"Er hatte verdammt viel Glück im Unglück", schloss Alex seinen telefonischen Bericht. Paul und ich saßen vor dem lautgestellten Telefon und mir liefen die Tränen wie Sturzbäche über die Wangen. Paul versuchte mich etwas zu beruhigen, doch ich konnte einfach nicht anders. Meine Hände zitterten und ich wünschte mich an die Seite meines Sohnes.
Am frühen Vormittag war das Telefon gegangen. Paul war Zuhause, weil er mit Fred beim Tierarzt gewesen war. Was ein Glück, dass ich nicht allein auf Alex´ Worte hatte lauschen müssen. Jan war am Vortag nach der Ankunft in Wien noch auf dem Bahnsteig zusammengebrochen. Alex hatte eine Stunde vorher entschieden, dass er Jan nach Hause schicken wollte. Seit Tagen hatte sich Jan mit Schmerzen herumgeplagt und im Zug von München nach Wien hatte sich die Situation zugespitzt. Alex machte sich Vorwürfe, dass er zu spät die nötige Reißleine gezogen hatte. Doch Jan hatte immer wieder beteuert, dass es schon wieder werden würde. So wie mir gegenüber vor ein paar Tagen per Skype.
Ich atmete durch. Ich konnte Paul kaum sehen, so viele Tränen hatten sich gesammelt. Jan war sofort operiert worden. Laut Alex war ihm der Blinddarm geplatzt und es hatte alles sehr schnell gehen müssen. Dazu hatte es Komplikationen während der Narkose gegeben. Jan hatte die Nacht auf der Intensivstation eines Wiener Spitals verbracht.
Ich spürte Pauls Arm, der mich fest an sich drückte und hörte die Fragen, die er Alex stellte.
Sollten wir kommen?
Brauchte Jan etwas?
Wann würden wir mit ihm sprechen können?
Was war mit unserem Enkel?
"Es geht ihm den Umständen entsprechend gut und er wurde heute morgen auf die normale Station verlegt. Ein paar Tage wird er noch bleiben müssen. Ich fliege mit der Truppe gleich nach Zürich und danach nicht wie geplant nach Stuttgart, sondern zurück nach Wien." Unausgesprochen hing im Raum, dass Heike und die Kinder noch etwas auf ihn verzichten mussten.
Er beruhigte uns sofort weiter. Alex war Vollprofi geworden in seinem Beruf. Und jetzt gerade war er nicht Jans Freund, sondern eben sein Agent. Bis heute bewundere ich Alex, dass er beides unter einen Hut bekommt und es auch trennt, wenn es nötig wird. Dass er trotz allem aber auch ein Freund geblieben ist. Selbst dann, als Jan es ihm beruflich schwer machte. Als sie gemeinsam am Grenzen kamen. Als sie kurz vor dem Ende standen.
Isabelle war bei unserem Sohn, sie hatte die Gruppe ab München begleitet und war bei einem Kollegen Jans untergekommen, so berichtete Alex jetzt. Auch David war dort untergebracht. Der Kleine war etwas durcheinander gewesen. Immerhin hatte er mit ansehen müssen, wie Jan vom Notarzt abgeholt worden war. Ich sah Paul an, am Liebsten wäre ich einfach ins Auto gestiegen. Aber Wien war einfach viel zu weit weg.
Hilflosigkeit machte sich in mir breit. Wann würde ich ihn sprechen, sehen können? Offenbar hatte ich die Frage laut ausgesprochen.
"Ich kümmere mich über Isabelle, dass ihr schnellstmöglich telefonieren könnt", versprach mir Alex. Ich schluckte den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hatte, hinunter.
"Kann er zu uns kommen?", flüsterte ich.
Paul drückte meine Hand.
"Wir klären gerade, ob Jan kurzfristig nach Stuttgart verlegt werden kann oder ob er grünes Licht für ein Weihnachten Zuhause bekommt. Isa bleibt mit David in Wien und bei Jan. Dort treffen wir uns übermorgen wieder. Dann sehen wir weiter", war Alex´ ausweichende Antwort.
"Notfalls fahre ich bis Stuttgart und hole ihn, sofern du ihn aus Wien bringst", bot Paul an. Alex seufzte.
"Langsam, ich bitte euch. Die Operation war anstrengend und er hat ganz schön an der Narkose zu knabbern. Laut Isa ist er noch ziemlich durch den Wind. Wir sollten abwarten, was die Ärzte sagen. Aber mit Sicherheit wird er vorerst nicht fliegen dürfen."
Mir kam ein Nebensatz in den Sinn.
"Was für Komplikationen meintest du?" Es knackte in der Leitung. Die beste Verbindung hatte Alex gerade nicht. Er war wohl schon am Wiener Flughafen und wartete auf das Boarding. Im Hintergrund waren immer wieder Ansagen zu hören.
"Das kann euch Isa besser erklären. Sie wird sich ganz bestimmt noch melden, auch wegen David. Es wird dem Kleinen gut tun, eure Stimmen zu hören. Jan braucht Ruhe, daher haben wir den Jungen bisher nicht mit ins Krankenhaus genommen. Vermutlich kann er morgen zu Jan. Er ist hier aber gut versorgt. Flo, der Kollege von Jan, hat eine Nanny für seine Kinder. Die passt auch jetzt auf ihn auf."
Mir brummte der Kopf. So viele Informationen, so viele Fragen dennoch. Ich wollte mein Kind bei mir haben und ebenso meinen Enkel. Ich weinte weiter lautlose Tränen und Paul streichelte unentwegt meinen Arm. Dabei sprachen er und Alex weiter, aber ich hörte gar nicht mehr richtig zu.
Wir saßen noch lange so beisammen. Längst hatte Alex das Telefonat beendet und uns auch die Nummer von Jans Freundin mitgeteilt. Paul drehte den Zettel nachdenklich in den Händen.
"Vollkommen irrational, dass wir sie jetzt so kennenlernen", brummte er. Wir überlegten, ob wir auf ihren Anruf warten oder es bei ihr versuchen sollten.
Sie rief an, als mein Finger über dem Nummernfeld des Mobilteils schwebte. Beinahe, als hätte sie unsere Gedanken gelesen. Wie oft ich später dachte, dass sie ein sehr besonderes Gespür besaß. Wir mochten sie sofort. Sie fand die richtigen Worte, wirkte anpackend und herzlich. Es war auch durchs Telefon zu spüren, wie sehr David ihr vertraute.
Sie strahlte viel Ruhe und Kraft aus. Sie versprach, gemeinsam mit Jan am nächsten Morgen wieder anzurufen. Im Moment, so erklärte sie, hatte er noch absolute Ruhe verordnet bekommen und schlief hoffentlich. Bisher hatte nur sie zu ihm dürfen. Die Schmerzen, so versicherte sie mir, hielten sich in Grenzen. Sie deutete an, dass Wechselwirkungen verschiedener Medikamente zu den Komplikationen geführt hatten. Auch Isabelle hoffte, dass sie dennoch die Feiertage bei uns würden verbringen können. Nicht nur, damit wir uns kennenlernen konnten, sondern vor allem, damit Jan sich erholen und gesund werden konnte. Und auch David würden die Tage gut tun, er fragte permanent nach uns.
Sie liebte Jan. Ich hörte es in jedem Wort, dass sie über ihn sprach. Immer wieder hielt sie inne, stockte und sie gab sich Mühe, uns so viele Informationen wie möglich zu geben.
Sie hatte schon am eigenen Leib erfahren, dass es schwierig war mit ihm. Und dennoch, das klang an, wollte sie da sein. Paul nickte anerkennend, als wir das Gespräch anschließend Revue passieren ließen.
"Ich bin gespannt, sie in Natura zu treffen. Und ich kann mir schon lebhaft vorstellen, warum Jan sich so hingezogen fühlt", meinte er.
Es war Abend geworden, wir hatten Martin und Nele beim Abendessen berichtet, was in Wien passiert war. Nele, die vom Fach war, schüttelte den Kopf, als könnte sie es nicht glauben.
"Klingt, als wären da ein paar Reizungen voraus gegangen, allerdings ist das eher bei Jugendlichen oft ein Thema. Er muss starke Schmerzen gehabt haben. Und so ein Durchbruch kann lebensgefährlich werden." Sie runzelte die Stirn. "Aber von was für Medikamenten hat Jans Freundin gesprochen?" Nun sah sie uns fragend an. Paul zuckte mit den Schultern, wir hatten gar nicht mehr genau nachgefragt.
"Wisst ihr, ob mit Bauchschnitt operiert wurde? Dann sind drei Tage recht optimistisch gedacht. Und bei Komplikationen sowieso." Sie sah uns nachdenklich an. "Er wird, wenn er denn herkommt, eine Nachsorge brauchen. Die Fäden, die Wunde, all das muss kontrolliert werden." Sie sah zu Martin. "Wenn man dann noch bedenkt, dass er so lange im Auto sitzen muss....." Sie sprach nicht weiter. Mir standen schon wieder Tränen in den Augen.
"Lass gut sein", flüsterte Martin seiner Freundin zu. Zu mir gewandt: "Sorry, Mama. Ist alles ein wenig viel, was?" Neben mir stand Paul auf und kam hinter mir zu stehen. Ich spürte seine Arme, als er mich küsste.
"Anke, Liebes. Nun atme erstmal durch. Wir warten jetzt mal ab, was wir morgen aus Wien hören. Laut Isabelle ist er einigermaßen auf dem Damm. Es gibt jetzt erstmal keinen Grund, in Panik auszubrechen. Wenn wir ihn morgen gesprochen haben und du nicht überzeugt bist, dass er dort in guten Händen ist, dann kümmere ich mich um einen Flug, versprochen. Ansonsten sollten wir uns vorrangig darüber Gedanken machen, dass er nach Hause kommen kann und hier die Nachsorge sichergestellt ist, die er benötigt."
Er war vor mir in die Hocke gegangen und berührte meine Wange. Seine große Hand ruhte ganz sanft auf meiner Haut. Er suchte meinen Blick und sprach mit den Augen.
"Alles wird gut, Anke."
Ich glaubte, es würde mir das Herz zerreißen. Während Martin mit Nele die Küche verließ, fing Paul mich auf. Ich weinte, wie seit Jahren nicht. Nicht mal mit Jan vor ein paar Wochen hatte es mich so gepackt. Als Alex angerufen hatte, da hatte ich für einen Moment geglaubt, dass sich Jan etwas angetan haben könnte. Er hatte sich seit Davids Geburtstag kaum gemeldet, war extrem schweigsam gewesen und ich war mir sicher, dass irgendetwas vorgefallen war. Dass ich damit nicht daneben lag, sollte ich aber erst später erfahren. Auch, dass Jan bei seiner Einlieferung in der Notaufnahme mit Beruhigung- und Schmerzmittel vollgepumpt gewesen war. An diesem Abend aber weinte ich mich an der Schulter meines Mannes einfach nur aus.