im Krankenhaus. Jule hatte mich in der Wohnung gefunden, nachdem man mich überall gesucht hatte. Ich hatte das ganze Geschirr in der Küche zerschlagen und muss stundenlang zwischen den Scherben gesessen haben, ich kann mich nur vage erinnern. Geschnitten hatte ich mich, das weiß ich noch.“
Er sah uns aus traurigen Augen an.
„Am Theater hatte ich vorher schon Stress. Im August hatte sich mein Kollege den Fuß gebrochen und ich musste über Wochen jede Vorstellung spielen. Es gab einfach keinen Ersatz. Wäre ich ausgefallen, man hätte alles absagen müssen. Dann kamen die Probleme mit Diana und ich war hier und da mit dem Kopf völlig woanders. Bis sich jemand fand, der zumindest zwei Vorstellungen übernehmen konnte, war ich längst so gestresst, dass ich Fehler machte. Der Regisseur und ich gerieten mehrfach aneinander und dann blieb ich auch noch unentschuldigt fern.“
Langsam bekam er wieder Farbe ins Gesicht. Immer wieder nahm er kleine Schlucke aus der Tasse und legte Pausen ein. Wir behielten unsere Linie bei, Paul drückte immer meine Hand, wenn mir etwas auf der Zunge lag. Ich glaubte kaum, was er da alles erzählte.
„Diana hatte jedenfalls David bei ihren Eltern abgeliefert und war mit Karsten für 14 Tage angeblich beruflich verreist. Sie hatte einfach Nägel mit Köpfen gemacht, mir das Kind genommen. Einfach so. Versteht ihr, das ging doch nicht. Und egal was dieser Test ergeben sollte, David ist doch mein Sohn.“
In seinem Blick lag unendlich viel Kummer. Der Kleine war sein Leben, er hing unfassbar an dem Kind.
„Ich hatte so eine Angst. Auf Diana war ich nur wütend. Es war vielleicht dumm, aber ich konnte ihn doch nicht dort lassen.“
Neben mir zuckte Paul zusammen. Auch er griff jetzt nach dem Rum.
„Was hast du getan?“, fragte er dabei. Jan starrte in seine Tasse.
„Ich habe ihn morgens auf dem Weg in die Kita abgefangen und zu mir geholt.“
Paul zog scharf die Luft ein.
„Aber wie soll das gehen, Jan? Du alleine mit dem Kind? In diesem Beruf?“, hörte ich Paul fragen. Jan biss sich erneut auf die Lippe.
„Ich hatte sofort Hilfe. Jule blieb viel da. Und über die Kita habe ich eine Babysitterin gefunden. David gehört zu mir. Diana liebt ihn nicht. Er ist ihr nur im Weg. Im Grunde will sie nur mich damit verletzten“, führte Jan aus.
„Diese Isa?“, fragte ich. Wurde Jan nun rot?
„Was ist dem mit Test?“, fragte Paul, als Jan nicht antwortete.
„Den haben wir zwischenzeitlich gemacht. Alex hat mir einen Anwalt besorgt und es war die Hölle. Aber ja, David ist mein Sohn“, antwortet Jan.
Er hatte die Teetasse abgestellt und sich noch enger die Decke gewickelt.
„Seitdem Diana wieder da ist, eskaliert es regelmäßig. Sie hält sich an keine Absprachen. David war völlig durcheinander und irgendwann hat die Kita das Jugendamt informiert.“ Jetzt sah er zu mir.
„Isabelle hat mir viel geholfen. Mir einen Babysitter verschafft. Mal auf David aufgepasst und auch sonst.“ Betreten sah er zur Seite.
„Ich weiß nicht, wohin das führt. Ich wollte nicht von einer Beziehung in die nächste und ich weiß auch nicht, ob das alles richtig ist. Aber sie war immer da, wenn ich sie gebraucht habe. Ich kenne sie lange, David mag sie. Und obwohl sie in der Kita arbeitet war nicht sie es, die das Jugendamt über Davids Veränderung informiert hat. Es wurde immer anstrengender mit Diana. Zwischen uns war kein normales Wort mehr möglich. Und mit dem Job. Und mit David. Es war alles so viel, Mama.“
Paul stand auf und ging zum Fenster, während Jan weiter erzählte. Von Dianas Schikanen, ihrem Umgang mit dem Kind und schlussendlich seinen Zusammenbrüchen. Auf der Bühne, dann bei einem Gespräch mit Alex und einem Intendanten. Er hatte mitten in einer Vorstellung seine Stimme verloren. Im Frühjahr hatte er eigentlich ein Engagement in München sicher. Jetzt wusste Jan nicht, ob und wie er das stemmen sollte. Die anstehende Konzertreise vor Weihnachten. Und immer wieder erzählte er von Isabelle, bei der er zumindest etwas Ruhe fand.
„Noch vor dem Vaterschaftstest hat mich Alex zu einer Psychologin geschickt und als der Hausarzt mich krank schrieb, weil er keine Ursache für meine Zusammenbrüche fand, bin ich hingegangen.“ Er zögerte, sah von Paul zu mir.
„Erst ungern. Und dann nur, weil es jeder für besser hielt, dass ich jemanden hätte, sollte dieser Test negativ ausfallen.“ Unbewusst hatte ich die Luft angehalten.
„Aber es war eben auch so viel. Mir ging es nicht gut und dann kam das Theater und bestand darauf, dass wir den Vertrag beenden. Wenn auch nur wenige Wochen vor dem offiziellen Ende. Ich sah David, der völlig durcheinander war, der sowieso nicht bei seiner Mutter oder deren Eltern bleiben wollte. Der nach mir schrie und weinte und mir wurde klar, dass ich seine Welt bin. Diana hat ihn geschlagen. Nur eine Ohrfeige, wie sie sagt, aber das möchte ich nicht für mein Kind. Ich habe das alleinige Sorgerecht beantragt. Im ersten Schritt hat das Jugendamt entschieden, dass David bei mir bleiben soll. Diana ist zu dem Termin einfach nicht erschienen, da hat das Amt ihn mir mitgeben. Vorerst habe ich das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Das Gericht muss noch endgültig entscheiden. Ich will keinen Kleinkrieg, aber ich will auch nicht, dass David leidet. Deswegen hatte ich das Gefühl, dass ich ihn zu euch bringen muss. In Sicherheit.“
Mir liefen Tränen, Paul hörte unbewegt zu. Langsam drehte er sich jetzt um.
„Wir werden Dir helfen alle Hebel in Bewegung zu setzen, damit der Kurze bei dir bleiben kann. Lösungen gibt es immer. Diese Hexe bekommt ihn nicht. Das schwöre ich dir. Gleich morgen werde ich mit Hans sprechen.“
Mich überraschte Pauls Reaktion nicht, aber in Jans Gesicht las ich Erstaunen ob des ungewohnten väterlichen Ausbruchs. Paul war aufgewühlt, sauer und selten hatte ich ihn so erlebt. Hans war einer seiner Stammtischfreunde und vor seiner Pensionierung beim Jugendamt gewesen. Noch ehe ich etwas sagen konnte, fuhr Paul fort.
„Und was dich betrifft, mein Junge. Du bekommst jede erdenkliche Hilfe von uns, dessen sei dir gewiss. Du kannst jederzeit her kommen. Du kannst bleiben, so lange du möchtest. Du bekommst alle Zeit der Welt. Glaube nicht, dass ich nicht verstehe, wie es dir geht oder kein Verständnis für dich habe.“
Während er gesprochen hatte, war Paul hinter meinen Sessel getreten und legte mir die Hände auf die Schulter. Wie waren eine Einheit. Ich sah ihn an, er erwiderte meinen liebevollen Blick.
„Wir haben nie um den heißen Brei herumgeredet, Jan. Wir haben immer Offenheit und Ehrlichkeit von euch erwartet. Das endet übrigens nicht, nur weil ihr erwachsen seid“, fügte er hinzu. Ich nickte, fand Pauls Worte perfekt gewählt. Wir würden helfen, immer. Aber es musste etwas zurückkommen.
„Du hast mich heute wie damals nach Annas Tod in Angst und Schrecken versetzt, Damals haben wir den Fehler gemacht, dass wir nicht darüber geredet haben. Den Fehler werden wir kein zweites Mal machen. Wir sind deine Eltern, Jan. Und wir sind, egal was passiert, für dich da. Aber helfen können wir nur, wenn du den Mund aufmachst.“ Ich hatte mehr Energie in meine Worte gelegt, als ich es selbst für möglich gehalten hätte. Jans Mauer bröckelte. Seine Lippen zitterten und erste Tränen suchten sich einen Weg. Traurig sah ich ihn an.
„Ich möchte nämlich nicht, dass sie dich irgendwann aus diesem verteufelten See ziehen. Zu viele Eltern haben das in den letzten 30 Jahren erleben dürfen. Zugeschüttet gehört er.“ Meine Augen wanderten zum Feuer. Es war heraus. Ich hatte es ausgesprochen. Immer noch spürte ich Pauls Hände, die mich unendlich beruhigten. Beinahe, als würde er seine Kraft durch meine Adern schicken.
Jan stützte seinen Kopf in seine Hände. Dann sah er mir in die Augen. Kummer. Leid. Ich sah ihn erwartungsvoll an. Wenn er jetzt schwieg, was dann?
„Ich kann nicht mehr“, flüsterte er. Dabei hielt er dem Blick stand.
„Ich habe keine Ahnung, wie es weitergehen soll mit David und mir. Ich habe riesige Panik, dass ich ihm kein guter Vater sein kann. Ich fühle mich zerrissen zwischen dem Wunsch auf der Bühne zu stehen und der Angst, dort zu versagen. Diana hat mich verletzt, wie niemand jemals zuvor und ich weiß nicht, ob das heilen wird. So sehr ich es mir auch wünsche.“ Er griff nach seinem Becher.
„Ich kann nicht schlafen, weil ich Angst vor meinen Träumen habe. Ich kann nicht essen, ich kann nicht singen, ich kann im Moment nichts anderes fühlen als Angst. Nichts, als diese beschissene Angst.“
Ich weinte mit ihm. Verstand seine innere Zerrissenheit, seine Sorgen und den Grund, warum er hier war. Er hatte David in Sicherheit wissen wollen, hatte nicht gewusst, wohin mit sich selbst. Indirekt war es Anna gewesen, die schlimmeres verhindert hatte. Vor ihrem Tod hatte sie Jan ein Kistchen in die Hand gedrückt und ihn gebeten , es an ihrem gemeinsamen Schicksalsort zu vergraben. Sollte er jemals daran denken, sich das Leben zu nehmen, sollte er hierher zurückkehren und die Kiste ausgraben. Das hatte Jan getan. Was genau Anna in dem Brief hinterlassen hatten erfuhren wir nie. Nur, dass es Jan davon abgehalten hatte, an diesem Abend in den See zu gehen. Unter Tränen erzählte er mir davon und dass er deswegen unbedingt an diese Stelle gemusst hatte. Das Kistchen hatte sicher in jenem Versteck im Bootshaus auf ihn gewartet.
Paul gab uns ein wenig Zeit, ließ uns gemeinsam weinen. Dann rang er unserem Sohn noch in der Nacht das Versprechen ab, dass er seine Therapeutin gleich am Morgen anrufen musste. Wir saßen noch lange zusammen, sprachen über David und Diana. Über die Gefühle, die Jan empfand. Seine Ängste. Wir erfuhren, dass er sich einfach aus dem Staub gemacht hatte. Dass weder Jule noch Alex wussten, wo er steckte. Dass er Angst vor seinen Gefühlen zu Isabelle hatte. Jan war vollkommen erledigt, als er zu Bett ging. Aus meinem Fundus steckte ich ihm eine leichte Schlaftablette zu und schloss den Arzneischrank sorgfältig ab. Den Schlüssel versteckte ich unter meinem Kopfkissen.
Handelten wir richtig? Diesmal wenigstens? Paul und ich lagen lange wach und sprachen darüber, was wir tun sollten. Wie gefährdet war Jan? Würden auch wir mit der Therapeutin reden können? Welche Möglichkeiten gab es, ihn mit dem Kind zu unterstützen?
Wir waren erschüttert. Diana mag uns nicht sympathisch erschienen sein, aber ihre Kälte überraschte uns dann doch. Der erbitterte Streit um das Kind erschien uns unlogisch. Um was ging es Diana? Wichtig, so sagte auch Paul, war, dass Jan erstmal ein wenig Ruhe und Kraft fand. Wir waren uns einig. Er brauchte Entlastung und vor allem Ablenkung. Umso weniger er jetzt grübelte, um so besser. Ich fühlte mich hilflos wenn ich daran dachte, dass Jan doch noch einen Augenblick ausnutzen könnte. Mehrfach wurde ich wach und horchte ins Haus. Wie damals in den Kindertagen, als das Schlafwandeln so akut gewesen war.
Am nächsten Morgen war es David, der mich weckte. Der in unser Bett sprang und mir seine kleinen Hände ins Gesicht patschte. Aufgeregt deutete er zum Fenster und erzählte vom Schnee, der immer noch im Hof lag. Ich folgte seinem Finger und entdeckte Paul, der schon angezogen hinaus sah.
"Du bist spät", meinte ich, während David wissen wollte, wann Martin den Schneemann mit ihm bauen würde. Paul wandte sich um und rief den Kleinen zu sich.
"Du glaubst doch nicht, dass ich heute ins Büro fahre?", fragte er. Kopfschüttelnd nahm er unseren Enkelsohn auf seinen Arm und küsste das Kind zärtlich auf die Stirn.
Erstaunt setzte ich mich auf. Paul musterte voller Zärtlichkeit den Kleinen, der voller Freude in den Hof schaute. Dann wanderte sein Blick zu mir, fast Entschuldigung hob er seine Augenbrauen.
"Ich habe deine Sorgen gestern nicht ernst genommen, das tut mir aufrichtig leid. Ich bin da für dich, Schatz. Für Jan und das kleine Goldstück hier. Für unsere Familie. Zusammen, erinnerst du dich, zusammen bekommen wir alles hin."
Ich blinzelte. Natürlich erinnerte ich mich. Dankbar schlug ich die Decke zur Seite und ging auf die Beiden zu. Wir brauchten jede Kraft.