Schuldbewusst und mit gesenktem Kopf saß Martin am Frühstückstisch. Entgegen seiner Gewohnheit war Paul noch nicht im Büro und hatte seinem Junior eine überfällige Standpauke gehalten. Tatsächlich kämpfte unser Haudegen mit den Tränen, als ich die Küche betrat.
"Haben wir uns verstanden?", fragte Paul scharf. Noch nie hatte ich ihn in diesem Tonfall mit den Kindern sprechen hören. Martin nickte und kaute auf seiner Lippe.
"Also, der junge Mann hier hat versprochen, seinen kleinen Bruder nicht absichtlich zu quälen und überhaupt angemessener mit ihm umzugehen. Außerdem macht er ab sofort seine Hausaufgaben direkt nach dem Mittagessen. Vorher möchte ich ihn nicht mehr draußen erwischen. Er hat mir die Aufgaben unaufgefordert vorzulegen. Und zu guter letzt wird er hier ein paar Aufgaben übernehmen, er ist alt genug."
Paul lehnte an der Arbeitsplatte und sah seinen Sohn an, dem jetzt unverkennbar auch etwas Trotz im Gesicht stand.
"Und wenn das alles nicht klappt, dann wird er ein bisschen mit dem Fussball aussetzen und in dieser Zeit seiner Großmutter mit den Pferden helfen", ergänzte Paul, ohne Martin aus den Augen zu lassen.
"Das ist gemein", murmelte der. Ohne Vorwarnung knallte Paul seine Faust auf den Tisch.
Ich fuhr ebenso wie Martin zusammen. Wütend stieß Martin seine Tasse mit dem Kakao um und sprang auf.
"Nur, weil er ihn lieber habt als mich. Ich hasse dich!", rief er und rannte aus der Küche. Ich hielt Paul auf, der ihm folgen wollte.
"Bitte", flüsterte ich. "Paul, er ist Neun Jahre alt." Draußen knallte die Haustür und durchs Fenster konnte ich sehen, wie Martin in Richtung des Baumhauses rannte. Ich stand direkt vor meinem Mann, der mich locker um zwei Köpfe überragte. Ich legte eine Hand auf seine Brust und beobachtete, wie er sich beruhigte.
"Wo ist Jan?", fragte er schließlich.
"Nochmal eingeschlafen. Er hat Fieber", sagte ich leise. Heute würde ihn ihn hier behalten und nicht den Kindergarten bringen. "Wir wollten unsere Kinder nicht mit Druck erziehen", merkte ich an.
Paul atmete tief durch und wandte sich zum Fenster.
"Das möchte ich auch nach wie vor nicht. Aber es wird Zeit, dass Martin Grenzen gesetzt bekommt. Diese Mischung aus Energie und Selbstbewusstsein bringt ihn sonst nur in Schwierigkeiten. Für die Schärfe werde ich mich bei ihm entschuldigen."
Ich nickte und lehnte ich an ihn. "Wir müssen diesen Vorwurf klären." Martins Aussage hatte mich getroffenen. Sehr sogar. Paul gab mir einen Kuss auf die Stirn, dann deutete er zur Uhr.
"Er muss los in die Schule", meinte er.
Pünktlich wie jeden Morgen tauchte Jonas an der Hofeinfahrt auf. Die Jungen gingen in der Regel zusammen den kurzen Weg zur Grundschule. Seufzend verließ ich die Küche. Im Flur stand Martins Ranzen. Jonas pfiff, das ausgemachte Zeichen unter den Freunden. Ich öffnete die Tür und begrüßte den besten Freund meines Ältesten und rief nach jenem. Etwas scheu tauchte Martin dann auf. Jonas begriff, dass etwas Ungeklärtes in der Luft lag und meinte, dass er vorne am Tor warten würde. Ich reichte Martin die Jacke und half ihm mit dem Ranzen.
"Schatz, schau mich bitte mal an", bat ich. Es zerriss mir beinahe das Herz. Da lag so viel Wut und Trotz in seinen Augen und gleichzeitig gewährte er mir eine Sekunde den Blick auf seine verletzliche Seite. "Du weißt hoffentlich, dass das nicht stimmt, was du gesagt hast?", fragte ich vorsichtig nach. Die Oberlippe schob sich vor und Martin taxierte mich genau.
"Stimmt doch", maulte er. "Nur weil der so ein Baby ist hat Papa mit mir geschimpft." Ich ging in die Hocke und nahm seine Hände in meine.
"Nein, Martin. Es stimmt nicht. Wir haben dich genauso lieb wie Jan. Keiner von uns liebt ein Kind mehr oder weniger. Dein kleiner Bruder ist eben nicht so ein mutiger und kräftiger Kerl wie du und daher bitten wir dich um etwas Nachsicht. Auch weil du der Große bist."
Wieder pfiff Jonas, so langsam wurde es knapp. Ich wollte aber unbedingt, dass Martin nicht ohne eine Aussprache in die Schule ging.
"Dein Papa hat dich sehr lieb und das war nicht so nett, was du zu ihm gesagt hast." Betreten sah Martin zum Boden.
"Das hab ich so auch nicht gemeint", gab er leise zu. Ich musste lächeln. Strich ihm durchs Haar und zog ihn dann an mich. Ein paar Sekunden ließ er sich knuddeln, dann befreite er sich aus der mütterlichen Umarmung. Immerhin sah Jonas zu. Mit einem flüchtigen Kuss verabschiedete er sich dann und winkte auch Paul, als er am Küchenfenster vorbeiging. Ich sah herüber und beobachtete, wie Paul dem Kind hinterher sah. Da war viel Sorge in seinem Blick.
Am Abend entschuldigte er sich bei Martin für die Schärfe seiner Worte und jener nahm unter Tränen zurück, dass er seinen Vater hasste. Waffenstillstand. In den nächsten Tagen achtete ich darauf, dass Martin seine Aufgaben noch vor, aber zumindest spätestens nach dem Mittagessen erledigte und sie anschließend seinem Vater zeigte. Es fiel ihm schwer, still zu sitzen. Die Frühlingssonne schien kräftig und es zog den Jungen ins Freie. Langsam aber gewöhnte er sich daran und schien tatsächlich Gefallen daran zu finden, abends mit seiner Großmutter die Pferde zu füttern. Und tatsächlich ließ er zu, dass Jan ihn dabei begleitete. Als er sich unbeobachtet glaubte, nahm er seinen kleinen Bruder gar an die Hand. Schmunzelnd erzählte mir Elli davon. Sagte man nicht, dass manchmal ein Gewitter auch reinigend sein konnte? In diesen Wochen wirkte es jedenfalls zu.
Wir entschieden uns für den Büroneubau, beschnupperten Ulrich Sander und seine Familie und zur großen Freude beider Kinder zog ein Hund auf den Hof. Wir hatten uns für einen Collie-Mischling entschieden, der äußerst kinderfreundlich war. Jan liebte das Tier heiß und innig und war der festen Auffassung, dass ihn jener auch vor bösen Träumen und Geistern beschützen würde. Schon bald waren Jan und Sunny, so hatten wir den Hund zusammen mit den Jungs getauft, unzertrennlich. Am Ende des Sommers stand der Rohbau und Martin kam in die letzte Klasse der Grundschule. Noch immer gelang ihm alles spielerisch leicht und er liebte weiterhin seine Freitage mit der Omama. Doch auch wir hatten entschieden, regelmäßig Zeit mit den Jungen jeweils alleine zu verbringen. Während Martin davon überrascht wurde, dass Paul mit ihm klettern oder schwimmen ging, half mit der jetzt fünfjährige Jan unglaublich gerne in der Küche. Dafür war ich es, die mit Martin regelmäßig ins Kino ging. Lange Zeit haben wir das gemacht. Und ich habe es sehr vermisst, als es erst weniger wurde und dann ganz aufhörte.
Mit Jan war Paul beim Fischen. Dafür hatte der Junge schon als Knirps viel Geduld. Als Familie gingen wir wandern oder in den Zoo und untereinander verband die Brüder später der Sport. Martins großes Hobby blieb der Fussball, aber ebenso wie später Jan probierte er Judo und Karate aus. Beide liefen, fuhren Rennrad und waren gute Schwimmer. Doch Martin brauchte andere Teammitglieder um sich, während Jan eher ein Einzelkämpfer blieb. Elli übte beinahe täglich Klavier mit ihm, was ihn weiterhin sehr begeisterte. Und wenn wir den Buben suchten, fanden wir ihn in bei Jakob in der Werkstatt. Eigentlich hatte Pauls Vater den Betrieb längst aufgeben wollen, doch immer noch kamen viele Aufträge aus seinem großen Bekanntenkreis.
In diesem Winter war es ungewöhnlich kalt und wir hatten schon an Weihnachten viel Schnee. Mittlerweile war Paul mit der Firma um- und dafür Sanders eingezogen. Zwei Söhne hatten sie zu diesem Zeitpunkt und ihr Ältester war nur wenig jünger als Jan. Es tat unserem Kleinen unglaublich gut, dass er einen Spielkameraden direkt vor Ort hatte. Mit Alex verband ihn eine sehr besondere Freundschaft. Vielleicht war es daher auch sehr gut, dass Jan ein zunächst ein Jahr zurückgestellt und dann zusammen mit seinem besten Freund eingeschult wurde.
Die Entscheidung, dass Jan noch nicht so weit war und ein Jahr Aufschub bekommen sollte, führte uns nochmal deutlich vor Augen, dass er es nicht nur ein wenig schwerer hatte als sein Bruder. Schon da mahnte uns das Schicksal, dass wir keinesfalls ähnliche Leistungen erwarten sollten und die Beiden keinesfalls vergleichen durften. Insgesamt hatte sich unser Familienleben immerhin deutlich entspannt. Für Martin waren diese kostbaren Zeiten mit uns wichtiger, als wir geahnt hatten und er wurde auch etwas ruhiger.
Zwei anstrengende Jahre, in denen wir viel an den Strukturen unserer Familie gearbeitet hatten und hätten Paul und ich in dieser Zeit nicht an einem Strang gezogen, ich wäre verzweifelt. Wie oft ich einfach nur fertig mit der Welt und müde gewesen war. Martin hatte mich oft über Tag fast alle Energie gekostet und nachts war es Jan, der einfach viel zu oft keine Ruhe gefunden hatte. Da war es eine Wohltat, dass mein Mann neben seinem zeitraubenden Job noch Zeit fand, mir zuzuhören und mich in den Arm zu nehmen. Der dennoch nachts aufstand, um den Kleinen zu beruhigen und sich am Wochenende mit dem Tatendrang des Älteren auseinandersetzte. Und egal was passierte, jeden Freitag um 19:00 Uhr saßen wir bei Luigi. Vier Stunden, die nur uns gehörten und dank der Unterstützung Margaretes, Ellis und Jakobs oft genug auch eine Nacht, in der wir einfach nur Mann und Frau sein konnten. Und oft reichte es uns, dass wir einfach nur allein waren. Nicht mit einem Ohr auf die Kinderzimmer achteten. Sondern wir uns aufeinander konzentrierten. Was der jeweils andere zu erzählen hatte. Raum und Zeit für Schweigen. Beinander liegen und dem Partner beim Atmen zuhören. Im Alltag waren diese Momente rar gesät. Heute weiß ich, dass es die Ruhe vor dem Sturm war.