In der Zeit dieser ersten schweren depressiven Episode Jans dachte ich viel an Elli und Jakob. Wie sehr sie mir fehlten. Ihre Ratschläge, ihr Umgang mit den Kindern, ihre Sicht der Dinge. Elli hätte mit Sicherheit geraten, dass Jan jetzt die Musik helfen würde. Daher tröstete mich ein wenig der Gedanke, dass er auf diese Konzertreise gegangen war. Auch wenn Jule angedeutet hatte, dass er sich so schwer tat. Lampenfieber. Unsicherheit. Angst. Immerhin hatte sein letzter Bühnenauftritt mit einem Stimmversagen geendet. Aber das war wie beim Fahrradfahren, erklärte mir auch meine Schwester am Telefon.
"Er hätte gleich am nächsten Tag wieder dort stehen müssen", waren ihre Worte gewesen. Es ärgerte sie, dass weder der Regisseur, der Intendant noch Alex dies von sich aus angegangen waren. Dagegen begrüßte sie es sehr, dass sich Jan jetzt in therapeutischen Händen befand. Immerhin hatte sie schon damals in der New Yorker Zeit versucht, ihn davon zu überzeugen. Ursel hatte überlegt, für die Feiertage nach Deutschland zu fliegen. Doch George, meine Schwester hatte vor ein paar Jahren doch noch die Liebe gefunden, durfte aufgrund einer Erkrankung nicht fliegen. Sie wollte ihn nicht alleine lassen, was bei uns auf viel Verständnis stieß.
Wie wäre Jakob mit dieser Situation umgegangen? Ich saß lange Abende mit den Fotoalben in der Stube und sah mir die Fotos aus den Kindertagen genau an. Fast so, als würde ich darauf erste Hinweise auf Jans Erkrankung suchen. Dabei fiel mir aber etwas anderes auf. Die Ähnlichkeit zwischen David und seinem Vater, aber auch zu Paul und Jakob. Sie war frappierend. Wie nur hatte Jan den Worten Dianas Beachtung schenken können, dass dieses Kind nicht seins hätte sein sollen? Und auch sie muss das doch gesehen haben? Warum hatte sie so tief in die Kerbe von Jans Unsicherheit geschlagen? Hatte es nicht gereicht, dass sie ihn mit dem dauerhaften Betrug gedemütigt hatte?
In mir war so viel Wut auf diese Frau. Verachtung gar. Sie hatte Jan wie Müll behandelt und bei ihrem eigenen Sohn verhielt sie sich kaum anders. David war wirklich das einzig Gute, was diese Beziehung hervorgebracht hatte. Ohne den Jungen hätte ich mir für Jan gewünscht, er wäre ihr niemals begegnet. Es wäre ihm so viel erspart geblieben. Der schlimmste Schmerz vor allem, der ihm ja noch bevorstand.
Jakob, der immer ein besonders Händchen für unseren jüngsten Sohn gehabt hatte, wäre vermutlich in dieser Krise Jans erster Ansprechpartner gewesen. Ich glaube auch heute noch fest daran, dass Jakob schon viel früher eingegriffen hätte. Wäre er nicht so früh gestorben, wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen. Da war es wieder, das schlechte Gewissen, dass gerade wir zu Jakobs Tod zu viele Fehlentscheidungen getroffen hatten. Immer wieder grübelte ich in diesen Tagen. Hätten wir ihn doch nur da zu einem Kinderpsychologen geschickt. Nicht, dass wir gewusst hätte, wo im Umkreis von 25 km sich einer gefunden hätte. Bestimmt hätte uns die Schule geholfen. Der Vertrauenslehrer fiel mir ein. Mich beschlich ein ganz seltsames Gefühl. Ich blätterte nach vorne. Zu Fotos aus der Zeit nach Jakobs Tod. Betrachtete meinen Sohn lange und blätterte wieder zurück. Zurück zu den Bildern, als die Welt noch in Ordnung gewesen war.
Martin klopfte an den Türrahmen und ich hob erschrocken den Kopf. Es war der vierte Advent, noch sechs Tage bis Heiligabend.
"Mama, ich würde euch gerne was erzählen", meinte er und betrat die Stube. "Wo ist denn Papa?", fragte er dabei. Ich lächelte ihn an und versuchte in seinem Gesicht zu lesen. Seltsamerweise versetzte mich Martins Satz überhaupt nicht in Unruhe. Instinktiv spürte ich, dass es etwas Positives war, das unseren Sohn umtrieb.
"Paul ist mit dem Hund draußen, müsste aber gleich wieder da sein." Fred, ein wirklich süßer Schnauzermischling, war vor zwei Tagen eingezogen und Paul war ganz hin und weg von ihm.
Ich klopfte auf die Couch.
"Setz dich doch", bat ich Martin, der dann neugierig mit auf die Fotos sah.
"Da war die Welt noch in Ordnung."
Er zeigte auf das Familienfoto, das uns beim Sommerfest des Kindergartens zeigte und wiederholte dabei die Worte, die ich nur stumm gedacht hatte. Jan war knapp fünf, Martin ein Grundschüler mit Zahnlücken und wir lächelten entspannt in die Kamera. Paul hatte eine Hand auf Martins Schulter liegen, weil der schon wieder auf dem Sprung gewesen war. Jans Augen ruhten auf dem großen Bruder, dabei hatte er sich gegen mich gelehnt. Ich kann mich auch heute noch daran erinnern, dass er mit schokoladenverschmierten Händen das Sommerkleid befleckt hatte, weil er sich dauernd an mir festgehalten hatte. Ich zeigte auf das Foto daneben. Elli und Jakob mit den Jungs. Und einer klaren Rollenverteilung. Jan saß auf Jakobs Schoß, hatte sich eng an den Großvater geschmiegt, während Martin stolz hinter Ellis Stuhl stand. Das Foto war ein paar Tage vor Jans Einschulung entstanden.
"Ich habe Oma so wahnsinnig vermisst", bekundete Martin neben mir. Nickend schloss ich das Album. "Oft fehlt sie mir auch heute noch."
"Ich weiß. Wir alle haben Elli unendlich geliebt. Sie hat eine sehr große Lücke gerissen damals. Sie hat mir im Alltag auch lange gefehlt."
Seufzend schob ich das dicke Buch auf den Tisch vor mir und sah ihm dann die Augen. Ehe ich aber fragen konnte, ging die Haustür. Wie ein Blitz fegte der junge Rüde ins Haus und schüttelte sich erstmal ausgiebig. Paul rief streng nach ihm.
"Soll ich Kaffee kochen?", fragte ich Martin. Es war gerade erst 16 Uhr, aber es dämmerte schon. Wieder hingen dicke, schwere Wolken am Himmel. Der Wetterbericht hatte Schneefall angekündigt, der durchaus die nächsten 24 Stunden andauern könnte. Wir hatten Hoffnung auf ein weißes Weihnachten.
Als mit dem Tablett wieder zurückkam, lag Fred zu Pauls Füßen und das Album auf dem Schoß meines Mannes. Martin grinste, weil sie sich Fotos von einer seiner Geburtstagsfeiern ansahen. Ich verteilte die Tassen, schenkte jedem ein. Martin lächelte breit, dann lehnte er sich zurück.
"Ich dachte, ein paar schöne Neuigkeiten tun euch nach dem ganzen Drama mit Jan gut. Ich habe zwei Sachen, die mich richtig glücklich machen und die auch für euch hoffentlich eine Freude sind."
Gespannt nippte ich an meiner Tasse. Martin sah vergnügt aus. Er war ein hübscher Mann geworden. Beide. Sehr attraktiv, wie ich fand. Was daran liegen dürfte, dass sie durchaus als jüngere Kopien von Paul durchgingen. Aber auch ich erkannte mich in den Brüdern wieder. Martin trug viele Lachfalten im Gesicht, mit Mitte 30 strahlte er eine tiefe Zufriedenheit aus.
"Zum einen hat mich der Ortsvorstand geben, einen Sitz im Finanzausschuss zu übernehmen. Ich habe mir ein paar Wochen dazu Gedanken gemacht und werde es annehmen. Das bedeutet natürlich, dass ich in der Firma mehr Aufgaben übertragen muss. Aber keine Sorge, Vater. Das heißt nicht, dass du wieder verstärkt ran musst. Ich habe da schon jemanden im Auge." Er zwinkerte und Paul sah ihn anerkennend an.
"Den jungen Wittkamp?", erkundigte er sich. Martin bestätige mit einem Daumen und stellte seine Tasse zurück.
"Und dann noch was Privates. Nele hat mich an meinem Geburtstag überrascht." Ich setzte mich auf. Erwartungsvoll sah ich ihn an. Die Zwei waren für ein paar Nächte in Texel gewesen. Hatten sich ausgiebig Zeit füreinander genommen.
"Nun, sie hat endlich ihre Wohnung in Münster gekündigt und wird bei mir einziehen." Ach, wie ich mich freute, nach dem ganzen Hin und Her mit den Beiden. Wir beglückwünschten ihn beide. Wussten wir doch, wie lange Martin hierauf gewartet hatte.
"Im nächsten Schritt wird sie versuchen, auch einen anderen Job zu finden. Sie möchte weg von den Nachtschichten", erklärte er weiter. "Sie freut sich auf das Weihnachtsfest mit uns, möchte aber kein großes Tamtam wegen des Einzugs", schloss er schließlich.
Auch Paul freute sich, mit einem gelösten Grinsen sah er in die Runde und wollte wissen, ob wir darauf anstoßen wollten. Er öffnete zur Feier des Tages eine besonders gute Flasche Grappa, die ihm Enzo empfohlen hatte.
"Sag mal, sucht nicht Dr. Niehues eine neue Arzthelferin? So weit ich weiß musste er ja Inga entlassen." Paul sah mich fragend an.
Ich nickte und bestätige Martin diesen Sachverhalt. Dabei ließ ich aus, dass Inga seit dem Tod ihrer Tochter ein unstetes Leben geführt hatte. Über Jahre hatte der freundliche Hausarzt ihr geholfen, viele Brücken gebaut und mehr als einen Entzug organisiert. Schlussendlich hatte alles nichts genützt. Wir sahen sie nur sporadisch. Der Kontakt war fast zum Erliegen gekommen. Hier und sah man sich beim Bäcker oder im Supermarkt. Sie konnte uns nicht verzeihen, dass Jan im Gegensatz zu Anna noch lebte. Wir konnten ihr den Tag der Beerdigung nicht vergeben. Dabei tat sie mir leid. Sie hatte ihr einziges Kind verloren, ihren Mann und trank zu viel. Sie hatte niemanden.
Als die ersten Schneeflocken fielen, sah ich meinen Großen an. Schüttelte schnell die trüben Gedanken beiseite. Ich war stolz auf ihn. Wusste, dass Paul es ebenso war. Und ich liebte ihn. Auch Martin war einen steinigen Weg durchs Leben gegangen und hatte bewiesen, dass man trotzdem an seine Ziele glauben durfte. Das Gleiche wünschte ich mir so sehr für Jan.
Wir ahnten ja nicht, was sich in der Zwischenzeit in Wien, der vorletzten Konzertstation, abgespielt hatte. Ich verstehe bis heute nicht, warum mich mein Gespür an diesem Tag das erste Mal im Stich ließ. Während wir über all diese Erinnerungen und Zukunftspläne sprachen, kämpfte Jan um sein Leben. Sein Körper hatte ihm eine Grenze gesetzt. Vielleicht war es ganz gut, dass in dem ganzen Trubel weder Jule noch Alex daran dachten, uns zu verständigen. Erst am nächsten Tag erhielten wir diesen Anruf.