Um David nicht länger als zwingend nötig auf die Folter zu spannen, hatten wir das Abendessen kurz gehalten. Erst hatte er sich hungrig über die Würstchen und den Kartoffelsalat hergemacht, aber dann war sein Blick immer wieder zum Wohnzimmer gegangen. Mit Paul war er jetzt kurz draußen. Schon mit unseren Kindern hatte Paul immer etwas Wildfutter an der Grundstücksgrenze zum Wald gebracht und dort aufgefüllt. Das Märchen, dass die Tiere in der heiligen Nacht sprechen konnten, hatte auch schon unsere Jungs fasziniert. David hatte es nochmal von der anstehenden Bescherung abgelenkt. Sie hatten den Welpen mitgenommen und würden sicherlich eine Viertelstunde unterwegs sein. Nele und Isabelle halfen mir mit dem Geschirr, als auch Martin in die Küche platzte. Verärgert brachte er den leeren Dekantier mit und griff sich kopfschüttelnd die Rotweinflache.
"Manchmal könnte ich ihn.....", murmelte er vor sich hin, ehe ich ihn unterbrach: "Martin, bitte, es ist Heiligabend."
"Ach, Mama. Irgendwas ist immer. Jans Trotzkopf steht mir dennoch bis zum Hals. Und wenn er unfair wird, weil er die eigene Wahrheit nicht gerne hört, dann nimmt doch auch er keine Rücksicht." Erschrocken fuhr Isabelle zusammen. Sie hatte die Spülmaschine eingeräumt und lehnte sich an die Arbeitsplatte. Auch Nele seufzte und sah ihren Freund bittend an.
"Komm, lass es heute gut sein. Für David", mahnte sie.
"Was war denn los?", fragte Isabelle. "Vielleicht ist er etwas gereizter durch die Schmerzen. Das sollte besser werden, wir haben uns auf eine zusätzliche Tablette geeinigt", erklärte sie. Etwas zerknirscht sah Martin jetzt mich an. Ich ahnte, um was es gegangen sein könnte und warum Martin dies nun Isabelle nicht auf die Nase binden wollte. Immerhin hatte Jan ihr noch nicht erzählt, wo er noch gewesen war. Er war länger weggeblieben, als ich gedacht hätte. War mit einer kleinen Tasche und sehr schweigsam nach Hause gekommen. Da waren wir vom Umtrunk bei Sanders schon eine Weile zurück.
Martin kam um die Antwort herum, weil Paul mit dem Jungen zurück war. David kam in die Küche gelaufen und erzählte fröhlich davon, dass ein Reh am Zaun gewesen war. Während er vor Begeisterung strahlte, verließ ich die Küche und betrat das Esszimmer. Die letzten Gläser wollten noch abgeräumt werden. Zu meiner Verwunderung traf ich auf Jan, der schnell ein Weinglas von sich schob. Kopfschüttelnd sah ich hin an. Er sollte zu den Medikamenten keinen Alkohol trinken, schien aber den letzten Schluck aus meinen Glas genommen zu haben.
"Was sitzt du hier so allein?", fragte ich. Dabei sammelte ich die Gläser ein und stellte sie auf das Tablett.
Ich bekam nur eine genuschelte Antwort.
"Dein Vater ist mit David wieder da, wir können dann anfangen." Ich musterte ihn etwas genauer. "Ist dir nicht gut?", wollte ich wissen. Vorsichtig stand er auf, die Operationswunde machte ihm gerade bei solchen Bewegungen zu schaffen. Er beteuerte, dass alles in Ordnung sei. Was natürlich nicht stimmte. Aber jeder weitere Nachfrage ging er aus dem Weg, in dem er das Zimmer verließ.
Nach der Weihnachtsgeschichte durfte David endlich an die Geschenke. Glücklich und aufgedreht saß er wenig später vor der Rennbahn und ließ sich von seinem Onkel zeigen, wie sie funktionierte. Um ihn herum überall Geschenkpapier und in der Hand hielt er eine Schokoladenkugel. Für David war es ein wunderschöner Abend. Er wusste kaum, mit was er zuerst spielen sollte, kam aber immer wieder zur Rennbahn zurück. Jan und Isabelle freuten sich über unsere Idee. Das einzige Mal an diesem Abend, das Jan einfach nur gelöst wirkte. Er erzählte seiner Freundin von unserem Ferienhäuschen und sie bedankte sich stürmisch bei uns. Flüsterte mir leise zu, dass es ein perfektes Geschenk war. Dabei drückte sie meine Hand.
Martin bewies an diesem Abend Ausdauer. Im Spiel mit David. Im Umgang mit Jan. Natürlich hatte er dem Jüngeren eine vorsichtige Ansage gemacht. Dazu, dass er im Hier und Heute eine fantastische Frau mit nach Hause gebracht hatte und er die Vergangenheit ruhen lassen sollte. Dass es Zeit wurde, nach vorne zu gehen. Jan, so hatte mir Martin noch vor der Bescherung berichtet, hatte furchtbar kratzbürstig reagiert und seinerseits ausgeteilt. Er hatte noch nicht gewusst, dass Nele endlich zu Martin zog und hatte den vermeintlich wunden Punkt seines Bruder treffen wollen. Wieso oft betrübte mich der Umgang der Brüder.
Es eskalierte aber erst nach dem Dessert. Glücklicherweise war David da schon eingeschlafen. Lange hatte er durchgehalten, war mit Paul nochmal draußen gewesen, aber dann hatte er sich zwischen Jan und Isa gekuschelt. Dort ließ er sich zwar von uns nicht stören, aber kurz nach 23 Uhr brachte ich ihn in sein Bett.
Als ich zurück kam, hörte ich gerade noch Martins Frage an Jan. "Sag mal, ist bei dir alles in Ordnung?", Er sah Jan von der Couch gegenüber an.
"Lass mich einfach in Ruhe, dann ist alles prima", brummte Jan ziemlich undeutlich. Überrascht sah Isabelle ihn an.
"Hast du was getrunken?", fragte sie.
"Und wenn schon", gab er zurück.
"Bitte? Du nimmst schwere Schmerzmittel, null Alkohol hat es geheißen.", schimpfte Isabelle verärgert. In mir regte sich ein schlechtes Gewissen. Obwohl mir klar war, dass es kaum an dem einen Schluck aus dem fast leeren Weinglas liegen konnte. Logischerweise hatte Jan zahlreiche Möglichkeiten gehabt, hier und da ein Glas leer zu trinken, ohne dass es jemand mitbekam.
Jan seufzte.
"Ich bin kein kleines Kind, ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen", sagte er mit schwerer Zunge.
Martin lachte höhnisch.
"Ja, das sieht man. Ganz der Alte, mein kleiner Bruder."
Nele legte beschwichtigend eine Hand auf Martins Schulter.
"Nun lass das." Martin schüttelte die Hand ab.
"Nun hört doch auf mit der albernen Zankerei", bat Paul streng.
Unwirsch stand Martin auf.
"Immer das Gleiche", murmelte er und sah Nele an. "Sollen wir dann runter gehen, ist schon fast Mitternacht?" Seine Freundin stand auf.
"Ach, du wolltest mir noch erklären, warum Nele nicht bei dir wohnt." Jan sah seinen Bruder auffordernd an. Er konnte es nicht lassen. Ich begriff, dass er einfach nur um sich schlug. Martin kam ihm zu nahe.
Martin blieb stehen, dachte einen Moment nach und noch ehe Nele etwas sagen konnte, ging er einen Schritt auf Jan zu.
"Vorsicht. Immerhin sind wir glücklich und zufrieden. Kannst du das von dir behaupten?" Isabelle schüttelte leicht den Kopf. Doch Martin war noch nicht fertig.
"Du hast hier eine wunderbare Frau mitgebracht, endlich mal. Ich glaube sie liebt dich wirklich. Und was machst du? Rennst Geistern hinterher." Kopfschüttelnd wandte er sich ab und nahm Neles Hand. "Und nur damit du es weißt, Nele zieht ein. Gute Nacht zusammen", verabschiedeten sie sich.
Wir blieben alleine im Wohnzimmer zurück, nur Paul und ich. Ich hatte überhaupt nicht verstanden, woher die Schärfe zwischen unseren Jungs auf einmal gekommen war. Es machte mich traurig, dass der Tag so enden hatte müssen. Gott sei Dank hatte zumindest David nicht mitbekommen, wie die Stimmung gekippt war.
Isabelle hatte Jan nach oben begleitet, kaum dass Martin und Nele zur Tür hinaus waren. Sie hatte nicht so ausgesehen, als würde sie Jan die Dummheit mit dem Alkohol einfach so durchgehen lassen.
Mehr aus Gewohnheit als aus irgendeinem anderen Grund hatte ich zu einem der Fotoalben gegriffen. Paul hatte einen Schnaps hervorgeholt und uns beiden ein Glas eingeschenkt. Seitdem starrte er schweigend in den Hof.
Es wunderte mich nicht, als Isa leise an den Türrahmen klopfte. Sie sah ein bisschen verloren aus.
„Komm nur rein, Mädchen“, meinte ich freundlich. „Magst du auch einen?“, fragte ich und deutete auf die Schnapsflasche auf dem Servierwagen.
„Keine schlechte Idee“, antwortete Isabelle und nahm in dem anderen Sessel Platz.
Ruhig griff ich die Flasche und ein weiteres Glas. Dann prosteten wir uns zu.
Schweigend saßen wir uns eine Weile gegenüber und betrachteten das Feuer.
„Du liebst ihn?“ Die Frage brannte mir sehr auf der Seele. Bis vor einer Stunde war ich mir sicher gewesen, es zu sehen. Aber nun musste ich es unbedingt von ihr hören.
Überrascht senkte Jans Freundin ihren Blick, dann ließ sie ihn wieder über den Kamin schweifen.
Auf der Umrandung standen zahlreiche Familienfotos, die sie sich vorhin schon angesehen hatte. Was hatte Jan ihr aus seiner Kinderzeit erzählt? Was wusste sie? Oder vermutlich müsste ich fragen, was wusste sie eben genau nicht.
"Du tust ihm gut. Euer Umgang ist so liebevoll und ich würde sagen, mein Sohn ist verliebt." Ich lächelte sie aufmunternd an. "Er ist an und für sich ein guter Junge, weißt du. Manchmal steht er sich selbst im Weg. Und wenn man ihm zu nahe kommt, dann schlägt er um sich."
Seufzend nahm ich einen tiefen Schluck.
„Jan war immer unser Sorgenkind. Es war nie leicht mit ihm, vielleicht hätten wir auch hier und da beherzter eingreifen müssen. Aber damals hat man das einfach nicht gemacht, verstehst du? In der Zeit hieß es, das sind Phasen, das verwächst sich“, meinte ich betrübt.
Während Isabelle mich aufmerksam ansah, wandte sich Paul uns zu . "Was hätten wir denn noch machen sollen?", brummte er.
„Ja, ich liebe ihn sehr. Allerdings macht er es mir auch sehr schwer. Ich habe das Gefühl, für jeden Schritt, denn wir qualvoll langsam nach vorne gehen, spült er uns einfach mit einer Aktion drei wieder zurück. Das zermürbt“, antwortete Isabelle dann ausführlich.
Vorsichtig nippte sie am Schnaps, sie verzog das Gesicht.
Während sie gesprochen hatte, war Paul an den Kamin gegangen und schob die Holzscheite zurecht.
"Das kennen wir nur zu gut", meinte er.
"Wie geht es weiter mit Euch?" In meiner Frage schwang viel Angst mit.
Sie zuckte die Schulter.
"Mein Gefühl sagt, bleib und hilf ihm. Mein Verstand sagt, geh und pass auf dich auf. Ich habe ihm eine letzte Chance gegeben. Für mich ist dieses Hin und Her schwer auszuhalten. Was bekomme ich denn zurück?"
Ich spürte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Da war Angst in mir. So viel Angst. Es war unheimlich egoistisch, aber ich sorgte mich so um Jan. Was würde er anstellen, sollte Isabelle ihn verlassen?
Ich nickte der jüngeren Frau tapfer zu, schluckte den Kloß im Hals herunter.
"Ich weiß, wir können dich schlecht darum bitten, aber es würde uns so viel bedeuten", flüsterte ich.
Dann leerte ich mein Glas entschlossen.
"Anke, nun lass doch das Mädchen." Paul schenkte mir mit diesen Worten Schnaps nach.
"Es ist ja nicht so, dass ich jetzt meine Sachen packe und die Flucht ergreife", antwortete Isabelle lächelnd.
Wahrscheinlich stand mir die Erleichterung ins Gesicht geschrieben.
Paul hatte sich auf das Sofa gesetzt und blätterte jetzt ebenfalls in dem Fotoalbum. Isabelle setzte sich zu ihm. "Ist das Martin mit Jan?", fragte sie und deutete auf ein Bild. Martin hielt Jan im Arm, der noch kein halbes Jahr alt gewesen war und grinste in die Kamera. Er war etwas älter als David jetzt. Der ältere Junge wirkte stolz.
Sanft nickte Paul. "Ja, Martin war ja alt genug um die Schwangerschaft von Anke mitzubekommen und wusste, dass er ein Geschwisterchen bekommen würde."
Sein Blick hatte sich etwas verdunkelt.
So knapp wie möglich erzählte ich dann also von der schwierigen Schwangerschaft, der dramatischen Geburt und unserer Trennung von dem Säugling.
"Ich glaube, vieles an Urvertrauen ging damals schon zu Bruch. Heute würde man das wahrscheinlich anders lösen.“, meinte ich abschließend. Nun leerte auch Isabelle ihr Glas. Mit herzlichen Worte hatte sie Anteil genommen an unserer Geschichte und sie schien das Gehörte in die Gesamtsituation einzuordnen.
Zusammen sahen wir uns weitere Fotos der beiden Brüder an. Erst nach Mitternacht schloss Paul das Album.
"Ich danke euch von Herzen", sagte Isabelle und sah uns liebevoll an.
"Darf ich noch eine Frage stellen?" Sie hatte gezögert, aber dann doch gefragt.
Wir wechselten einen Blick, Paul und ich, und nickten ihr zu.
"Was wollte Jan heute noch am Friedhof?" Paul seufzte, wieder stimmten wir uns wortlos ab.
"Wir gehen davon aus, dass Jan kurz an Annas Grab war und dort auf Inga, also deren Mutter, getroffen ist. Von Anna weißt du?"
Isabelle nickte. Immerhin, dachte ich. Da war Jan also schon weiter. Jule hatte er erst von seiner grausamen ersten Liebe erzählt, als sie schon lange nicht mehr zusammen gewesen waren.
"Seitdem ist er wieder so verschlossen und fast schon pampig", klärte sie uns auf. "Die Ansage mit dem Alkohol kam von den Ärzten aus Wien und vom Hausarzt. Auch hier können Wechselwirkungen auftreten. Er ist so furchtbar unvernünftig."
Isabelle spielte mit ihrem leeren Glas. Paul nahm ihre Hand und sah ihr in die Augen. Ich kann gar nicht sagen, warum er mich damit so sehr berührte. Vielleicht, weil er schon da so selbstverständlich mit ihr umging? In einem anderen Zusammenhang hatte er später, in einem der Tiefs, gesagt, dass er Jan viel verzeihen konnte. Nicht aber, wenn er es sich mit Isabelle verderben würde. Instinktiv, schon in dieser Weihnachtsnacht hatte mein Mann gespürt, dass Isabelle Jans Anker war. Vermutlich noch ehe jener es verstanden hatte.
Als wir endlich im Bett lagen und es ganz still im Haus war, ruhte ich in Pauls Armbeuge. Sein Bart kitzelte mich ein wenig und ich schob meine Nase enger an seinen Hals. Er streichelte ganz ruhig meinen Oberarm und seufzte nach einer Weile.
"Was?", fragte ich schläfrig.
Mein Mann küsste mir sanft die Stirn.
"Sprechen wir Jan an? Auf heute Abend? Auf das, was uns Isa über Diana erzählt hat?", wollte er wissen.
Ich dachte einen Moment darüber nach. Aus irgendeinem Grund hatte ich gehofft, dass es sich von selbst ergeben, dass Jan uns von dem Rosenkrieg an Davids Geburtstag von sich aus erzählen würde.
Als meine Antwort ausblieb, fuhr ein Finger unter mein Kinn und Paul hob meinen Kopf etwas an, dabei sah er mir in die Augen.
"Anke, ich glaube, wir dürfen da jetzt nicht wegschauen. Nicht nochmal. Der Junge verrennt sich.", waren seine mahnenden Worte.
Dann zog er mich fest an sich.
Mir lagen Erwiderungen auf der Zunge. Jan war noch geschafft von der Operation. Vermutlich hatte ihn die Begegnung mit Inga beschäftigt. Aber selbst ich musste zugeben, dass es auch unausgesprochen nach Ausreden klang. Im Grunde gehörte alles zusammen. Eines bedingte das Andere. Und ich verstand, was Paul sagen wollte. Flüsternd vereinbarten wir, dass wir abwarten wollten, wie es ihm am Morgen gehen würde. Zumal auch Isabelle Redebedarf mit ihm hatte.
Wollten wir sie als die Frau an seiner Seite akzeptieren, dann gehörte aus meiner Sicht auch dazu, dass sie das Vorrecht hatte. Uns ging nun mal auch nicht alles mehr etwas an. Dennoch war ich ganz bei Paul. Wegschauen durften wir nicht länger. Und die Ahnung, dass Dianas Verhalten nur ein Vorgeschmack gewesen sein könnte, die hatte sich in uns festgesetzt.